Mensch, Tier, Böllern
Eins zu Null für Spaß gegen Angst

Spaß hat oberste Priorität. Wirklich „oberste“? Nein, er hat seine Grenzen, wenn man nicht weiß, wofür das gut sein soll und wo man die Interessen anderer (wer ist das?) verletzt. Der Spaß der einen wird zur Angst der anderen. Am Beispiel Böllern diskutieren wir das.

An einem Silvesterabend überkam mich die Wut. Ab 22 h nahm die Häufigkeit der Böllerei zu. Unser Hund drehte durch. Als Jagdhund (Bretone), der nur an Jäger abgegeben werden darf und – wie die Jäger so schön sagen – nicht schusssicher war, landete er darum schon als Welpe für 4 Jahre in einem französischen Tierheim und dann bei uns. Zig Trainingsstunden hat er schon hinter sich, fühlt sich jagdhundwohl bei uns. Geblieben ist die Angstbereitschaft.

Trotz der Schießerei blieben wir zu Hause, machten aber in diesem Jahr die Rollläden zu und stellten das Fernsehen ganz laut. Um kurz vor 24 h nahm die Böllerei eine militärische Lautstärke an. Unser Hund flüchtete sich vor den Schuhschrank und zitterte. Meine Frau ignorierte die Regeln der Hundetrainerin (Ruhe sei die letzte Bürger- bzw. Hundepflicht), setzte sich neben den Hund auf den Boden und versuchte ihn zu beruhigen. Kurz vor 1 h begann es zu regnen, und es wurde leise. Böllern mit Regenschirm geht nicht, nur Deppen tun das. Die nächsten Stunden verbrachte der Hund, was er sonst nicht darf, in unserem Schlafzimmer und fühlte sich dort sicher und verschwand, als der Krach nachhaltig zu Ende war.

In den vergangenen Jahren sind wir nach Frankreich gefahren, wo (wie auch z.B. in der Schweiz) nicht bzw. nur in der Nähe zur deutschen Grenze geböllert wurde. Mit anderen Worten: Geht doch. Aber in Deutschland nicht. Leid-Zufügen ist nicht in allen Ländern en vogue. Oder ist Spaß für Menschen wichtiger als Leid für Tiere?

René Magritte (1966) Auszug aus dem Bild: La prèsence d'esprite (Gegenwart des Geistes).
René Magritte (1966) Auszug aus dem Bild: La prèsence d’esprite (Gegenwart des Geistes).
Bearb. aus René Magritte. Kunstsammlung Düsseldorf. Prestel 1996

Warum erzähle ich das? Es geht hier nicht um Spaßverderben und Tränendrüse. Nur um ein Beispiel von vielen. Andere Tierarten sind natürlich auch betroffen: Katzen, die sich unterm Sofa verkriechen, selbst Vögel, die erschreckt aus den Bäumen flüchten, Waldtiere in Europa, Wildtiere in anderen Erdteilen. Mit anderen Worten: Die Mitbewohner unserer Erde, ohne die unsere Erde nicht überleben könnte, leiden erheblich, fliehen aus der menschlichen Schutzzone. Man denke auch an die Verletzungen anderer Böllerer (Verwundung bis hin zur Erblindung). Das Desaster ist die absolute Priorität der menschlichen Bedürfnisse gegenüber den Prioritäten anderer, auch nicht-menschlicher Betroffener. Leid-Zufügen ist anscheinend keine moralische Kategorie mehr. Und wo bleibt das, was man als „Geist“ bezeichnet? Ist das ein Ammenmärchen oder eine Ausrede, wenn man nicht recht weiterweiß? Oder nur ein Bestandteil, den man nie wahrnimmt und über den man nur selten nachdenkt? Geist bedeutet In-Beziehung-Stehen und zu wissen: warum.

  • Warum gibt man 137 Mio € für Böller aus?

