Zeit in einer atemlosen Zeit
Zeit - was ist das eigentlich?

„Wenn mich niemand fragt, weiß ich es genau,“ sagte Augustinus auf die Frage, was Zeit eigentlich ist. Ist Zeit Geld? Ist sie rund oder linear? Wie verhält es sich mit Zeit und Raum?  War die Zeit früher anders? Warum bleibt sie manchmal stehen und dann rennt sie wieder? Daniela Kaminski begab sich auf Spurensuche.

 

„Damals war das Ministerium des Großvaters längst in anderen Händen und der Großvater tagelang mit Wichtigtuereien unterwegs, ein Graukopf, der jeden Samstag seine Uhren aufzog und dieses Ritual als Kunststück vorführte, dem die Enkel beiwohnen durften. Grad so, als sei es in der Macht des alten Mannes gestanden, der Zeit beim Rinnen behilflich zu sein oder sie daran zu hindern.“ Arno Geiger: Es geht uns gut.

 

Wenn die Zeit rund wäre... (Foto: Daniela Kaminski)
Wenn die Zeit rund wäre… (Foto: Daniela Kaminski)Wenn die Zeit rund wäre…

Am Anfang war der Kreis

Wenn die Zeit rund wäre…

Der Kreis war das Symbol für alles Göttliche. Alles war in Kreisen angelegt und kehrte immer wieder: die Sternenbilder, die Jahreszeiten, in vielen Religionen auch die Seelen der Wesen, also auch die der Menschen. Die Menschen richteten sich nach der Sonne und so schaute zunächst von den runden! Uhren der Kirchtürme in jedem Ort eine andere Zeitinfomation herunter, die den Menschen eine grobe Orientierung, z.B. zur Vesper oder zur Messe gab. Als die Zeit dann hinabstieg und sich an unsere Handgelenke hängte, bewahrte sie zunächst ihr zyklischen Denken und ihren göttlichen Bezug: alle 12 Stunden begann sie erneut ihren Weg um das Ziffernblatt. Die industrialisierte Gesellschaft dachte die Zeit mehr linear und so entspricht die digitale Zeitansage nicht nur der modernen Technik, sondern auch dem modernen Denken.

 

Ein Liter Ewigkeit und für 100 Euro Minuten

Sekunden, Minuten, Stunden, Tage sind Maßeinheiten. Sie sagen nichts über den Inhalt aus. Ein Tag kann eine Perle sein, und ein Jahrhundert nichts,“ schrieb Keller in einem seiner schönsten Gedichte. Ein Tag ist erst einmal leer. Es macht unser Leben aus, ihn zu füllen. Zeit erleben wir im Erleben von Veränderung. Zeit können wir sparen, vergeuden, verschlafen, verplempern, investieren, managen. Zeit ist aus kosmischer Sicht unbegrenztes Gut, das wir investieren können wie Wasser, Luft und Erde, von der die Volkswirtschaften auch sehr lange meinten, die Schöpfung stellt sie uns unbegrenzt zur Verfügung. Vorwiegend nutzen wir sie zur Mehrung unseres Reichtums. Auch Euro, Dollar oder Yen sind Maßeinheiten, die erst einen Sinn erhalten, wen ich sie in Relation zu ihrem Tauschwert setze: Essen, Trinken, Kleidung, Wohnung, Sicherheit kann ich dafür bekommen. Spätestens in inflationären Zeiten wird deutlich, dass allein der „Gegenwert“ zählt.

Ist Zeit Geld?

