
Für Mateo
Der folgende Aufsatz will Klarheit schaffen über sieben Grundsätze, die den kritischen Blick ermöglichen auf einen Prozess, der vor unseren Augen abläuft und der mit gigantischer Aufrüstung einen neuen Krieg in Europa möglich macht.
Angriff und Verteidigung
Es gilt, gleich zu Beginn eine für die weitere Betrachtung grundlegende Tatsache festzuhalten. Die Brücke, über die alle Regierungen ihre Völker in den Krieg führen, trägt, ohne Ausnahme und in allen Sprachen, den Namen Verteidigung! Sich dies bewusst zu machen und nicht zu vergessen, wenn von Krieg die Rede ist, ist das Erste, das Unverzichtbare, da wir, die in jedem Krieg das Kanonenfutter sind, uns unser eigenes Bild machen müssen. Niemals nennt ein Politiker – ob Diktator oder von einer Mehrheit seines Volkes gewählt – den eigenen Krieg Angriff. Nur wenn es gelingt, einen Krieg als notwendige Verteidigung darzustellen, werden Menschen und Völker bereit sein zu töten und zu sterben. Das schließt nicht aus, dass Länder tatsächlich angegriffen werden und sich verteidigen (darauf komme ich am Ende zurück), aber das Grundprinzip der Mobilisierung für den Krieg gilt es zu verstehen. Wenn ich im Folgenden von Krieg spreche, meine ich den gewaltsamen Konflikt, in dem auf Befehl von Regierungen Armeen kämpfen.
Die Rechtfertigung des Krieges mit notwendiger Verteidigung galt auf allen Seiten im ersten und zweiten Weltkrieg, und sie gilt immer und überall. Notfalls wird der Verteidigungsfall erfunden oder gezielt herbeigeführt. Als die Deutsche WEHRmacht Polen überfiel („Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen“) hatte es den polnischen Überfall auf den Sender Gleiwitz ebensowenig gegeben wie den vietnamesischen Beschuss amerikanischer Kriegsschiffe, der als Vorwand für den amerikanischen Einmarsch in Vietnam diente. Die Behauptung, Saddam Hussein bedrohe die USA mit Massenvernichtungswaffen, erwies sich ebenfalls als erfundene Begründung der USA für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg auf den Irak im Jahre 2003 (an dem lt. Wikipedia auch die Ukraine mit 1.600 Soldaten teilnahm). Der Kreml begründet den Überfall auf die Ukraine mit der eigenen Bedrohung durch die Ausweitung der NATO an die russischen Grenzen.

Die militärische Einmischung von Großbritannien und Frankreich in ehemaligen Kolonien ist angeblich immer die Verteidigung von Recht, Ordnung, Stabilität gegen Angreifer. Frankreich hat den Versuch, die Unabhängigkeit seiner Kolonie Algerien militärisch zu unterdrücken, wobei es über Jahre schwere Kriegsverbrechen beging, als Verteidigung ausgegeben. Auch Partner und Freunde unserer „Wertegemeinschaft“ wie Erdogan und Netanjahu verteidigen sich nur, und zwar durch die Bombardierung von Nachbarländern, und westliche Regierungen geben dabei allerlei Hilfestellung. Die wenigen Beispiele mögen genügen, um darauf hinzuweisen, dass Diktaturen gewaltsame Machtpolitik ebenso als Verteidigung darstellen wie parlamentarische Demokratien. Wir müssen das Prinzip verstehen, um misstrauisch sein zu können und selbst zu prüfen – auch heute, wenn fast alle Medien das Bild malen von der „Bedrohung des freien Westens durch die Achse der Autokraten“. Prüfen wir also, ob es in unserem Interesse ist, wenn Deutschland Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge zu Manövern an die chinesische Küste schickt – und nicht umgekehrt.
Oft ist nicht gleich erkennbar, dass ein geplanter „Verteidigungskrieg“ keiner ist. Seit dem 2. Weltkrieg entpuppten sich eine Vielzahl von Angriffs- und Verteidigungskriegen in ihrem wahren Kern als Stellvertreterkriege, die ohne die interessengeleitete Beteiligung von Großmächten im Hintergrund wohl gar nicht geführt worden wären. Bereits Bismark wusste, wie man Frankreich gezielt in eine Lage bringen konnte, dass ihm nur die Wahl zwischen Krieg und politischer Niederlage blieb (Affäre um die Emser Depesche). Es funktionierte, Frankreich griff an und verlor 1871 den Krieg gegen die gut vorbereiteten preußischen „Verteidiger“.
