Das Festival Wacken Winter Nights, die kleine, freche Schwester vom großen Sommer-Wacken, fand 2018 das zweite Mal statt. Und zwar mit uns. Eindrücke und Gedanken über ein Festival der besonderen Art: Viel schwarzes Bunt im weißen Februarschnee.
Das Außenthermometer unseres Wohnmobils zeigt -4 Grad. Auf dem letzten Stück der A23 begegnen wir einigen Fahrzeugen, denen man bereits von weitem ansieht, dass sie das gleiche Ziel haben wie wir: Wacken! Dieser Ort wird selbst bei metall-musikalisch Unbedarften mit Krach, viel Schwarz und Schlamm verbunden. Auch uns bedauert man im Vorfeld wegen der imaginierten Schlammmassen des Sommerevents. Keine Sorge, so unser Standardstatement, im Winter ist alles festgefroren. Leider kommt es – natürlich – anders: Auf dem improvisierten Campingplatz, etwas abseits vom Festivalgelände, stecken wir mit unserem Wohnmobil genau im Selbigen: Schlamm! Die Sonne über Wacken hat den Boden gegen Mittag etwas aufgeweicht. Einige Ordner schieben uns an, dann ist das Schlamassel überwunden und man weist uns einen Platz am Rande des riesigen Areals zu. Das ganze Manöver geschieht gänzlich ohne Aufregung, denn offensichtlich lebt man hier frei nach dem Motto: Nichts ist unmöglich. Schon auf dem Weg zu unserem leicht schiefen Stellplatz werden wir von den Nachbarn freundlich gegrüßt, die ersten prosten uns mit ihren Bierbüchsen zu, aus gewaltigen Außenboxen schallt Schwermetall zu uns rüber und einige Grille beräuchern den Platz. Definitiv: Das ist WOA-Feeling.
Betrachtet man die Variationsbreite der Campingmobile und wohnmobilähnlichen Behältnisse auf dem großen Platz, so würde der Anblick so mancher Gefährte jedem Campingwart die Tränen der Rührung in die Augen treiben: Alles funktioniert hier nach dem everything-goes-Prinzip: Es gibt die klassischen Wohnmobile und Wohnwagen mit lebendiger Außenpatina, aber auch Mehrtonner, die aussehen, als wären sie ausrangierte Einsatzfahrzeuge aus dem letzten NATO-Einsatz nach Realbefeuerung oder aber Gespanne aus einem Cyber-Punk-Film. Und was machen die PKW´s mit normalsterblichen Autoanhängern mit zwei Rädern auf dem Gelände? In den Anhängern haben sich manche wohnlich eingerichtet und sorgen mittels mobilen Stromaggregaten für erträgliche Wärme, was nicht immer ganz geräuscharm abläuft! Doch, wen stört´ s!?
Genauso unterschiedlich wie die Fahrzeuge sind die Menschen, die aus allen Gegenden Deutschlands, aber auch Europas nach Schleswig-Holstein gekommen sind, um dem Gott der metallbeschichteten Rockmusik zu frönen. Auch wenn so mancher Festivalbesucher furchterregend dreinschaut, so gibt es – mal abgesehen von einer paar passionierten Miesepetern – überwiegend freundliche Mitmenschen. Wenn man einem Wackengänger etwas nachsagen kann, dann vor allem, dass es sich um hoch soziale, kontaktfreudige, friedliche und geradezu familiäre Zeitgenossen handelt. Für einen Aufstand der politischen Art eignet sich der 0815-Rocker aufgrund seiner gemäßigten Einstellung wohl weniger, außer vielleicht es ging darum, die geradezu fürchterliche Musikauswahl der meisten Radiosender rocktechnisch zu revolutionieren. Ansonsten gilt Sex, Drugs (vor allem in Dosen) und eben Metal!
