Keimzelle Familie
Der populistische Missbrauch eines Begriffs

In der konservativen und nationalistischen Diskussion ist viel die Rede von der Familie als Keimzelle unserer Gesellschaft. Störungen oder gar pathologische Familienkonstellationen werden dabei komplett ausgeblendet. Soll eine Familie zur Keimzelle werden, geht es nicht um das „Wer“, sondern um das „Wie“!

 

Familie mit Autor (Foto Arnold Illhardt)
Familie mit Autor (Foto Arnold Illhardt)

Manchmal stoße ich auf Bücher, die seit ewigen Zeiten im Bücherschrank vor sich hinstauben und dabei aus dem Lesefokus geraten sind. Ein solches Buch ist „Haus ohne Hüter“ von Heinrich Böll, in dem der Autor aus wechselnden Perspektiven das Schicksal zweier Söhne, deren Väter nicht aus dem Krieg zurückgekehrt sind, erzählt. Bei dem Erscheinen des Buches 1954 war so mancher Leser nicht unbedingt „amused“, denn es wollte nicht so recht in die Zeit eines auferstehenden Glitzerdeutschlands passen, in dem man auf Biegen und Brechen versuchte, die Spuren einer Nachkriegsgesellschaft vergessen zu machen. Zudem war es den resozialisierten Altnazis wichtig, die von den Nationalsozialisten angerichteten grauenhaften Verheerungen unter den Teppich zu kehren. Die beiden Protagonistenfamilien in ihren Häusern ohne Hüter (= Väter) schlagen sich irgendwie durch, plötzlich bekommen „Onkels“ eine aufrechterhaltende Funktion und die Fotos der gefallenen Väter vergilben in der Wohnzimmerecke. Aktuell las ich dieses Böll´sche Werk über eine „vaterlose Gesellschaft“ (Ein Begriff von Alexander Mitscherlich) und kam ins Grübeln. Vielleicht auch aufgrund seiner Zeitlosigkeit; der Grundtenor stimmt auch heute noch!

1959 geboren hatte ich wahnsinniges Glück, in einer intakten Familie aufzuwachsen: Vater, Mutter, Geschwister – alles da für die innere Glückseligkeit. Mein Vater war Schuhmachermeister und besserte nach Feierabend das Gehalt durch einen Nebenjob bei einer Versicherungsgesellschaft auf, meine Mutter versorgte zuhause den Haushalt und begleitete mich durch meine komplette Schulzeit hindurch. Die Versuche, mir den westfälischen Katholizismus inklusive Obrigkeitshörigkeit und Selbstdemütigung anzuerziehen, scheiterten zwar kläglich, aber dennoch hinterließen sie viele Spuren, für die ich ihnen noch heute dankbar bin. Auch wenn mir manche positiven Einflüsse erst viel später deutlich und auch wichtig wurden.

Im Gegensatz zu kleineren und größeren sozialen Konstellationen, die mehr oder weniger zufällig oder auch zweckgebunden entstehen, ist die Familie eine private Einheit, die zumeist auf der Kombination Vater-Mutter-Kind(er) aufbaut und für das Kind in der Regel die erste zwischenmenschliche Interaktion darstellt, mit der es konfrontiert wird. Die Familie ist somit eine Art existentielle Grundlage, um den heranwachsenden Menschen auf alle weiteren Beziehungserfahrungen vorzubereiten. „Die Familie ist für das Kind eine ganze Welt aus Menschen und Bedeutungen…Für fast jeden Menschen ist sie sozusagen der heimatliche Hafen, von dem aus er seine lebenslange Reise durch die Gesellschaft antritt. Was ihm an diesem Ausgangspunkt widerfährt, behält prägende Kraft für alle weiteren Phasen seiner Reise.“ (1)

Wichtigster Dreh- und Angelpunkt dieser fundamentalen Mikrowelt sollte eine liebevolle Geborgenheit sein, die dem Kind oder Jugendlichen neben Sicherheit auch andere lebensnotwendige Bedürfnisse vermittelt bzw. auch garantiert. Die Familie wird somit zu einem Lernort für das weitere Leben und ist damit eine „Brücke zur Makrowelt“ (1). Diese wichtige Funktionalität der Familie wurde ausgerechnet von Friedrich Engels als Keimzelle der Gesellschaft bezeichnet, ein biologistischer Ausdruck, der sich neuzeitlich bis ins Bundesverfassungsgericht durchgesetzt hat und von Politikern der unterschiedlichsten Couleur zum Teil bar jeglichen Hintergrundwissens menetekelnd an die Wand gemalt wird, wenn es wahlweise um den Untergang des christlichen Abendlandes oder die kapitalistische Vereinnahmung des Familienlebens geht.