Die Ausgaben für die Silvesterknallerei sind enorm hoch. Nur ein Beispiel: 2000 wurden 102 Mio € ausgegeben, 2004 nur 87 Mio € (Tiefststand in den Nullerjahren, Finanzkrise), 2012 124 Mio € und 2016 sowie 2017 jeweils 137 Mio €. Immer wieder wird mit den Arbeitsplätzen der Pyrotechnik in Deutschland argumentiert, wobei eine andere industrienahe Statistik zu wissen vorgibt, dass Feuerwerke und Böller außerhalb Deutschlands hergestellt werden. „Rin in die Kartoffeln oder raus aus die Kartoffeln …“ (E. Kästner) Immerhin, stetige Steigerung der Ausgaben für das Böllern, stetiges Jammern über die irrsinnigen Ausgaben – schlimmer geht’s (n)immer.

137 MIO € gibt man nur aus, wenn man wenigstens insgeheim große Vorteile erhofft. Verzichten wir auf die affektive Seite der Ausgaben für das Böllern, etwa auf den animistischen Sumpf unseres teils christlichen, teils rationalen Weltbildes. Schwadronieren wir nicht über den Sinn des Böllerns, den gibt es eh nicht. Es sei denn: Böllern macht Spaß. Und Spaß lassen wir uns was kosten – auch wenn niemand den Sinn kennt.

Da ist immer noch die Frage, was einem Böllern wert ist. Was kann einem das Böllern wert sein, wenn man nicht einmal den Grund kennt. Oder geht dieser Mechanismus auf das Konto der spätrömischen „Brot und Spiele“-Maxime (panem et circenses) zurück? Ohne Spaß lässt sich der harte Alltag nicht ertragen. – Ich tendiere zu letzterem.

Sinn von Silvester und Co.?

Neben Silvester (Name eines Papstes) gibt es noch andere Böllertermine. Sehr verbreitet sind das Kirchweihfest, Beginn und Ende von Märkten sowie kleinere Events wie wichtige Geburtstagsfeiern und Straßenfêten usw. Aber Silvester gibt den Ton an: Feuerwerk, Böllern und Glockengeläut, also Licht und Lärm – so die animistischen Glaubensreste – sollten „böse Geister“ vertreiben. Glaubt jemand noch an Geister? Kaum, aber geböllert wird trotzdem.

Silvesterspaß (Foto Arnold Illhardt)
Silvesterspaß (Foto Arnold Illhardt)

Das neue Jahr sollte frei von gefährlichen Dämonen mit Zuversicht und Vorfreude gefeiert werden. Gleiches gilt für die anderen Momente des Neuen, das da auf uns zukommt. „Allem Anfang wohnt ein Zauber inne …“, meint Hesse. Ist Böllern die Reaktion auf den Anfang, damit er seinen Zauber nicht verliert? Oder ist es eher pure Unfähigkeit, darüber nachzudenken? Oder der lautstarke Versuch, den lieben Gott einzustimmen, dass Neues auf ihn zukommt? Ist der liebe Gott schwerhörig? Machen wir ein Sprachspiel:

Hesse im Original

[..] Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

………………

Pyrotechnische Persiflage

[..] Und jedem Anfang wohnt ein Böller inne,

der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

………………

Silvestertypische Situations­beschreibung

[..] Und jedem Anfang wohnt ein Unsinn inne,

der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

Was hat die Begrüßung des Neuen mit Schutz und Hilfe zu tun? Die pyrotechnische Version zeigt den Unfug und, oh heiliger Sankt Böller, erst recht die Sinnlosigkeit der silvester­typ­ischen Fassung. Ernsthaft betrachtet: Im Neuen steckt die Potenz von Schutz und Hilfe. Schließlich: Wer wagt, der gewinnt (wenn’s sein muss, sich selber). Wir müssen uns darauf einlassen und das, was kommen könnte, bedenken. Böllern hat keinen Sinn, scheint pubertär. Nachdenken würde eher die Kräfte der Prophylaxe frei machen. Energie statt Kraftmeierei freisetzen.

Mein Fazit: Es gibt keinen Sinn, es sei denn, man macht ihn, z.B. durch Nachdenken. Böllern verhindert das.

