Zorn und die daraus resultierende Zornesröte sind Produkte einer massiven Gefühlsangelegenheit. Sie können reinigend und damit konstruktiv wirken, aber auch im Desaster enden. Man kann aber auch darüber schreiben und seine Ruhe finden. Vorübergehend!
Es gibt eine Reihe von Worten, so wie blümerant oder Contenance, die bedauerlicherweise ausgestorben sind oder nur noch von weißbärtigen pensionierten Studienräten mit Flicken auf der Wolljacke genutzt werden. Noch so ein Wort, das sich rar gemacht hat, ist Zorn. Jedenfalls ist es mir in den letzten Jahren – wohlgemerkt als Wort – nur selten begegnet. Ira, wie der Zorn bei den alten Römern hieß, ist ein Zustand stärkster emotionaler Erregung, also ähnlich wie Hass oder die Erschütterung. Ist die kleine Schwester Wut noch recht allgemein ausgerichtet, so kommt der Zorn mit äußerst aggressivem Habitus daher, ist massiv und direkt gegen Menschen und Situationen gerichtet und will vor allem seinem Ziel unmissverständlich deutlich machen, dass hier interaktionsmäßig nicht gekleckert, sondern geklotzt wird. Der Zorn ist aber nicht nur eine reine Gefühlsangelegenheit, sondern bringt in der Regel einen Schwall von körperlichen Begleiterscheinungen mit sich. So ist eine übermäßige Blutzufuhr zu verzeichnen, womit sich auch die Zornesröte erklären ließe. Der Vollständigkeit halber sei noch angemerkt, dass es verschiedene Formen des Grolles gibt, wie man den Zorn früher gerne nannte: Zum einen der außer Kontrolle geratene Jähzorn und das halbwegs angemessen erscheinende Zürnen z.B. als Volkszorn gegen Machenschaften des Staates oder gegen die blödsinnigen Abgründe menschlichen Seins.
Zornwürdiges, wohin man schaut
Ob der Zorn mit dem Alter zunimmt, ist mir nicht bekannt, allerdings spüre ich bei mir selbst mit den Jahren einen Zuwachs an böser Grimmigkeit. Zugegebenermaßen war ich nie ein Kind von Sanftmut und Leisegang. Wenn es drauf ankam, ist mir eine Poltrigkeit zu eigen, die mich oft schon selbst geängstigt hat. Glücklicherweise stehen bis auf ein paar Rangeleien im Jungendalter, sowie schwerwiegenden Delikten mentaler Art keine erwähnenswerten Gewalttätigkeiten auf meinem bisherigen Lebenskerbholz. Diese vermehrte Zornigkeit erscheint mir jedoch weniger ein Lebensalterungsprozess, sondern vielmehr ein weiterer Globalisierungseffekt zu sein. Denn mit wachsender Informationsflut stehen immer mehr Möglichkeiten zur Auswahl, die mir die Zornesröte ins Gesicht steigen lassen. War es früher nur der Blick in die Lokalzeitung, der das Blut über die Deppigkeit regionaler Minuszeitgenossen zum Kochen brachte, so ist der potentielle Zornquotient durch Internet und internationale Presse in schwindelnde Höhen gestiegen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht in sechzehn bis vierundfünfzig Meldungen über menschliches Schwachmatentum in all seinen möglichen und unmöglichen Schattierungen berichtet wird. Der Mensch als solches ist sich nicht mal für ein Benehmen zu blöd, welches man eher Scheißhausfliegen oder tollwütigen Wildschweinen zuordnen würde.
