Am Beispiel meines Bruders
Ein Buch von Uwe Timm - Quergelesen

2018 erschien das Buch von Uwe Timm „Am Beispiel meines Bruders“, in dem es um die SS-Vergangenheit seines Bruders Karl-Heinz und die Verehrung durch die Eltern geht. Timm stellt viele Fragen, die aktueller denn je sind. Über die grauenvolle Sinnlosigkeit des Krieges und ihr Verschwinden im Belanglosen. Überlegungen zu einem Buch.

„Wie war das eigentlich damals in der Nazi-Zeit?“, wollte ich als Jugendlicher von meinen Eltern wissen, die diese Zeit noch selbst erlebt hatten. Auch anderen älteren Menschen stellte ich diese Frage. Ich war damals 14/15 Jahre alt und begann, mich für Politik und gesellschaftliche Prozesse zu interessieren. Die Eltern drucksten eher rum, dass alles sehr schrecklich gewesen sei, aber dass man Vieles auch nicht mitbekommen habe. Kollektive Verdrängung, wohin man schaute. Ich war als junger Mann selbst in allen deutschen KZ-Lagern (inklusive Auschwitz): Diese Lager waren so groß, dass ein Übersehen kaum vorstellbar ist! Später kamen die Erinnerungen kleckerweise, weil ich nicht locker ließ und der Meinung war, viel darüber wissen zu müssen, damit es nicht wieder passiert. Wie sich heute zeigt, nicht falsch, aber wirkungslos. Das wehret den Anfängen ist zur Lachnummer geworden. Meine Mutter erzählte z.B. von meinem Opa, der bei der Polizei war und den man zur SS einziehen wollte. Offenbar brauchte man dort wenigsten ein paar Männer mit Grips, während der Rest dumpf-fröhlich den Befehlen der machtgeilen Emporkömmlinge hinterherhechelte. Mein Opa wollte nicht bei den Nazis mitmachen, so die Legende, weshalb ich stolz auf ihn war und bin (ich habe ihn allerdings nie richtig kennengelernt, da er starb, als ich noch klein war). Und auch mein Vater hatte nach eigenen Bekundungen mit den Nazis nichts am Hut. Er war einfacher Soldat, aber keiner der Hurra-Patrioten, die mit dem überheblichen Siegerlachen in den Krieg zogen: Sterben für Deutschland, ein geiles Gefühl. Zudem habe er nie Menschen erschossen, sondern war im Tross tätig. Als man in Telgte in einem Schulprojekt über die NS-Zeit in meiner Stadt forschen wollte, gab es Ärger mit den Nachfahren. Irgendwann sollte doch mal Schluss sein, hieß es und einige Schüler bekamen sogar bedrohliche Anrufe. Natürlich anonym! Heute wäre das vermutlich über Facebook abgelaufen – ich bekam neulich noch eine Hassnachricht (O-Ton): „Linke Zecke!“. Ich habe mich oft gefragt, wie es gewesen wäre, wenn mein Vater den Nationalsozialismus gutgeheißen hätte. Es sagt sich so leicht, aber bei meinem heutigen politischen Stand und meinem moralischen Selbstverständnis hätte ich den Kontakt zu ihm abgebrochen und auf sein Vatersein verzichtet. Derartige Beispiele, die literarisch aufgearbeitet wurden, gibt es en masse. Und ich denke, wenn die Altnazis zu ihren aktiven Zeiten schon ungeschoren wegkamen und sogar in der CDU mit offenen Armen aufgenommen wurden, dann sollten sie wenigsten familiäre Schmach erfahren. Zum Glück blieb mir das erspart.

Später sprach ich in meinem ersten Beruf als Krankenpfleger mit vielen alten Menschen über diese Zeit. Ich bekam ambivalente Antworten – in allen Richtungen. Manche berichteten detailliert von den bestialischen Grausamkeiten dieser Herrenmenschen, von ihren Fluchten und von eigenen Verlusten in der Familie. Während andere immer noch von der Zeit schwärmten, weil man damals noch sicher gewesen sei und nachts auf die Straße gehen konnte. Bestimmt war man vor allem dann sicher, wenn man dem Regime blind Folge leistete oder sich unsichtbar machte. Ansonsten wurde man einkassiert, deportiert. So wie es auch die AfD heute gerne mit Meinungsabweichlern anstellen möchte. Und die CDU hechelt schon wieder hinterher, um den Anschluss nicht zu verpassen.