Als Russland im Dezember 2021 in Briefen an die USA und NATO mit Verweis auf seine Sicherheitsinteressen in einem Vertragsentwurf forderte, die Ukraine und andere ehemalige Mitgliedstaaten der Sowjetunion nicht in die NATO aufzunehmen und keine Truppen und Raketen in den neuen östlichen NATO-Mitgliedern, also nahe der russischen Grenzen, zu stationieren, lehnten die USA und NATO wohl kalkuliert jegliche Verhandlungen ab. Entweder hatte die „westliche Wertegemeinschaft“ vermutet, dass Russland zu schwach und unentschlossen sei, um einen Krieg zu beginnen oder man setzte darauf, Russland auf den Schlachtfeldern der Ukraine und auf der Weltbühne des strategischen Ringens nachhaltig zu schwächen. In der Folge war zweifellos Russland der Angreifer, und hatte völkerrechtlich kein Recht, seine Sicherheitsinteressen durch Angriff und Kriegsverbrechen zu verteidigen. Aber Verhandlungen wären – wenn die Vermeidung von Krieg ein unbedingtes Ziel wäre – zumutbar und richtig gewesen, z. B. darüber, dass alle Seiten Truppen und schwere Waffen von den Grenzen zurückziehen. Die Verhinderung von Krieg ist jede Mühe wert.

Es heißt, Putin wolle die Länder der ehemaligen Sowjetunion wieder unter seine Kontrolle bringen und erwäge daher die baltischen Staaten anzugreifen. Man darf aber zumindest zweifeln, ob Putin den Willen und die Fähigkeit dazu hat. Was hätte er von der Kontrolle über einen kleinen Landstreifen, wenn er dadurch einen Krieg gegen die vielfach überlegene NATO riskierte? Seine Armeen waren in drei Jahren Krieg in der Ukraine nur zu beschränkten Geländegewinnen fähig. Er war in jüngster Zeit weder in der Lage, die Diktatur von Baschar al-Assad in Syrien noch das unter seinem Schutz stehende Armenien zu schützen. In Syrien stehen immerhin Russlands einzige Militärbasen am Mittelmeer auf dem Spiel. Das Gesamtbild spricht sicher nicht dafür, dass Russland die Fähigkeit hätte, die NATO anzugreifen. Wenn Putin die Länder der ehemaligen UdSSR kontrollieren will, wäre es jedenfalls einleuchtend, seine Aufmerksamkeit mehr auf die großen ex-sowjetischen Staaten Zentralasiens zu richten, wo sein Einfluss schwindet, als auf den Landstreifen an der Ostsee.
Man kann es nicht oft genug sagen: Die Analyse von Vorgeschichte und Ursachen von Kriegen bedeutet keineswegs, einen Angriffskrieg zu rechtfertigen – weder durch Diktatoren noch durch Demokraten! Aber Misstrauen ist immer geboten, wenn Regierungen ihre Bevölkerung im Namen „notwendiger Verteidigung“ für den Krieg mobilisieren. Und auch dies: Was die Bereitschaft betrifft, andere Länder zu überfallen, ist es völlig unerheblich, wie ein Land innenpolitisch verfasst ist, ob es freie Wahlen gibt oder nicht. Es gilt immer, das ganze Bild zu betrachten, wenn man über Angriff und Verteidigung urteilt.
Die Entscheidung über die größte Katastrophe, die ein Land treffen kann
Man sagt gemeinhin, Länder führten Krieg gegeneinander. Tatsächlich aber sind es nicht Länder, die die Entscheidung über den Einsatz ihrer Armeen treffen. Mir ist kein Fall bekannt, wo es vor Beginn eines Krieges eine Volksabstimmung gegeben hätte darüber, ob ein Land in den Krieg ziehen will. Die Gruppe derer, die in der Praxis die Entscheidung trifft, Ihre Bürgerinnen und Bürger an die Front zu schicken, ist am Ende immer recht klein.
In autokratischen Regimen entscheidet der Selbstherrscher gemeinsam mit einem kleinen Kreis von Generälen und Beratern. Natürlich wird das Volk nicht gefragt, allenfalls ein Scheinparlament. Zumindest in einem Teil der parlamentarischen Demokratien hat laut Verfassung das Parlament das letzte Recht, über den Einsatz der Landesarmee zu beschließen. Die oben genannten Beispiele allerdings weisen darauf hin, dass es für eine Regierung und eine überschaubare Zahl von Parteiführern nicht unbedingt schwierig sein muss, die gewünschte Parlamentsmehrheit herbeizuführen oder gar das Parlament zu umgehen. Selbst wenn ein Parlament den Krieg frei und unbeeinflusst beschließen würde, handelte es sich dennoch um eine kleine Gruppe von, sagen wir, wenigen hundert Personen, die über eine Katastrophe für ein ganzes Volk entschiede.