 

Vater und Sohn (Autor) (Foto Arnold Illhardt)
Vater und Sohn (Autor) (Foto Arnold Illhardt)

Der Begriff Keimzelle im Zusammenhang mit Familie suggeriert etwas sehr Beschütztendes, aber auch Schützenswertes. Viele Menschen, die das Glück nicht hatten, von liebevollen Eltern ins Leben begleitet zu werden, sehnen sich nach einer Familie. Leider manchmal auch deswegen, weil es so den Anschein einer Normalität bekommt. Es ist noch gar nicht so lange her, dass auf „uneheliche“ Kinder, die keinen Vater oder keine Mutter hatten, mit dem Finger gezeigt wurde und sogar von vor Gutherzigkeit triefenden Katholiken als – welch´ überzufälliges Missverständnis – „unehrlich“ beschrieben wurden. Auch davon berichtet Böll in seinem anfangs zitierten Buch und ich selbst habe es unzählige Male erlebt, wie früher sowohl alleinerziehende Elternteile, als auch das vater- oder mutterlose Kinder gebrandmarkt und mit Häme überschüttet wurden: „Daraus kann ja nichts werden!“ Doch … kann!

Dem Begriff Familie und seiner gesellschaftlichen Bedeutung obliegt allerdings ein gewaltiger und bis heute kaum revidierter Denkfehler: Man geht von einem homogenen Konstrukt aus, wie Mütter oder Väter jeweils zu sein haben. Beide Elternteile erfüllen typisierte Rollen, haben kollektiv umschriebene Funktionen und führen – egal wie sie sich präsentieren – zu dem identischen „Endprodukt“ glückliches und lebenstüchtiges Kind. Das dies schon vor hunderten Jahren nicht so war, wurde und wird gerne ausgeblendet, da der gesellschaftlich entfremdete Mensch „das-war-immer-schon-so“- Bedingungen, also Kontinuen, und seien es eingebildete, benötigt, um in der Komplexität der Welt nicht komplett in eine existentielle Krise zu geraten.

Ich bleibe mal einen Moment bei den Vätern (auch wenn sich die folgende Auflistung problemlos ebenfalls auf Mütter übertragen lässt) und zitiere aus meinen eigenen Erfahrungen als Kinder- und Jugendpsychotherapeut. Erlebt habe ich neben den vielen liebevollen, treusorgenden und herzlichen Vätern  komplett desinteressierte, cholerische, gewaltausübende, missbrauchende,  abwesende, überfordernde, freiheitsberaubende, überlastete, ungerechte oder auf ein Grundfunktionieren ausgerichtete Männer. Man muss schon sehr naiv sein zu denken, dass es gleichgültig für die Entwicklung eines Kindes ist, wie das Mit- oder auch Nebeneinander von Vätern und Müttern gestrickt ist. In meinen über 20 Berufsjahren kann ich beispielsweise die Häufigkeit von desinteressierten, abwesenden oder gewaltausübenden Vätern oder auch Müttern nicht mehr zählen. Nur nebenbei: Von glücklichen und lebenstüchtigen Kindern war keine Spur; es waren eher leidende, psychisch hochauffällige oder schwer traumatisierte Kinder. Die Familie als Keimzelle ist in diesen Fällen kläglich misslungen.

 

Familie 1961 (Foto Arnold Illhardt)
Familie 1961 (Foto Arnold Illhardt)

In meiner jahrzehntelangen psychotherapeutischen Erfahrung in der Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen tauche ich zusammen mit den Betroffenen sehr tief in die unterschiedlichen Familiendynamiken ein. Dabei spiegeln die verschiedenen Konstellationen ein realistisches Bild der heutigen Familienstrukturen in der Gesamtgesellschaft wieder. Neben den klassischen Familienkonstellationen gibt es Kinder, die bei den Großeltern aufwachsen, von (komplett) alleinerziehenden Elternteilen (überwiegend Mütter!) betreut werden, die in Patchwork-Familien leben oder von gleichgeschlechtlichen Elternteilen großgezogen werden. DIE klassische Familie, was immer das sein soll, hat sich überlebt. In seinem Buch „Risikogesellschaft“ beschreibt der Soziologe Ulrich Beck schon vor 40 Jahren, wie die „„Zentrifugalkräfte der Moderne“ …den Menschen aus einem „engen Lebenskorsett in eine unglaubliche Vielfältigkeit“ katapultieren.

Meinen Beobachtungen nach hat eine vermeintliche Keimzellenfunktion einer Familie nichts damit zu tun, ob ein Vater und eine Mutter existiert, sondern dass es sich dabei um Personen handelt, die sich mit Liebe, Wertschätzung und Menschlichkeit den ihnen anempfohlenen Kindern oder Jugendlichen widmen. Nicht das „Wer“ spielt in der Begleitung der Kinder eine Rolle, sondern das „Wie“! Und das – so meine Erfahrung – kann von homosexuellen Eltern ebenso fürsorglich erfolgen wie von der klassischen Elterndyade Mann und Frau. Ein mir bekanntes lesbisches Paar hatte sich willentlich dafür entschieden, ein schwer behindertes Kind zu adoptieren. Die Liebe und Geduld, mit der die beiden Mütter das Kind umsorgen, würde ich mir bei so mancher „klassischen“ Familie nur ansatzweise wünschen.

