In einem leerstehenden Abrisshaus in Telgte fand in den Ostertagen 2016 eine Künstlerperformance statt. Durch Klänge, Malerei und Aktionskunst wurden gegensätzliche Zustände wie Traum und Wirklichkeit aufgelöst. Der Zuschauer/Zuhörer fand sich in einer surrealen Welt wieder. Ein verstörendes Fest der Sinne an einem Karfreitagnachmittag.
(Telgte) Zwischen all den verstaubten Haushaltsutensilien, Kisten und zusammengerafften Müllhalden liegt ein Zettel mit dem Namen „Hedwig“, vielleicht die letzte Identität des Abrisshauses in der Telgter Königstraße. Der Boden ist an einigen Stellen schon brüchig, der Zugang zum Obergeschoss versperrt: Einsturzgefahr. Tapeten, Schränke und mit Plastikfolie geschützte Mäntel geben Zeugnis einer längst vergangenen Zeit. Sicherlich gab es früher in der Küche von Hedwig guten Prüttkaffee. In den Ostertagen des Jahres 2016 erfährt das Haus eine ganz neue Verwendung und Bestimmung, die sich Hedwig zu Lebzeiten sicherlich nicht erträumt hätte: Es ist die temporäre Residenz der internationalen Künstlergruppe Sintos, die sich im vergangen Jahr beim HanseLiveArtWorks-Festival in Viljandi (Estland) kennengelernt und später zusammengesetzt hat.
Die Künstler aus Frankreich, Schweden, Norwegen und Deutschland vertreten künstlerische Bereiche wie Tanz, Musik, Klangkunst, Malerei, Performance Art, Aktionskunst und Zeichnen. Dass sich die Gruppe ausgerechnet in Telgte zusammengefunden hat und von dort aus auch Ostbevern, Münster und Soest bespielt, basiert auf der Organisation und dem Engagement der beiden Telgter Künstler und Kulturnomaden Michael B. Ludwig und Michel M.
Wie ein Ort des Verfalls auf den Betrachter wirkt, hat unabhängig von dem, was dort passiert, mit unterschiedlichen Variablen der Persönlichkeit, des aktuellen Bewusstseinszustands und allenfalls Tageslaunen zu tun. Gebäude, die sich im Niedergang befinden, vermitteln oftmals eine schaurig-faszinierende Tristesse und erzählen Geschichten, die sich hinter vergessenen, verlassenen Mauern abgespielt haben mögen. Die Ästhetik des Verfalls übte schon immer eine große Anziehungskraft auf die Kunst aus. Eine besorgniserregende Quintessenz, haben sich doch manche Ergüsse der neuen Architektur scheinbar komplett von ästhetischen Aspekten verabschiedet.
Am Karfreitag hat sich ein Teil der in Telgte anwesenden und lebenden Künstler zu einer Gruppenperformance in Hedwig´s Haus eingefunden. Passanten, die mich fragen, was denn nach so viel Stillstand plötzlich in dem Haus passieren würde, hätten vielleicht mit Umbaumaßnahmen gerechnet. Aber eine Kunstperformance? Es ist schwierig, in Kürze eine Beschreibung abzugeben, die der Performance halbwegs gerecht wird. Passende Charakteristiken sind situationsbezogen, handlungsbetont und vergänglich. Genutzt werden Grundelemente wie Zeit, Raum, Klänge, Bilder, der Körper des Künstlers und eine Beziehung zwischen dem Künstler und dem Zuschauer. Dabei folgt der Performanceprozess keiner festgelegten Dramaturgie, sondern beruht vor allem auf der spontanen Inspiration des Künstlers. Ich erkläre es den Passanten in abgewandelter Form und versuche, eine Neugierde zu wecken. Es gelingt mir leider nicht.
An diesem nieseligen Karfreitag treibt es nur wenige Zuschauer/Zuhörer in das Haus. Offenbar sind die meisten mit der für diesen Kummertag auferlegten Entsagung, Freudlosigkeit und Apathie beschäftigt. Umso mehr ist es mir und meiner Frau möglich, in das sich uns bietende surreale Szenario abzutauchen. Das Genießen von Kunst und Eintunken in ihre Sphäre misslingt häufig aufgrund von Störungen durch gehetzte, desinteressierte und lärmende Zeitgenossen. Bereits in der Nacht hatte sich der französische Graffitikünstler und Maler Pierre Loup im Erdgeschoss des leerstehenden Hauses künstlerisch ausgelassen. Er hatte Wände mit einem Beil aufgestemmt und aus dem Putz Fratzen herausgelöst. Über Böden und Wände verlaufen schwarzumrandete weiße Bänder, die von ihm auch in den nächsten Tagen mit Gesichtern und zum Teil erotisch anmutenden Zeichnungen gefüllt werden. Irgendwo dazwischen findet man das Wort love. Bei allem Alptraumhaften, das die Stimmung im Inneren im weiteren Verlauf bestimmen wird, schimmert immer auch Liebe durch den Nachtschatten des Tages.