„Der Befehlsnotstand ließ nach dem Krieg die Massenmörder frei herumlaufen, ließ sie wieder Richter, medizinische Gutachter, Polizisten, Professoren werden“ (aus dem Buch).

Auch die Geschichte mit dem „wir brauchen wieder einen starken Mann“ musste ich mir x-mal anhören. Und x-mal dachte ich, was für Memmen: Ein starker Mann über mir bedeutet, dass ich selbst zu schwach oder zu blöd bin, selbst zu bestimmen und zu denken. Ein Zeugnis persönlichkeitspsychologischer Armseligkeit!

Am Beispiel meines Bruder von Uwe Timm
Am Beispiel meines Bruder von Uwe Timm

Das Buch von Uwe Timm „Am Beispiel meines Bruders“ fand ich in einem freien Bücherregal. Also Zufallsliteratur! Uwe Timm, da klingelt es bei vielen: War das nicht der mit der Currywurst? Richtig, Timm schrieb die erfolgreiche Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“. Der Ich-Erzähler besucht die Erfinderin der Currywurst im Altenheim, um mehr über die Entstehung der Fleischspeise zu erfahren. Gegenwartsliteratur in einer Mischung von Tragik und Komik. In dem besagten Buch „Am Beispiel meines Bruders“ steht mehr die Tragik im Vordergrund. Übrigens fand ich in dem Buch Spuren meines Vorbesitzers oder meiner Vorbesitzerin: Ganze Passagen waren unterstrichen oder mit Randbemerkungen versehen, was auf eine intensive Auseinandersetzung mit dem Stoff im Rahmen eines Deutschunterrichts schließen ließ. Gut so, dachte ich; das Buch sollte von jungen Leuten gelesen werden, liest man doch aktuell, wie viele, vor allem männliche Jugendliche nach rechts abdriften. „Deutschland den Deutschen!“, „Ausländer raus“ und „Ich bin stolz ein Deutscher zu sein“. Man kann natürlich stolz sein, aber eine Glanzleistung ist es nicht, auf etwas stolz zu sein, wofür man nichts gemacht hat. Elke Heidenreich empfiehlt im Klappentext des Buchs: „Die Jungen sollten es lesen, um zu lernen, die Alten, um sich zu erinnern, und alle, weil es gute Literatur ist!“ Dem schließe ich mich an.

Kurz zum Inhalt des Buches, da es mir weniger um eine Buchrezension, als um eine Auseinandersetzung mit dem Thema geht. Allerdings ist der Inhalt schnell dargestellt. Über Beschreibungen, Briefe, Fotos, aber auch Träume erinnert sich Uwe Timm an seinen 16 Jahre älteren Bruder Karl-Heinz, der sich freiwillig bei der Waffen-SS gemeldet hat, mit nationalistischem und martialischem Gehabe in den Krieg zieht, dort schwer verletzt wird und in einem Lazarett in der Ukraine stirbt. In seinen Briefen schildert er die Stimmung an der Front und berichtet stolz vom Umgang mit Waffen und vom Töten, das ihm offensichtlich Genugtuung, wenn nicht gar Spaß bereitet. Trotz seiner braunen Gesinnung, schwärmen die Eltern von ihm und weisen ihn als mutig und anständig aus. Auch wenn der Erzähler seinen Bruder kaum zu Gesicht bekommt („die Gestalt, die kein Gesicht hat“), so ist er doch ständig über Fotos und in den Vergleichen des Vaters präsent. Für den Vater ist der Bruder ein richtiger Junge, auf den er stolz ist. Uwe Timm ist und bleibt der Nachkömmling, sein Bruder etwas Besonderes. Ein Held! Der Schriftsteller fragt nach: „Warum hat er sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet? Wie ging er mit der Verpflichtung zum Töten um? Welche Optionen hatte er, welche Möglichkeiten blieben ihm verschlossen? Wo ist der Ort der Schuld, wo der des Gewissens bei den Eltern, die ihn überlebt haben?“ (aus dem Klappentext). Zur Klärung: Wer und was war die Waffen-SS?