Eine unbeantwortbare Moralfrage

Was unser Dilemma so unlösbar macht, ist ein moralischer Konflikt: Ist Leben der Menschen wichtiger als das der Tiere? Schlimm, wenn ein Konflikt dieser Art nicht entschieden werden kann. Auch die Böllerfrage hängt in der Luft. Hier ein Aufreger aus den 80er Jahren:

In den 70er Jahren kochte die Diskussion über den australischen Ethiker Peter Singer hoch. Er fragte: Warum darf man das Affenbaby töten und das Neugeborene nicht? Die Frage hat einen Bart. Hat sie das wirklich oder blieb sie nur unbeantwortet? Dann war sie wohl nicht so wichtig. Singer meinte: Wenn man das Affenbaby töten kann, kann man auch das Neugeborene töten, wenn es leidet. Ein Wesen, Tier oder Mensch, darf man nicht leiden lassen. Das eine ist so irrational wie das andere, besonders wenn man keine überzeugenden Argumente hat.

Kann man kluge Tiere essen (Foto Arnold Illhardt)
Kann man kluge Tiere essen (Foto Arnold Illhardt)

Und wie ist das mit dem Schweinebaby alias Spanferkel, und dem Menschenbaby? Letzen Endes scheint es auf die Interessen des Menschen anzukommen. Wenn – nur um ein Beispiel aus einem ganz anderen, aber aktuellen Bereich zu nehmen – die Autoindustrie für ihre Abgastests Affen leiden und sterben lässt, sind es Interessen, nicht Argumente, die entscheiden. Gibt es nicht genügend Affen im höheren Management von VW und Co., die man für solche Versuche nehmen könnte? Oder gibt es da wesentliche Unterschiede zwischen Mensch und Tier? Wenn ja, welche sind das?

Warum die Aufregung über diese Praxis? Das war doch immer so. Einige meinen, dass Menschen eine Seele haben und Tiere nicht. Hat man dafür wasserdichte Argumente? Im 17. Jahrhundert sahen das mit der Seele der Tiere sogar Theologen anders. Säkularer Theaterdonner macht keine Argumente. Viele halten das Ausmaß der Vernunft für das Recht zu leben. Dann hätte das Neugeborene aber schlechte Karten. Spielt die Entwicklungs­fähigkeit keine Rolle? Und was ist mit den Behinderten? Apropos Geist. Geist ist nicht Vernunft, sondern wissen, was warum passiert. (Der Dichter E. Fried schrieb: „… Der Hund stirbt wie ein Hund. Der Mensch stirbt wie ein Hund. Aber er weiß, dass der stirbt wie ein Hund …“) Fragen über Fragen und keine Antwort.

Puten auf einem Hof in Westbevern (Foto Arnold Illhardt)
Puten auf einem Hof in Westbevern (Foto Arnold Illhardt)

„Kleiner Mann, was nun?“ (Hans Fallada). Was machen wir, wenn wir keine endgültig akzeptablen Argumente haben? Durch seine Entscheidungen niemanden verletzen. Ein beinahe lustiges Beispiel: Charles Darwin schrieb, dass die Menschen in Java die Affen für sprechfähig hielten. Aber sie sprächen nicht, obwohl sie es könnten, weil sie dann fürchteten, arbeiten zu müssen wie die Elefanten. Arbeit ist hart. Hat man so viel Einfühlungsvermögen, auch wenn die Argumente von vorgestern sind? Unser Ausweg: Kein Grabenkrieg der Position, stattdessen Hinterfragen des eigenen Diskurses. Nicht die Position, Priorität für Menschen oder Gleichberechtigung von Mensch und Tier, ist entscheidend. Wie man argumentiert, ist entscheidend – z.B. ob man neutral diskutiert, ob man die Interessen des anderen und die eigenen kennt, ob man die Ziele aller respektiert usw.

Auf einen Nenner gebracht:

Man darf natürlich Vorlieben haben und ausleben. Man muss es sogar, weil es das Leben interessant macht. Beim Böllern habe ich jedoch meine Zweifel, weil man

  • sich niemals darauf einigen kann, ob Tiere oder Menschen Vorrang haben,
  • allzu selten an die Interessen von Tieren und offensichtlich vornehmlich an die der Menschen denkt (medizinische Tierversuche, Tierhaltung usw.),
  • Nutzung der Tiere immer auch – zumindest mehr oder weniger – eine Frage der Machtausübung ist.