Man stellt sich Metalheads, wie man die leidenschaftlichen Hörer von tiefergelegtem Gitarrenkaracho nennt, immer langhaarig und schwarzgewandet vor. Das ist im Wesentlichen auch richtig. Das einzige Bunt in der zumeist wenig einfallsreichen Kleidung sind die unzähligen Aufnäher, die eng an eng Jacken und bodentiefe Mäntel zieren, die wiederum Geschichten von zurückliegenden Konzerten erzählen, die man entweder selbst erlebt hat oder von denen man in schlaflosen Nächten beim Leeren von Bierkästen träumt. Doch beim Winter-Wacken, oder, wie es richtig heißt: Wacken Winter Nights, kommt es typmäßig noch einmal völlig anders: Da gibt es Piraten, mittelalterlich gewandete Männer, wie Frauen, Cyber-Punks und andere Szenentrolle. Es gibt aber auch Mitmenschen, die man eher bei einer Andrea-Berg-Show vermutet hätte oder sich als hochgediente Sparkassenangestellte vorstellt. Ganz zu schweigen von Personen in karnevalähnlichem Outfit, die haarscharf die Grenze zur Geschmacklosigkeit überschritten haben. Aber das ist eben Wacken: Schubladendenken lohnt sich nicht, my Darling. Allerdings bleibt mir doch die Frage erhalten: Wo halten sich eigentlich all die Freaks mit Zottelbärten, Dreadlocks und Extrempiercings im normalen Leben auf? Leider nicht in unserer Stadt!
Das Winter-Wacken ist sozusagen die kleine, freche Schwester vom großen Bruder, dem Sommer-Wacken oder W:O:A, was übrigens die Abkürzung von Wacken Open Air ist. Das Sommer-Wacken im August zählt inzwischen zu den weltgrößten Events der harten Musik. Zwar wird die winterliche Variante auch als Metalfestival bezeichnet, doch kommt man schlussendlich zu dem Ergebnis: Für die Musik unter dem Label Metal gibt es zwar unzählige Schubladen, aber die sind eher was für Puristen oder Nerds. Das sind Personen, die sich stundenlang darin ereifern können, ob Doom Metal nun zum Death Metal oder doch eher zum Black Metal gehört. Ansonsten freut man sich einfach, wenn es laut und schön hart ist. Auch wenn es orientalisch oder mittelalterlich klingt.
Die 15 bis 20 Bands nebst anderen Showeinlagen, die jeden Tag beim dreitägigen Winter-Wacken aufgefahren werden, decken einen großen Teil der metalüblichen Genres ab. Der Schwerpunkt liegt beim Februarfestival neben klassischem Metal allerdings eher auf den etwas seichteren, vor allem folkloristisch angehauchten Sparten wie Mittelalterrock, Pagan- und Vikingmetal oder Fantasie-Folk. Bei der einen oder anderen Band ist allerdings viel guter Wille seitens des Hörers gefragt, denn denkt man sich den rockig-metallischen Instrumentalhintergrund weg, wird es auch leicht süßlich-schnulzig und der Weg zum Schlagerkitsch ist nicht mehr weit. Die Rockerseele scheint offenbar auch für Sentimentales zugänglich zu sein. Ich für meinen Teil, eher Anhänger der extremeren Metalklänge, vermisse hier und da die ausladend-epischen Gitarrensoli. Aber wenn es einem nicht passt, geht man entweder an eine der zahlreichen Theken: Biertrinken oder nutzt die vermeintliche musikalische Flaute zum Entsorgen besagter Getränke, was bei den Minustemperaturen häufiger als sonst der Fall ist. Zudem sind zumindest die Kabinenklos beheizt, was bei der Kälte, die einem trotz langer Unterhose unter selbige kriecht, eine temporäre Wohltat sein kann.