„Ihre Waffentaten erregten Respekt und Bewunderung, aber auch Furcht und Schrecken. Sie errang große militärische Erfolge, aber beging zugleich schwerste Kriegsverbrechen. Die NS-Propaganda stilisierte sie zur militärischen Elite, doch ihre Siege waren teuer erkauft. Ihr Chef sah in ihr eine germanische Krieger-Garde, doch in ihren Reihen dienten auch zehntausende Slawen, Kaukasier und sogar Moslems.“ (1)

Timm stellt aber auch ganz empathische Fragen. Nämlich „Was waren das für Bilder, die ihn bedrängten?“ Und könnte ich mich interaktiv in den Ablauf des Buches einklinken, so würde mich die Frage interessieren: Warum erkennt niemand die grauenvolle Sinnlosigkeit und wo bleibt das Weltgewissen? Auf die Antworten darauf muss man sich wohl selbst seinen Reim machen. Mir fallen dazu folgende Sätze ein:

„…dann wird der letzte Mensch, mit zerfetzten Gedärmen und verpesteter Lunge antwortlos und einsam unter der giftig glühenden Sonne und unter wankenden Gestirnen umherirren, einsam zwischen den unübersehbaren Massengräbern und den kalten Götzen der gigantischen betonklotzigen verödeten Städte, der letzte Mensch, dürr, wahnsinnig, lästern, klagen – und seine furchtbare Klage: WARUM? wird ungehört in der Steppe verrinnen…“.

Es stammt aus dem Gedicht von Wolfgang Borchert „Dann gibt es nur eins“, was aber aufs Gleiche hinausläuft.

In dem Buch geht es aber auch um Stimmungen und Gefühle derjenigen, die den Krieg und all das Elend selbst erlebt haben. Und ein wenig erinnert mich das an meine anfangs gemachten Aussagen:

„Die Frauen und Alten erzählten von den Bombennächten in der Heimat. Das Fürchterliche wurde damit in Details aufgelöst, wurde verständlich gemacht, domestiziert. Es löste sich meist beim gemütlichen Zusammensein in Anekdoten auf, und nur sehr selten, urplötzlich, brach das Entsetzen hervor.“

So wie bei meinem Vater, der damals frühzeitig von einem Veteranentreffen zurückkehrte. Er weinte, was ich selten bei ihm gesehen habe, weil es ihn entsetzte, wie seine Kameraden vom Töten schwärmten. Wie sie den Russen abgeballert haben. Und mein Vater, so seine Erzählung, habe wohl hinterfragt: Aber die russischen Männer hatten doch auch Frau und Kinder. Und die Kameraden lachten ihn aus. Das hatte er nicht ausgehalten. Auch darüber war ich stolz, dass er durch sein frühzeitiges Verschwinden klare Kante gezeigt hat.

In meiner arbeitsaktiven Zeit als Psychotherapeut in einer großen Klinik sprach ich oft mit den Jugendlichen über Krieg, über Militär und über das Töten. Einige meiner Patienten und Patientinnen kamen aus Kriegsgebieten, waren traumatisiert. Bei einigen galt es als heroisch, nicht darüber zu reden. Aber ich sprach auch mit Jugendlichen, die ganz scharf darauf waren, zum Militärdienst anzutreten. Sie wollten keinen langweiligen Bürojob, sagten sie, sondern Abenteuer erleben.

„Der Schmerz, der Tod galten als das Bestimmende für ein heroisches Lebensgefühl, die Bereitschaft, Schmerz zu ertragen, bereit zu sein für den Tod. Die Bejahung des Schmerzes als Bejahung des Lebens, eines Lebens, das sich einsetzt und sich wagt, das im Gegensatz zu allem Lauen, Spießigen, Mittelmäßigem, Bequemen steht“ (aus dem Buch).

(Beim Lesen dieser Sätze musste ich an die großflächige Werbung der Bundeswehr in der Nähe unseres Supermarkts denken.)

Einmal fragte ich ein Mädchen, das ebenfalls aus Abenteuerlust einen Job bei der Bundeswehr anvisierte, ob sie auch im Töten Abenteuer sehen würde. Sie schwieg! Töten war ausgespart worden. Ein älterer Junge, der aus einem Kriegsgebiet nach Deutschland geflüchtet war, erzählte in einer Seminarstunde über seine Erlebnisse. Er sprach auch von Massengräbern und dass er mitbekommen habe, wie Nachbarn einfach erschossen worden waren. Und er sprach auch von Vergewaltigungen, die offenbar zu jeder Kriegsführung dazugehören. In dem Seminar saß auch die oben genannte Patientin, die Soldatin werden wollte. Später erzählte sie mir in einer Einzeltherapie, dass sie es sich anders überlegt hätte. Einige Dinge wären ihr nicht klar gewesen. Militär ist eben nicht nur Friedensmission.

 

  • https://www.mdr.de/geschichte/ns-zeit/waffen-ss-100.html