Im Zusammenhang mit der Entscheidung für den Krieg sind drei Faktoren von zentraler Bedeutung. Erstens sind die Entscheider (es sind nach wie vor

meistens Männer) von den sozialen und wirtschaftlichen Folgen des Krieges selbst, seiner Vorbereitung und Finanzierung nicht selbst betroffen. Ihre priviligierte finanzielle Lage erlaubt ihnen immer auszuweichen, während „Gürtel enger schnallen“ bis zu „Blut, Schweiß und Tränen“ nur die betrifft, über die entschieden wurde. Zweitens kann man bis auf sehr seltene Ausnahmen ausschließen, dass die Entscheider selbst und ihre engen Familienangehörigen persönlich in die Schützengräben müssten und riskieren würden, ohne Augenlicht, ohne Unterkiefer, ohne Arme zu ihren Frauen und Kindern zurückzukehren. Es ist deshalb leichter, Entscheidungen mit entsetzlichen Folgen zu treffen, wenn man sicher sein kann, nicht selbst betroffen zu sein – ja, selbst nicht einmal eine konkrete Vorstellung davon zu haben, was Krieg tatsächlich bedeutet.
Die dritte, äußerst wichtige Tatsache bei der Entscheidung der relativ kleinen Gruppe ist die öffentliche Meinung – der selbst Diktatoren und Autokraten große Aufmerksamkeit schenken. Eine hinreichend großer Teil der Bevölkerung, möglichst die Mehrheit, muss der Auffassung sein, dass es keine andere Lösung gibt als den Krieg, dass es sich um notwendige Verteidigung handelt. Darum muss jeder Krieg propagandistisch vorbereitet werden – oder, wenn man so will, die Bevölkerung muss intensiv über die Bedrohung informiert werden.
Wenn beide Seiten für die „notwendige Verteidigung“ mobilisieren, muss außer Frage stehen, wer die Guten sind, dass der Gegner im Unrecht ist oder gar in seinem ganzen Charakter immer schon böswillig, aggressiv, gewalttätig war. Das war und ist in jedem Krieg so und gilt heute z. B. in der Rede von der „Wertegemeinschaft der freien Welt“, die von der „Achse der Autokraten“ bedroht wird – obwohl auch „wir“ 20 Jahre Krieg im fernen Afghanistan geführt haben, ein Krieg, der bei uns jahrelang offiziell „Stabilisierungsmission“ hieß. Es hieß, wir hätten „am Hindukusch unsere Freiheit verteidigt“ und für Frauenrechte gekämpft.
Egal wie man zum Regime in Russland steht – die Brutalität der russischen Kriege in Tschetschenien, Syrien und Ukraine spricht ihre eigene Sprache, und wer würde schon gern unter Putins Herrschaft leben – abgesehen davon also muss es misstrauisch machen, wenn auf westlicher Seite gesagt wird, der Ukraine-Krieg müsse bis zum „Sieg“ geführt werden, da man es prinzipiell nicht zulassen dürfe, dass Russland sich völkerrechtswidrig fremdes Land aneigne. Wenn dies jedoch der wahre Grund für unsere Unterstützung der Ukraine wäre, würden wir, der „freie Westen“, nicht gleichzeitig das gleiche völkerrechtswidrige Verhalten Israels aktiv unterstützen. Das kann also nicht der wahre Grund sein für unsere Unterstützung der Ukraine.
Erneut heißt es, unsere Freiheit werde verteidigt, diesmal in der Ukraine. Tatsächlich? Wie wahrscheinlich ist es bei unvoreingenommener Betrachtung, dass Russland – es müsste ja zunächst die Ukraine und Polen unterwerfen – Deutschland angreift? Man gewinnt durchaus nicht den Eindruck, in den Talkshows würden unvoreingenommen die Argumente abgewogen, die dafür oder dagegen sprechen, dass Moskau dieses Interesse hat und ob seine wirtschaftlichen und militärischen Fähigkeiten überhaupt ausreichen, um Deutschland, Europa, die NATO anzugreifen. Z. Zt. jedenfalls werden wir ohne wirklich offene Diskussion auf massive Aufrüstung für die „notwendige Verteidigung“ eingeschworen. Das – laut Eigenbezeichnung unabhängige Recherche-Netzwerk – CORRECTIV bezeichnet die Aufrüstung mit Fantastilliarden Euro als „unabdingbar“ und im Spiegel Nr. 11 ist bereits jetzt die Rede von der „aktuellen Bedrohungslage“. Es ließen sich leicht 10.000 sinngemäß ähnliche Verlautbarungen aus Politik und Medien zitieren.
