Weltschmerz
Leiden an der Welt und ihrer Unzulänglichkeit

Sicherlich – für menschliche Entgleisungen wie präsidiales Schwachmatentum, machtversessenes Elitedenken oder das Drama der Tierschänderei für billige Schnitzel kann ich persönlich nichts, aber es bewegt, schmerzt und ruft nach radikalen Ansätzen für eine Veränderung. Weltschmerz ist das fahle Licht in einem bewegten Leben, aber beleuchtet setzt es Energie in Gang.

 

In der Biografie von Ralph Freedmann über den deutsch-schweizerischen Schriftsteller, Dichter und Maler Hermann Hesse wird beschrieben, dass Hesse häufig unter argem Weltschmerz litt und ihn die gesellschaftlichen und politischen Zustände bedrückten. „Die fein abgestimmte Wechselwirkung zwischen individuellen Konfliktsituationen und historischen Ereignissen war es, die ihn (Hesse) zum eigentlichen Autor der Krisis machte.“ In den Zeiten, in denen Hesse umtriebig war, existierten noch keine sozialen Medien. Man informierte sich über Zeitungen, Bücher und Mund-zu-Mundpropaganda. Meldungen über das Weltgeschehen erreichten die Menschen zu dieser Zeit erst mit großer zeitlicher Verspätung.

 

Weltschmerz 3 (Foto Arnold Illhardt)
Weltschmerz 3 (Foto Arnold Illhardt)

Dieser Informationsmodus ist auch mir noch bestens bekannt. Als ich in jungen Jahren anfing, meinen bis zur Stadtgrenze reichenden Horizont zu überschreiten und erste Versuche machte, die Welt und die Menschen in ihr zu verstehen, gab es nur wenige Medien, die mir zur Verfügung standen. Und dennoch besaß ich eine Art Empfänglichkeit für das, was in der unmittelbaren Umgebung, aber auch in weiter Ferne passierte. Schon recht früh wurde mir klar, dass es mit der Krönung der Schöpfung, wie sich die Menschen gerne selbst titulierten, nicht weit her war. Vielmehr verstärkte sich mein Eindruck, dass der Mensch der Schöpfung die Krone in Sachen Brutalität, Herzlosigkeit, Habgier oder Machtgeilheit aufsetzte. Ich litt aber nicht darunter, sondern war von der Vision angetan, durch mein auflehnendes Verhalten und meine laut geäußerte Empörung etwas ändern zu können. Möglicherweise half mir meine Naivität, die vielen positiven Ansätze zu sehen und die negativen Auswüchse der menschlichen Überheblichkeit als eine Art Übergangsproblem zu betrachten. Nach zwei Jahrtausenden, so meine damaligen Überlegungen, müsste doch der Krönungsmensch in der Lage sein, aus seinen Fehlern, all den Kriegen und selbstverschuldeten Katastrophen, gelernt zu haben. Mein Weltschmerz wurde zu einer Triebfeder. Wie gesagt: Ich war naiv!

Es muss wohl nicht weiter ausgeführt werden, dass der Mensch rein gar nichts gelernt, sondern die Klaviatur seines bestialischen Benehmens eher perfektioniert hat. Doch was sich geändert hat, sind die Zugangswege, um sich über das menschliche und gesellschaftliche Elend zu informieren. Von etwas nichts gewusst zu haben, kann heutzutage kaum mehr als Ausrede gelten. Es gibt aktuell unzählige Möglichkeiten, in Sekundenschnelle die Missstände der Welt und sei es in den entlegensten Winkeln abzufragen. Unterwegs in den sozialen Medien stoße ich häufig auf Aussagen von Kommentatoren, die wie folgt lauten: „In was für einer Welt leben wir nur!“ oder „was für eine dumme Menschheit!“ oder etwas „prosaischer“ „ich kann gar nicht so viel essen, wie ich kotzen könnte.“ Ich habe oft das Gefühl, den Menschen fehlen immer mehr die Worte, ihrem Empfinden Ausdruck zu geben. Leider entgleisen die Kommentare dadurch häufig, was in allen Richtungen zu Beleidigungen oder Hasstiraden führt. Zur Besonnenheit bzw. zu einem bedachten Austausch reicht es vielfach nicht mehr.