Aus dem Raum neben dem Eingang, in dem nur noch eine alte Lampe an der Decke annehmen lässt, dass es sich mal um die gute Stube gehandelt haben muss, klingt seiensverlorene Musik. Hinter dem Mikrofon steht Yvoe Ree (Yvonne Peters), Sängerin, Vokalistin, Komponistin und Poetin. Mit Silent Skin Melodies wusste sie bereits ein paar Tage zuvor in der Telgter Kornbrennerei durch Gesang zu überzeugen. Jetzt erinnert das, was sie zum Teil verzerrt ins Mikro haucht, stöhnt, schreit oder gurrt nur noch rudimentär an Gesang. Es sind eher zerbrechliche Klänge von einer fragil wirkenden jungen Frau, mit denen sie die hauchdünne Trennwand zwischen magischer Schönheit und alptraumhafter Unwirklichkeit zu durchdringen scheint.
Begleitet wird sie von Vincent Dombrowski, der auch als Saxophonist, Pianist, Komponist und Arrangeur aktiv ist, an der Klarinette, sowie Marcus Beuter, Klangkünstler, elektroakustischer Komponist, field recordist und Improviser. Die akustische Melange, die durch die drei Musiker und Künstler entsteht, lässt das Bewusstsein ein-, oder wahlweise abtauchen in die Abgründe einer psychischen Parallelwelt. Traumwandelt man währenddessen durch die Räumlichkeiten und hört die Klänge aus verschiedenen Positionen, entfernt man sich als Zuhörer von allem Weltlichen und Rationalen. Und schon nach kurzer Zeit von der karfreitaglichen Außenwelt. Wo ist was und was ist wo? Und wann?
Wie zwei Gestalten aus einer ebenfalls anderen Welt performen Agnes Lundgren (Schweden) und Hans Christian van Nijkerk (Norwegen). Die Aktivitäten dieser beiden Aktionskünstler ergänzen sich auf harmonische und dennoch verstörende Weise mit den Klängen, die das alte Haus durchfluten. Die schwarz gekleidet Tänzerin Agnes Lundgren scheint sich während ihrer Performance in einer komplett anderen Welt zu befinden. Sie erinnert ein wenig an eine Nebelkrähe, die in den Zerstörungen und Schutthaufen nach Verwertbarem sucht. Mal in beinah schwebender, trancehaften Bewegungslosigkeit, mal in aggressiven Handlungen und Ausführungen; eine Auflösung scheinbar so gegensätzlichen Zustände wie Traum und Wirklichkeit, wie es Andre´ Breton für den Surrealismus mal beschrieb.
Entgeistigter Teil dieser Traumwelt (surrealite) ist Hans Christian van Nijkerk. Wie ein von unsichtbaren Kräften Getriebener erspielt, ertastet, erläuft und erlacht er sich die Räume, schlägt mal mit dem Kopf vor die Wand, als halte er die innere Leere nicht mehr aus, mal wird er von Lachkrämpfen geschüttelt oder scheint sich körperlich mit der verkommenen Toilette zu vereinigen. Das Geschehen lässt sich schwer umschreiben, denn manchmal wiedersagt es der eigenen Vernunft, schaltet den kontrollierenden Verstand ab. Will man noch hinschauen oder sich angewidert abwenden?
Nach einer nicht mehr wahrnehmbaren Zeit verlassen wir das Szenario, verwirrt, verstört und dennoch inspiriert. Es entstanden im Kopf Bilder von ungeheurer Tragweite. Beim Hinausgehen ein letzter Blick ins Fenster. Dort steht Michael B. Ludwig und wischt wie die japanische Winkekatze Manekineko mit zwei unterschiedlich farbigen Puschelhandschuhen über die Scheibe. Sichtlich irritierend für einige Vorbeihuschende. Doch irgendwie wirkt sein Tun lebendig, so als wolle es mit einem letzten Winken in die nicht minder irre Wirklichkeit verabschieden.
Die Aktion hatte keinen Namen. Wir nennen sie das Haus der Verlorenheit.