Es heißt, wir müssten aufrüsten, um Russland abzuschrecken, d. h. um einen Krieg zu verhindern. Russlands Militärausgaben werden im Jahr 2024 mit 140 Milliarden US-Dollar angegeben und allein die der europäischen NATO-Länder mit über 400 Milliarden USD. Die Truppenstärken lagen 2023 bei 1,1 Millionen in Russland und 1,89 Millionen in den europäischen NATO-Staaten. Diese verfügten 2023 ohne USA und Kanada über 1772 Kampffugzeuge der 4. und 5. Generation, Russland dagegen über 679 in vergleichbarer Qualität, usw. Sicher, wenn es um Zahlen geht, wird mancher „Ja, aber …“ rufen. Dennoch, wenn die europäischen Armeen sich besser koordinieren, dürfte die Überlegenheit Europas auch ohne zusätzliche fantastische Aufrüstung ausreichen, jedenfalls wenn man nur abschrecken will. Abschreckung beruhte bisher auf dem Wissen beider Seiten, die Gegenseite könne auch nach einem Angriff noch zurückschlagen. Nach Beurteilung selbst westlicher Militärs versetzt die für 2026 geplante neue Stationierung amerikanischer Raketen in Deutschland jedoch den Westen in die Lage, die Frühwarnsysteme Russlands und seine Fähigkeit zum Gegenschlag auszuschalten. Das alles sieht nicht danach aus, als ob die Verhinderung des Krieges das oberste Ziel wäre.
Dürfen wir über die Absichten und Handlungen auf beiden Seiten sprechen? Kann es sein, dass auch Russland sich durch die Aufrüstung im Westen bedroht fühlt? Man wird nachdenklich, wenn in den Medien, die von der Mehrheit der Bevölkerung konsumiert werden, die Bedrohung durch Russland bereits festzustehen scheint – „Ab 2029 ist Russland so weit uns anzugreifen“ – und Zweifler, Fragende geradezu mit Hass als „Putinknechte“ aus dem Diskurs ausgeschlossen werden. Zu viele Widersprüche, zu viele Fragezeichen…
Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung
Wenn sich die politische Elite eines Landes für den Krieg entschieden hat, wird sie zunächst problemlos ihre Berufsarmee in Bewegung setzen können, die in der Regel Befehle befolgt ohne zu fragen. Allerdings kann sich die Zivilbevölkerung nie sicher sein, vom Einsatz an der Front verschont zu bleiben. Wenn die Generäle zu der Einschätzung kommen, ihnen stünden nicht genug Soldaten zur Verfügung, nehmen sich die Entscheider das Recht, die allgemeine Wehrpflicht einzuführen (man denke einen Moment über die beiden Bestandteile dieses Wortes nach). Dann sind alle Bürgerinnen und Bürger unter Androhung von Strafen, die bis zur Hinrichtung gehen können, gezwungen, dem Befehl unbekannter Personen zu folgen und zu töten und zu sterben, ohne gefragt worden zu sein und ohne die Möglichkeit, sich ein eigenes Bild zu machen, ob die Kampfhandlungen „notwendig“ sind oder nicht.
Wenn man eine ausreichende Zahl von Soldaten für den Krieg mobilisieren will, kann das Recht auf Kriegs- bzw. Wehrdienstverweigerung zum Hindernis werden. Seit den 90er Jahren setzt sich in internationaler Rechtsprechung und Vereinbarungen zunehmend durch, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als ein allgemeines Menschenrecht anzuerkennen. So urteilte der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen im April 2024, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung auch nicht in einer Zeit des öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht, beeinträchtigt werden dürfe.