Eine halbe Stunde in Internet und unzählige menschlichen Perversionen werden auf dem Präsentierteller dargeboten: Krieg, Diktatur, Rechtsnationalismus, Rassismus, Polizeigewalt, Aggressionen, Tierquälerei, Lobbyismus, Machtmissbrauch, politische Fehlentscheidungen…doch was soll´s: Wir haben uns daran gewöhnt. Alles hat einen gewissen Normalitätsstatus erreicht. Denn irgendwie war es immer so, wird sich nicht ändern und „es wird eh nicht besser!“ Vielleicht sind bei vielen Menschen solche Durchhalteparolen notwendig, um den Weltschmerz zu mindern.

Schmerzen, zumal immer wiederkehrende, haben enorme Auswirkungen auf den Menschen: Sie höhlen aus, nagen an einem, führen zu Rückzugstendenzen, verursachen depressive Episoden, zersetzen die Persönlichkeit und zerstören Träume. Um nur ein paar Effekte zu nennen. Schmerzen sind ein körperliches Phänomen mit psychischen Auswirkungen, was selbst Ärzte zu dem Denkfehler verleitet, dass Beschwerden ohne körperliche Ursachen (wie z.B. Entzündungen oder Fehlstellungen) psychisch seien. Doch wenn Schmerzen stets körperlicher Natur sind, kann es dann überhaupt einen Weltschmerz geben? Ähnlich wie eine Aussage „du hast mir wehgetan“ z.B. bei einer Trennung geht es hier nicht um wirklichen Schmerz, sondern um Trauer, Enttäuschung, Ohnmacht oder Wut. Diese Gefühle treten gerne in Kombination mit körperlichen Symptomen wie Übelkeit, Kopf- oder Bauchschmerzen, Herzrasen, Schlafproblemen oder Verspannungen auf. Ein psychophysiologisches Phänomen: Eine Emotion der besonderen Art.

Der Begriff Weltschmerz wurde von dem deutschen Schriftsteller Jean Paul geprägt. Laut Wikipedia versteht man darunter: „…ein Gefühl der Trauer und schmerzhaft empfundener Melancholie, dass jemand über seine eigene Unzulänglichkeit empfindet, die er zugleich als Teil der Unzulänglichkeit der Welt, der bestehenden Verhältnisse betrachtet. Er geht oft einher mit Pessimismus, Resignation oder Realitätsflucht.“ Damit umschreibt Jean Paul eher den romantischen und möglicherweise früheren Typus des Weltschmerzlers, der seine Befindlichkeiten in Verse fasst oder sich in einer melancholischen Grundstimmung in Schwarz gewandet. Doch Weltschmerz macht auch rasend, wütend oder zornig, wie ich es an früherer Stelle in „Zornesröte“ https://querzeit.org/gesellschaft/zornesroete beschrieben habe.

 

Weltschmerz 2 (Foto Arnold Illhardt)
Weltschmerz 2 (Foto Arnold Illhardt)