Eine Familienkonstellation, in der pathologische Strukturen herrschen wie z.B. Gewalt, ständiger Streit, Ungleichgewicht zwischen Elternteilen, Vernachlässigung, Ausübung von psychischem Druck etc., führt auf Dauer zu einer dramatischen psychischen Situation bei den Kindern. Zu nennen sind Reaktionen wie Depression, selbstverletzendes Verhalten, aggressives Verhalten, Essstörungen, Weglaufen oder gar suizidale Tendenzen. Statt einer Keimzellenexistenz wird hier ein Wachstum des Kindes im Keim erstickt. Dass daraus häufig auch rechtsgerichtete, homophobe oder ausländerfeindliche Persönlichkeiten entstehen, ist innerhalb dieser Keimzellendiskussion eine überdenkenswerte Erscheinung!

 

Vater und Sohn (Autor) (Foto Arnold Illhardt)
Vater und Sohn (Autor) (Foto Arnold Illhardt)

Von (rechts-)konservativen, erzkatholischen und nationalistisch gesinnten Parteien und Institutionen wird das Bild der klassischen Vater-Mutter-Kind-Konstellation hofiert und als einzige Alternative propagiert. So findet sich auf der Homepage der AfD (Partei: Alternative für Deutschland) z.B. die Aussage, dass die momentanen Familienverhältnisse zu einer „Schrumpfung unserer angestammten Bevölkerung“ und damit zur „Selbstabschaffung“ der deutschen Nation führen. Wohl überzufällig besteht einer Denkverwandtschaft zu Adolf Hitler, der die Wichtigkeit der Familie in der „Erhaltung dieses Volkes in den einzelnen Zellen“ sah. „Kinder brauchen Vater und Mutter: Allein erziehen ist kein Idealfall“, so der Duktus der Partei. Zugleich spricht sich die AfD „gegen jede finanzielle Unterstützung von Organisationen, die „Einelternfamilien“ als normalen, fortschrittlichen oder gar erstrebenswerten Lebensentwurf propagieren“, aus. Der Neonazi Björn Höcke skandierte im Sommer 2014: „Jeder weiteren Auflösung dieser Keimzelle unseres Volkes treten wir energisch entgegen.“ Weiter wird von den radikalen Wertewächtern gegen einen vermeintlichen gesellschaftlichen Trend gewettert, in dem sich Menschen gegen eine Familienbildung entscheiden. Was kommt danach? Das Mutterkreuz? Als Mann, der ungewollt kinderlos ist, frage ich mich natürlich, ob ich in den Augen der AfD-Gestapo bereits ein Staatsfeind bin oder ob die populistischen Familienschützer bei mir ein Auge zudrücken?

Mal abgesehen davon, dass sich jedes Land immer schon aus Mischverhältnissen unterschiedlicher Kulturen zusammengesetzt hat und Einelternfamilien, aber auch kinderlose Familien nicht von vornherein als solche geplant sind, wird diese Einstellung auf der üblichen Populismusschiene gefahren, denn die eindimensionale Denkweise des überwiegenden Teiles der (national)konservativen Personen hegt den Wunschtraum einer intakten Familie als Keimzelle der Gesellschaft. Doch dieser Wunschtraum ist einer der denkinsuffizienten Filterblasen dieser politischen und gesellschaftlichen Richtung. Da Menschen, die Nationalismus, Konservatismus oder Autoritarismus präferieren, überdurchschnittlich oft Männer sind, verwundert es nicht weiter, dass dem klassischen Familiensystem derart viel Bedeutung beigemessen wird; auch die ehemals der Frau übergeordnete Rolle des Mannes ist ins Wanken gekommen, wenn nicht gar im Sinne einer Gleichberechtigung (die ebenfalls von rechtskonservativen Kräften vehement abgelehnt wird) abgeschafft worden. Vatersein ist für viele Männer die letzte Bastion, um Stärke, Macht und Autorität zu zeigen, was sie leider auch in drastischer Weise umsetzen. Doch genau auf diese Interaktionsfaktoren kommt es überhaupt nicht an.

Das Vorhandensein von Vater und Mutter stellt nicht automatisch eine Keimzelle dar. Unbedingt notwendig für eine förderliche, kindgemäße Entwicklung sind Aspekte wie Liebe, Zuwendung und eine wohlwollende, ressourcenorientierte Lebensbegleitung. Dies kann von einer alleinerziehenden Person oder zwei gleichgeschlechtlichen Elternteilen in gleicher Weise gelebt werden als von einem Vater-Mutter-System. Das Idealisieren der klassischen Familie als Keimzelle ohne Berücksichtigung ihrer Schwachstellen und Fehlschläge ist ein dummes Vorgehen und zudem ein „Arschtritt“ gegen all die zum Teil aufopfernden Bemühungen von Alleinerziehenden oder homosexuellen Erziehungsberechtigten.

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  1. Peter L. Berger/Brigitte Berger: Individuum & Co. Soziologie beginnt beim Nachbarn. Dva 74