Tatsächlich aber erkennen viele Länder dieses Recht nicht an oder setzen es einfach aus, wie die Ukraine zu einem Zeitpunkt, wo dieses Recht erstmals seine reale Bedeutung erlangt. Natürlich ist auch in Russland dieses Recht bei der Einberufung zur Armee völlig wirkungslos. Man erschrickt, wenn man das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 16.01.2025 zur Kenntnis nimmt. Der BGH entschied nicht nur, ein ukrainischer Kriegsdienstverweigerer dürfe in sein Heimatland abgeschoben werden, da sich dieses in einem Verteidigungskrieg befinde. Der BGH hält es auch nach deutschem Verfassungsrecht nicht für undenkbar, dass Wehrpflichtige in letzter Konsequenz gehindert werden könnten, den Kriegsdienst an der Waffe zu verweigern. Danach würde das Grundgesetz die Rechte der Bürger nur solange schützen bis die politische Elite es sich anders überlegt.
Aber warum sollte man überhaupt einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen müssen, einen Antrag, der irgendjemandem das Recht zubilligt, ein Gewissen zu prüfen und dann den Antrag abzulehnen? Wir billigen dem Staat nicht das Recht zu zu töten und lehnen die Todesstrafe daher aus prinzipiellen Gründen ab. Aus dem gleichen Grund hat kein Staat, keine Regierung das Recht zu entscheiden, dass Bürgerinnen und Bürger sterben und töten müssen.

Jeder Mensch muss jederzeit ohne Antrag, Prüfung und Verfahren entscheiden können, nicht zur Front zu gehen oder sie zu verlassen. Natürlich hätten Generäle in der Praxis dann kaum noch die Möglichkeit, einen Krieg zu planen und zu führen, da sie nicht wüssten, wie viel “Menschenmaterial” ihnen zur Verfügung stünde. Die Praktizierung dieses Rechts ist eine wirksame Maßnahme gegen Kriege, die angeblich eigentlich ja sowieso niemand will – außer man bereitet ihn vor.
Diplomatie und Krieg
Seit Jahrhunderten ist der Goldstandard der Diplomatie, die Interessen der Gegenseite wahrzunehmen und zu verstehen, um sie im eigenen Handeln berücksichtigen zu können. Das gilt grundsätzlich und insbesondere, wenn das Ziel ist, eine bewaffnete Auseinandersetzung zu vermeiden, und der Grundsatz gilt nicht minder, wenn die Gegenseite eine potente Militärmacht ist oder diktatorisch regiert wird. Es scheint jedoch, dass dieses Prinzip in der öffentlichen Diskussion z. Zt. kaum eine Rolle spielt. Weil man selbst zu den Guten zählt und der potentielle Gegner zur „Achse des Bösen“, scheint es überflüssig zu sein, sich ernsthaft mit seinen Interessen zu befassen. Wer es dennoch tut, wird verdächtigt, „auf Putins Lohnliste“ zu stehen und russische Propaganda zu verbreiten. Sicherheitsinteressen haben jedoch alle Staaten, unabhängig davon ob sie diktatorisch regiert werden oder nicht. Die moralische Erregungswelle in den Medien dagegen ist alles andere als zielführend, das gilt für die Diskussion über Putin, Trump oder Orban in gleicher Weise. Natürlich ist unsere Haltung zur „Geißel der Menschheit“, zum Krieg, von Emotionen geprägt, von Angst, Abscheu, Empörung und Zorn, und wir spüren und wissen, dass jeder Krieg im Grunde moralisch nicht zu rechtfertigen ist. Die Diplomatie aber muss Interessen verstehen und analysieren, um rationale Entscheidungen treffen zu können – was einen moralischen Kompass des Diplomaten, der Diplomatin keineswegs ausschließt.
Die heutige öffentliche Debatte erzeugt Misstrauen, wenn es für die Handlungsmotive des Kreml mindestens zwei Möglichkeiten gibt, aber nur eine davon, die der unbedingten aggressiven Absichten, als gesetzt gilt. Und zwar Absichten, die wegen seines Charakters zweifellos immer schon bestanden. Nur diese Sichtweise aber bietet die Rechtfertigung für die „notwendige Verteidigung“, auf die man sich bereits festgelegt hat ohne die Möglichkeiten einer Kriegsvermeidung zu debattieren. Natürlich darf man nie ausschließen, dass Russland wie alle Militärmächte aggressive Absichten haben kann, aber dies allein ist noch keine Diplomatie.