Während beim ersten Winter-Wacken 2017 der Ausdruck Open Air trotz der sibirischen Zustände weiterhin Bestand hatte (es gab zwar nach oben Abdeckungen, nicht aber von der Seite!), sorgten dieses Mal ein gigantisches Vier-Master-Zelt („Eispalast“), sowie das kleinere, stylisch eingerichtete „Theatre Of Grace“ für viel Atmosphäre. Neben kleineren Bühnen auf dem Gelände ist das Winter-Wacken aber auch in den eigentlichen Ort ausgelagert, wo in der örtlichen Dorfkirche, sowie im Landgasthof „Zum Wackinger“, der sich im wahren Leben „Zur Post“ nennt, musikalische, wie gesprochene Acts stattfinden. Auch für uns gehört es zur guten Tradition, falls man beim zweiten Besuch schon davon sprechen kann, zum Frühschoppen im „Wackinger“ Station zu machen. Da mischt sich dann das Publikum aus Ureinwohnern des Ortes mit dem illustren Metalfans. Auch das ist kein Problem! Endlich ist hier mal was los, höre ich eine Männertruppe sagen, die soeben nach einer Mountainbike-Tour einkehrt. Später treffen wir eine ältere Dame aus dem Ort. Auf meine Frage, wie sie denn den Rummel hier fände, antwortet sie: Ist doch prima. So etwas muss man auf jeden Fall unterstützen. Unglaublich, in dem Ort, in dem ich wohne, hätten sich vermutlich schon erste Gegner nackt an die imaginären Stadtmauern gekettet, um gegen den Spuk zu protestieren.
Dass man sich in Wacken mit der Organisation seit Jahrzehnten auskennt, spürt man hier an allen Stellen: Es fährt ein Shuttlebus mit geduldigen Busfahrern und -innen, alles ist bestens beschildert und die Ordner nebst dauerpräsenter Polizei sind entspannt und freundlich. Kurzzeitig schleicht sich ein kleines Trüppchen testosterongesteuerter und auf Krawall gebürsteter Milchbubis aus dem Ort in die Menge, um im angetrunkenen Kopf etwas rumzupöbeln. Ich erkläre dem Oberaggressor, dies hier sei eine friedliche Veranstaltung und er möge bitte nach Hause oder woanders hingehen, was ihn sichtbar aus dem Konzept bringt. Der Nachbar im Zimmermannsoutfit bietet sich noch an, mit dem Wutfried ein Bier zu trinken, was dann aber mangels Standfestigkeit ins Wasser fällt.
Aber was ist eigentlich ansonsten mit dem Frieden „auf Wacken“? Und wie so oft im Zusammenhang mit der Rockmusik, die mich schon ein Leben lang begleitet, frage ich mich: Ist diese Form von Musik eigentlich politisch? Ist es – wie in den 60er- oder 70-Jahren – ein Ausdruck eines freiheitlichen Lebensgefühls? Kobi Farhi, der Leadsänger der israelischen Band Orphaned Land (mein persönliches Highlight des Festivals) spricht über den ewigen Krieg im Land, sowie dessen Unsinnigkeit und weist auf die Gleichheit aller Menschen hin. Zudem betont er unter großem Applaus, wie wunderbar es sei, dass hier alle unabhängig von Herkunft, Rasse oder Religion zusammenstehen. Holly Loose, der bei „Letzte Instanz“ ebenfalls für den Gesang zuständig ist, als auch Thomas Lindner von „Schandmaul“ stoßen ins gleiche Horn: Rassismus habe weder hier, noch sonst wo Platz. Und deutlich gegen rechte Hetze und Menschenfeindlichkeit singt Loose in dem Song „Mein Land den Refrain:
Mein Land geb´ ich nicht aus der Hand.
Ich fühle, wie es weint.
Wo ist das Land, das mir einmal bekannt.
Der Friede, den ich meine, ist abgebrannt.
Nicht alle jubeln; ich vergaß, dass neben mir vielleicht Menschen mit rechts-brauner Gesinnung stehen könnten. Aber warum ist nicht im Großen möglich, was hier im Kleinen bestens funktioniert?
Morgens liegt Schnee auf unserem Auto. Wir treten den Heimweg an und es ist fast ein wenig schmerzhaft, dieses Parallelleben zu verlassen, indem das viele Schwarz zum Bunt wird. Aber nur für ein Jahr, dann kommen wir wieder. Wenn es sonst schon nicht mit der Gleichheit und dem friedlichen Zusammenleben der Menschen im Leben klappt, dann wenigstens hier – auch wenn es nur für drei Tage ist.