Mit dem europaweiten Erstarken der rechten Szene und damit verbunden einer gewissen Hoffähigkeit rechten Denkens – ein mehr als denkwürdiger Prozess – wird der Zornquotient tagtäglich und damit auch allmorgend- und –abendlich getriggert. Natürlich stecke ich, wie mir ein rechtsdrehender Zeitgenosse mal vorwarf, in einer gewissen ideologischen Blase, aber unabhängig davon ist das Verhalten der Rechten in der Öffentlichkeit, aber auch in der vermeintlichen Verdecktheit der Internetprivatsphäre an kognitiver Hohlpfostigkeit kaum mehr zu überbieten. Ich rede nicht von der rechten Ideologie, die den mühselig erkämpften Werten a la Gleichberechtigung, Antirassismus oder dem freien Ausleben sexueller Identität wieder einen Riegel vorschieben will, sondern von diesem sukzessiven Gewöhnungsprozess, der unaufhaltsam in breiten Gesellschaftskreisen voranschreitet. Plötzlich scheint es auch in anderen politischen Bereichen von konservativ bis links – was immer beides bedeutet – zeitgemäß zu sein, nationalistisch gefärbt zu denken. Nix da, wir sind eine Welt, jetzt ist wieder schwarz-rot-goldene Eindimensionalität gefragt. Und es macht zornig zu beobachten, dass die Altparteien, denen mein Vertrauen nie wirklich galt, so wenig Hintern in der Hose (wo auch sonst) haben, um klare Positionen einzunehmen. Es ist das Zeitalter des schwammigen Ja-Abers!
Doch die Zornigkeit über tiefergelegtes rechtes Denken und Handeln ist nichts, was mir neu ist. Ich habe schon vor vierzig Jahren gegen rechtsfaschistische Strömungen in Deutschland und Europa demonstriert. Der Zorn bezieht sich auch auf Prozesse, die ebenfalls ein Fortschreiten von Werteverfall und Entmenschlichung bedeuten. All die Verschmutzungen im großen Stil im Namen des Großkapitals, kriminelle Machenschaften der Kriegsindustrie oder enthemmtes Machtbestreben politischer Größenwahnsinniger sind unalternative Fakten, die mehr als nur Zorn entfachen. Genauso, wie die Manipulationen und Verbrechen der Politik oder Industrie einen gewissen Zenit des Fassbaren überschritten haben, entdecke ich auch bei mir einen Scheitelpunkt, der Zurückhaltung oder Bescheidenheit hinter sich lässt.
Ninon Hesse, die Frau des großen Schriftstellers Herrmann Hesse, hat einmal über ihren Mann gesagt: „Er liebt das Leid, und er braucht es, und er holt es sich von überall her.“ Man bezeichnete Hesse auch als Poet des gehobenen Weltschmerzes. Ich liebe das Leid nicht, würde auch gerne darauf verzichten, was mir jedoch zunehmend schwer fällt. Zudem macht es mich wütend, dass es so wenige Menschen kümmert, wie die Welt zerschunden wird. Man scheint resistent gegen all die Humaninfernos geworden zu sein. Der Schmerz über den Zustand der Welt und des Zusammenleben in ihr ist ein eher depressives und damit nach innen gewandtes Gefühl; der Zorn drängt vor allem nach außen, braucht Raum und Wirkung. Wobei sich in meinem Fall noch nicht abschätzen lässt, welche Konsequenzen dies haben wird.
Zorn als konstruktive oder desaströse Gefühlsangelegenheit
Zorn, so könnten die Ausführungen glauben machen, ist ein vehementer Gefühlszustand, der sich zwangsläufig einstellt; der Zürnende ist persönlichkeitspsychologisch so gestrickt, dass sich seine Gefühle in einem überbordenden Maß entwickeln und nach einer Umsetzung im Sinne eines Auslebens drängen. So erklärt sich möglicherweise der künstlerische Prozess bei der Entstehung eines Bildes oder einer Komposition. Doch Zorn hat darüber hinaus auch die Funktion, eine schädliche Überreizung des persönlichen Selbst zu verhindern oder wenigstens abzuschwächen, um über diesen Weg die subjektive und soziale Identität wiederherzustellen. Es macht somit Sinn, seinen Zorn zu hinterfragen, denn vielleicht ist die unbändige Wut auf bestehende gesellschaftliche oder politische Umstände zwar nachvollziehbar, dennoch aber eher eine Art Umleitungsgefühl, um die eigene Unvollkommenheit zu kaschieren. Möglicherweise ist es ja der Frust über die Unfähigkeit, den sozialen Status zu ändern oder die mangelnde Anerkennung der Arbeit durch den Chef, die den geballten Groll hervorrufen.