Erinnern wir uns einiger Tatsachen, die in der heutigen Debatte keine Rolle mehr spielen, dem Kreml aber deutliche Signale sendeten. 2002 kündigten die USA den ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen. 2004 ratifizierte nur Russland den ausgehandelten A-KSE-Vertrag zur Begrenzung schwerer konventioneller Waffensysteme in Europa. Als die NATO-Staaten sich ihrerseits weigerten, den Vertrag zu ratifizieren, erklärte auch Russland einige Jahre später, sich nicht mehr daran halten zu wollen. 2019 kündigten die USA das INF-Abkommen über die Vernichtung atomarer Kurz- und Mittelstreckenraketen, 2020 stiegen sie aus dem Open Skies Treaty aus. Dieser Vertrag erlaubte den Vertragsteilnehmern zur militärischen Vertrauensbildung, gegenseitig ihre Territorien zu überfliegen und Lagebilder zu erstellen. Dies alles geschah auf dem Hintergrund, dass die NATO trotz vieler Warnungen Russlands sich bis an die russischen Grenzen ausdehnte, was die Vorwarnzeiten für evtl. Raketenangriffe stark verkürzte. Getrieben von dem Willen, einen Krieg zu verhindern, wird ein Diplomat in Betracht ziehen, dass selbst die durchaus nicht friedliche Großmacht Russland Gründe hat, sich bedroht zu fühlen. Auch die USA duldeten in den 60er Jahren keine russischen Raketen auf Kuba. Das Verständnis für ihre entschlossene Reaktion muss anscheinend durchaus nicht für alle gelten, und zwar weil die USA die Guten sind.

Aufgabe der Diplomatie ist nicht, der neuen Aufrüstungsspirale das Wort zu reden, weil man mit der anderen Seite „sowieso“ nicht verhandeln könne, sondern den sofortigen beiderseitigen Rückzug von Raketen und schweren Waffen von den Grenzen vorzuschlagen, Abrüstungsabkommen wieder in Kraft zu setzen und die Wiederaufnahme des Rechtes jeder Seite auf Überfliegen des anderen Landes, um dessen militärische Entwicklung zu kontrollieren, das Verbot von Atomwaffen anzustreben anstatt die Anschaffung weiterer zu planen, eine europäische Sicherheitsarchitektur mit Garantien und Kontrollen zu entwerfen, die für alle Seiten von Vorteil ist, mit einem Wort, über vertrauensbildende Maßnahmen zu sprechen. Alles das könnte und müsste geschehen, geschieht aber nicht – weil Russland eine aggressive Macht ist, obwohl gleiches für die USA gilt und für andere NATO-Staaten. Man erschrickt, wenn die führenden deutschen Politiker erklären, die Entspannungspolitik der Vergangenheit sei ein Fehler gewesen. Wenn die Vermeidung von Krieg das oberste Ziel ist, ist das Gegenteil richtig! Es läuft auf eine Manipulation der Öffentlichkeit hinaus, wenn absichtsvoll auf einen isolierten Punkt der Entwicklung gezeigt wird und dessen Vorgeschichte unerwähnt bleibt, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen, nämlich der „notwendigen Verteidigung“. Der große Krieg wird auf diese Weise schleichend zur Option erklärt – was er jedoch keinesfalls ist.
Die genannten Fakten sind eigentlich bekannt und überprüfbar. Die herrschende Erzählung, die jeden Tag aus tausend Mündern wiederholt wird, erwähnt bekannte Fakten jedoch in der Regel nicht oder nur sehr selektiv. Die herrschende Erzählung fällt auf fruchtbaren Boden, weil sie verknüpft ist mit einem emotionalen, seit Jahrzehnten fest geprägten Weltbild: Es kann doch nicht sein, dass die USA, ein Leuchtturm innenpolitischer Freiheiten, bei der Verfolgung ihrer außenpolitischen Großmachtinteressen ebenso skrupellos vorgehen wie Russland und jede andere Großmacht. Um gar die Politik eines coolen, charismatischen Barack Obama zu vergleichen mit der des unsympathischen Geheimagenten Putin, müsste man sich von diesem emotional geprägten Weltbild verabschieden und nüchtern nackte Großmachtinteressen betrachten – schwierig! Aufgrund dieses Weltbildes mag es erklärbar sein, dass ein Teil der veröffentlichten Meinungen in den Medien auf einem Auge blind ist. Allerdings ist es angesichts der Fakten schwer vorstellbar, dass die gesamte politische Elite das eigene Gerede glaubt, dass wir, der Westen, tatsächlich die Guten auf der Weltbühne sind und dass „der Russe vor der Tür steht“ (Jens Spahn). Wir können deshalb nicht ausschließen, dass es bei der beispiellosen Aufrüstung der EU auch darum geht, Europa bei der Neuordnung der Welt einen Platz zu sichern als weitere globale militärische Großmacht. Sicher ist aber eins: Sie sind grundsätzlich bereit Krieg zu führen!