Als ich neulich in einem recht wissenschaftlich anmutenden Artikel über den Umgang mit Stress eine Liste mit stressauslösenden Faktoren fand, suchte ich vergeblich nach einem Eintrag, der sich auf die Frustration über das Weltgeschehen im Kleinen und Großen bezog. Juckt es die Menschen nicht, wenn Politiker ihre Macht missbrauchen oder Heerscharen von völkischen Rechtspatrioten das menschliche Miteinander zersetzen? Kann man wirklich so abgebrüht sein? Wo lassen die Rezipienten ihre Reaktionen über das überbordende, weltweite Menschlichkeitsvernichtungspotential? Vor allem wundert es mich, wie wenige Konsequenzen aus diesen entgleisten Menschheitszuständen gezogen werden. Warum gibt es nicht mehr Vegetarier bei all der bekannten Quälerei in der Haltung, dem Transport und der Schlachtung von Tieren? Warum wählen die Menschen noch Parteien nebst Politiker, die sich längst vom Wählerauftrag verabschiedet haben und sich stattdessen mit der bestmöglichen Positionierung ihres Herrschaftsdünkels beschäftigen? Warum benötigen Menschen immer noch die Selbstunterjochung trotz widerlichstem Machtmissbrauch einer profilneurotischen Elite? Warum plädieren Menschen für uniformierte Gewaltherrschaft, obschon das Ziel des Gemetzels nie die Verantwortlichen trifft? Ist es Dummheit, Verdrängung oder eine hinterhältig-aggressive Persönlichkeitsstruktur, die sich an diesen Entgleisungen labt?

Bei genauerer Selbstanalyse, was den oder besser meinen Weltschmerz anbetrifft, ist es weniger DER Krieg oder DER Rassismus, wodurch mein gesellschaftsbezogener Schwermut entfacht wird. Es ist ein der Ablenkung dienendes Phänomen, Missständen Worte wie Krieg oder Klimakatastrophe zu geben. Hinter diesen Worten bleibt die tatsächliche Katastrophe zurück, da es ja nur Worte sind. Worte, die in unseren alltäglichen Sprachgebrauch eingeflossen sind. Doch nicht der Krieg als Wort ist schlimm, sondern die Tatsache, dass er von Menschen verursacht, angezettelt und durchgeführt wird. Und diese Menschen haben Namen, die Politikern oder anderen Machthabern zuzuordnen sind. Daher bezieht sich mein Weltschmerz auch nicht auf diese Worthülsen, sondern auf die Menschen, die dahinter stehen. Um es auf den Punkt zu bringen: Mich schmerzt vielmehr der offensichtlich unausrottbare und lernresistente Prozess, dass ganz bestimmte Menschen ihre Macht auf verdeckte oder offene Weise schamlos ausnutzen und dass wiederum eine breite Masse diese Macht nicht hinterfragt und sich blind VERleiten lässt.

 

Weltschmerz (Foto Arnold Illhardt)
Weltschmerz (Foto Arnold Illhardt)

Will man Ursachen für einen existierenden Weltschmerz beseitigen, sind Protestsongs oder Posts auf facebook sicherlich unzureichende Wege. Radikale Lösungen sind gefragt, wobei radikal in seiner tiefsten Bedeutung = von den Wurzeln her gemeint ist. Und radikale Lösungen sind vom parteipolitischen Überbau kaum zu erwarten. Viele Nichtregierungsorganisationen (NROs) verfolgen einen solchen gründlicheren Weg, weswegen die Verursacher schmutziger Geschäfte und menschenverachtender Entscheidungen sie stutzen und am liebsten beseitigen wollen. Warum? Weil von diesen unabhängigen Institutionen u.a. klare Namen der Verantwortlichen genannt werden. Der überwiegende Teil der Parteien will Missstände nicht verändern, sondern verwalten oder effekthascherisch nutzen. An einem Laternenpfahl in Marburg fand ich den Satz (sinngemäß): Das System, das uns in die Scheiße geritten hat, kann nicht gleichzeitig unser Retter sein. Und von Ulrich Kasparik stammen die auf Facebook zu findenden Worte „Darauf zu achten, was andere nicht tun, ist vergeudete Energie. Tue, was du selber kannst und verbinde dich mit Gleichgesinnten. Das ändert alles.“ Wohl wahr! Deshalb ist die beste Therapie, um den Weltschmerz einzudämmen, gegen den Strom des Schweigens zu schwimmen und die Heimlichkeiten der Elite aufzudecken und zu ächten. Vielleicht ist Weltschmerz das fahle Licht in einem bewegten Leben, aber beleuchtet setzt es Energie in Gang.