Die Hintergründe der patriotischen „Wutbürger“, die zu Tausenden auf die Straßen strömen, um ihrem Frust über die verfehlte Regierungspolitik oder eine vermeintliche Bedrohung durch fremde Völker Raum zu geben, wurde gut erforscht. Immer wieder stellte man auch hier fest, dass die Wut eine Reaktion auf das eigene Scheitern darstellt, womit nicht nur berufliches Versagen gemeint ist. Dass diese Menschen nicht wahrnehmen, wie sie dabei rechtspopulistischen, machtgeilen Pseudopolitikern a la Gauland oder Höcke auf dem Leim gehen, die sie im Grunde nur für die eigene Profilneurose missbrauchen, ist traurig, aber offenbar veränderungsresistent! Parteien wie AfD oder Bewegungen wie die Pegida wollen ja keine Zustände ändern, sondern sie verwalten. Wären die Missstände morgen beseitigt, gäbe es ja nichts mehr zum Mokieren. Zur Veränderung fehlen den rechtsdrehenden Zeitgenossen die Ideen.
Wut und Zorn sind jedoch kein Markenzeichen der rechten Szene, sondern finden sich natürlich bei allen Menschen. Dennoch lassen sich Unterschiede finden: Während sich der Zorn von Menschen mit einer extremistischen, bevorzugt rechten Gesinnung eher auf Ersatzsubjekte bezieht, die im Grund mit dem eigentlichen Zornesgrund nichts bis gar nichts zu tun haben (z.B. Zorn gegen Ausländer, gegen sozial Schwache etc.), kann ein gesunder Zorn die Grundlage für eine veränderte Lebenseinstellung oder –form darstellen (z.B. Vegetarismus, alternatives Zusammenleben, Mitwirken in einer NGO etc.)
Versuche, den Zorn zu zähmen
Nun gibt es mehrere Möglichkeiten, mit all diesen Abfallprodukten entgleister Menschlichkeit umzugehen: Stundenlang Grindcore auf die Kopfhörer laden, saudämliche Computerspiele a la „Doom“ spielen oder in der FDP mitwirken. In seinem Buch „Anarchie! Idee, Geschichte, Perspektiven“ verfasste Horst Stowasser den Satz: ”Empörung braucht also eine Idee, die in eine positive Utopie mündet; mit einem Wort: ein Ziel.” Doch die aktuelle Politik scheint mir genau das nicht zu haben: ein Ziel. Sie zeigt keine Wege auf, sondern fungiert als Zustandsverwalterin. Einer meiner Wege, die angestaute Rage zu kanalisieren, ist das Schreiben. Und so manches Mal hält es mich dankenswerterweise davon ab, innerlich wie äußerlich zu explodieren. Sollten mir also hin und wieder die Pferde durchgehen und das Anstandshündchen in mir Schaum vor dem zähnefletschenden Maul haben, dann ist es der Zorn, der meine Worte lenkt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wie lange das Schreiben als Ventil reicht!
Schreiben ist ja immer auch Katharsis, eine innere Reinwaschung von vermeintlich ins Aus verschobenen Emotionen und Konflikten, die in uns wüten. Schreiben als Systemwiederherstellung in old-school-Manier. Und wenn dann wieder Ruhe eingekehrt ist und unsere Seele wie ein glänzender See in der Abendsonne sanfte Plätscherwellen an die Gestade unseres Seins wirft, dann ist möglicherweise auch wieder Zeit für Hoffnung. Die stirbt ja bekanntlich zuletzt.