Nie wieder Krieg?

Alle „Sicherheitsexperten“ im Radio und Fernsehen erklären, sie seien eigentlich auch für den Frieden, aber leider gebe es nun mal diesen Putin, und deshalb gehe es nicht anders … Das aber bedeutet nichts anderes, als dass die Politiker und ihre medialen Lautsprecher, die nach jedem Krieg ihren Völkern zuriefen: „Nie wieder Krieg“, dies keinesfalls ehrlich gemeint haben können. Denn als sie es riefen, wussten sie bereits, dass es immer rücksichtslose Mächte – die Anderen – geben werde. Sie haben also gemeint: „Nie wieder Krieg – es sei denn, wir müssen uns verteidigen“. Und verteidigen müssen sich immer alle. Wenn wir es also ehrlich meinten mit „Nie wieder Krieg“ müsste ein anderes Prinzip gelten: Wir müssten grundsätzlich und unter allen Umständen anerkennen, dass Krieg keine Option sein kann.
Man gewinnt den Eindruck, dass Politiker offensichtlich und leichtfertig keinen Gedanken daran verschwenden, was Krieg unter heutigen Bedingungen bedeutet. Sie gehen unverzeihliche Risiken ein im Glauben, es werde schon gut gehen. Das aber gilt allenfalls für sie selbst. Wir leben in einem Europa der Chemiefabriken, Atomkraftwerke, Stauseen, einer dichten und verletzlichen Infrastruktur für Strom, Nahrung, Gesundheit, Kommunikation und Fertigungsketten, von der wir alle völlig abhängen. Angesichts der Vernichtungskraft von Waffen, die in der Vergangenheit ohne Beispiel ist, darf deshalb niemand ernsthaft einen Krieg in Europa riskieren wollen! Das gilt für konventionelle Kriege und umso mehr für den Einsatz von chemischen, biologischen und Atomwaffen, mit dem bereits gedroht wird. Der nächste Krieg würde nicht nur besiegeln, dass wir die Menschheitsaufgabe des Kampfes gegen die Klimakatastrophen aufgegeben hätten. Mehr als je zuvor in der Geschichte hätte ein großer Krieg in Europa zur Folge, dass das, was wir zu verteidigen suchten, nicht mehr existieren würde. Millionen Männer, Frauen, Kinder würden ihr Leben lassen, Verletzte, Alte, Kranke könnten nicht mehr versorgt werden, hungernde Überlebende würden traumatisiert durch Ruinenstädte irren und über vergiftete Böden, auf denen nichts mehr angebaut werden könnte.

Wem der Krieg emotional zu weit entfernt ist, sollte sich im Internet die Videos von den ukrainischen Fronten anschauen oder schweigend über einen der vielen Soldaten-Friedhöfe gehen. Alle, die dort liegen, haben einmal einen angeblichen Verteidigungskrieg geführt.
Erst wenn der Grundsatz Krieg ist keine Option! umumstößlich gilt, in der Politik, in den Medien und unter uns, die wir die Kosten des Krieges tragen – und heute bereits für seine Vorbereitung – nur dann wird die Floskel „Nie wieder Krieg“ wahrhaftig, denn nur dieser Grundsatz schließt Krieg auch unter jeglichem Vorwand aus. Für diese Erkenntnis muss man kein Pazifist sein, es ist einfach eine Frage der Vernunft.
Der tatsächliche Verteidigungsfall
Immer wieder verweisen Politikerinnen, Experten, Journalistinnen auf das Beipiel, dass sich die Völker der Welt zu Recht gegen die Nazis verteidigen mussten, dass es keine andere Wahl gab! Damit haben sie durchaus Recht. Womit sie nicht Recht haben, ist der heutige Vergleich mit einer historisch einmaligen Situation. In der Regel greifen Staaten andere an, weil sie sich bedroht fühlen oder einen Konkurrenten um Hegemonie ausschalten oder sich fremdes Land aneignen wollen, um sich an seinen Bodenschätzen und Arbeitskräften zu bereichern.

In der historischen Ausnahme des Hitler-Krieges allerdings ging es noch um etwas entscheidend anderes: Die ideologisch-rassistisch begründete Weltherrschaft der „Herrenmenschen“, die Vernichtung, die physische Auslöschung der Nicht-Arier, der „Untermenschen“, der Behinderten, Schwulen, Asozialen und politisch Andersdenkenden. Wenn eine Militärmacht wie Hitler-Deutschland, mächtig genug um einen Weltkrieg anzuzetteln, Krieg zu diesem Zweck führt, ist gewaltsamer Widerstand unvermeidlich, gerecht, notwendig, vernünftig, moralisch, weil es alles zu verteidigen gälte was uns zu Menschen macht. Obwohl die heutige Lage damit in keiner Hinsicht vergleichbar ist – und dennoch verglichen werden soll – wird jeder Hans und Franz zum neuen Hitler erklärt. Selbst im Weltmaßstab zweit- oder drittrangige Lokalfürsten wie der serbische Kriegstreiber Milošević wurden zum neuen Hitler erklärt, ebenso Leute wie Saddam Hussein, Khomeni, Gaddhafi und manch andere. Heute muss es Putin sein, der das ukrainische Volk „vernichten“ will. So kann man den Krieg erklären zur unvermeidlichen Verteidigung der freien Welt, Verhandlungen sind unmöglich und daher ausgeschlossen. Man erkennt die beabsichtigte Mobilisierung der Völker für Kriege, die man, wie im Falle Hitler, führen muss bis zum Endsieg. Auch wenn die Liste der völkerrechtswidrigen Kriege Russlands, der USA und anderer länger sein mag als die all der neuen Hitlers, ist auch ihre Politik mit der der Nazis in keiner Hinsicht vergleichbar.
Dass die Mobilisierung für den Krieg, der ja immer ein Verteidigungskrieg sein muss, oft so erfolgreich ist, hängt ebenfalls mit dem oben erwähnten, fest gefügten Weltbild vieler Menschen zusammen. Krieg, so heißt es, habe es immer schon gegeben und werde es immer geben. Diese Grundhaltung verführt dazu, sich kein eigenes Bild zu machen von der jeweils konkreten Situation. Es entspricht ja historischer Erfahrung, dass es immer skrupellose Machthaber gab und gibt, derer man sich erwehren muss (wobei es nicht selten die eigenen Herren sind). Da Gegenwehr bisher immer militärischer Natur war, ist es schwer, in einer anderen Kategorie zu denken. Die rationale Beurteilung heutiger Waffen, die keinen historischen Vergleich kennen, und der Folgen ihres Einsatzes im dicht besiedelten, hoch technisierten, arbeitsteiligen Europa, erfordert jedoch eine Abkehr von den scheinbar einleuchtenden historischen Einsichten.
Wenn der Grundsatz Krieg ist keine Option! gelten muss, weil es nach einem großen Krieg in Europa nichts mehr gäbe, was es zu verteidigen gälte, bestünde im tatsächlichen Falle eines Falles dennoch die Möglichkeit sich zu verteidigen – allerdings nicht mit den herkömmlichen militärischen Mitteln. Dies schließt z. B. Abwehrmaßnahmen gegen Cyber-Angriffe nicht aus – wenn man sie nicht selbst gegen andere führt. Die tatsächlichen heutigen Aufrüstungspläne deuten jedoch auf weiter gesteckte Ziele hin.

Die Vernunft zwingt uns zu akzeptieren, dass passiver Widerstand und die Mittel der zivilen Verteidigung heute die bessere, die einzig realistische erscheinende Möglichkeit der Gegenwehr bieten. Das bedeutet u. a., jegliche Zusammenarbeit mit einer Besatzungsmacht zu verweigern und durch Generalstreiks das Land lahmzulegen (zum Konzept der zivilen Verteidigung, das ich hier nicht weiter im Detail darstellen kann, siehe u. a. https://www.sicherheitneudenken.de/sicherheit-neu-denken-unsere-vision/ oder https://querzeit.org/gesellschaft/ueber-verteidigung-die-dem-frieden-dient). Gegen eine Besatzungsmacht passiven Widerstand zu leisten erfordert nicht weniger Mut als an die Front zu gehen, und diese Form des Widerstandes wird ebenfalls Menschenleben kosten, keinesfalls jedoch Millionen Tote und die Zerstörung des Landes. Ziviler Widerstand muss eingeübt werden, und es muss nachdenklich machen, dass die politischen Eliten einzig und allein auf den militärisch geführten Krieg setzen und die Einübung des zivilen Widerstandes nicht einmal als begleitende Kriegsvorbereitung in Erwägung ziehen. Wenn Reservisten wieder zu Wehrübungen einberufen werden, wäre es ebenso möglich und sinnvoller, zivilen Widerstand zu trainieren. Fest steht jedoch: Krieg ist keine Option!
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