 

Ist Zeit Geld? (Foto: Daniela Kaminski)
Ist Zeit Geld? (Foto: Daniela Kaminski)

0 mal 0 macht 0

Wir setzen also zwei an sich leere Mengen miteinander in Relation – Zeit ist Geld – und definieren dies als Basis unseres Zusammenlebens, unserer Wirtschaft, unserer sozialen Beziehungen. Kann das gut gehen? Nach dem missverständlich interpretierten Gottesauftrag „Macht euch die Erde untertan“ sind wir jetzt da, wo wir bekanntlich sind: mitten in der Klimakatastrophe, am Ende so mancher Ressource wie Öl, reinem Wassers, sauberer Luft. Meinte der Herr – oder war es die Göttin? – doch anderes: Lernt sie zu verstehen und mit ihr zu leben, dann wird sie euch reich beschenken. So etwas braucht – Zeit.

 

Die Tempi der Zeit

Zeit vergeht am langsamsten, wenn wir uns ausschließlich mit ihr beschäftigen, bspw. beim Warten auf etwas. Während sie im Verlauf des Ausharrens vor sich hin zu tröpfeln scheint, wirkt sie im Rückblick kurz, denn es gibt keine Ereignisse, die sie nachträglich füllen. Sitzen wir an einem interessanten Projekt, vergeht die Zeit wie im Flug, im Rückblick erscheint sie unendlich lang wie ein wunderbar gefüllter Urlaub mit vielen Eindrücken und Begegnungen. Derselbe Zeitraum kann also als lang oder kurz empfunden werden. „Wenn ein Mensch stirbt oder ein Kind geboren wird, bleibt erst einmal die Zeit stehen,“ sagte ein kluger Freund von mir. Intensität des Erlebnisses macht aus dem „Nu“ einen Augenblick.

 

Vergeht alles oder kommt alles wieder? (Foto: Daniela Kaminski)
Vergeht alles oder kommt alles wieder? (Foto: Daniela Kaminski)

Zwischen Augenblick und Ewigkeit

Die Menschen vergangener Jahrhunderte hatten ein wesentlich kürzeres irdisches Leben als wir. Dennoch erschien es ihnen länger, denn es wurde entgrenzt durch die Perspektive des Jenseits, einem Leben in Ewigkeit. Zugleich war der Alltag nicht bestimmt vom „Multitasking“ des zeitgleichen Telefonierens, die Suppe umrühren, eine Kindernase putzen, einen Antrag unterschreiben, eine Mail lesen und mit Fußrollen den Körper für diese Mehrfachbelastung zu trimmen. Der Bauer pflügte mit seinem Pferd ohne Kopfhörer im Ohr, er sang wenn überhaupt selber oder hing seinen Gedanken nach, bzw. lenkte seinen Ackergaul. Aufgabe genug. Ein in Meditation erfahrener Mann wurde einmal gefragt, warum er trotz seiner vielen Beschäftigungen immer so gesammelt sein könnte. Er sagte: Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich spreche, dann spreche ich. Da fielen ihm die Fragesteller ins Wort und sagten: Das tun wir auch, aber was machst du noch darüber hinaus? Er sagte wiederum: Wenn ich stehe, dann stehe ich. Wenn ich gehe, dann gehe ich. Wenn ich sitze, dann sitze ich. Wenn ich esse, dann esse ich. Wenn ich spreche, dann spreche ich. Wieder sagten die Leute: Das tun wir doch auch. Er aber sagte zu ihnen: Nein, wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon; wenn ihr steht, dann lauft ihr schon; wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel. (Ein ZEN-Mönch aus: ZEIT. Ein Geheimnis wird hinterfragt.)

 

Der Gleichzeitigkeitswahn

Ganz entspannt im Hier und Jetzt – der erfolgreiche Buchtitel macht das Dilemma unserer Zeit und seine Sehnsüchte deutlich. Im Augenblick zu leben, ihn zu erleben, wird immer schwieriger. Da uns die Perspektive der Ewigkeit verloren gegangen ist, sind wir gezwungen, sämtliche Anforderungen an Leben in diesen kurzen begrenzten Zeitraum der Erdengegenwart zu pressen. Moderne Technik und weltweite Kommunikation führen uns die unterschiedlichsten Möglichkeiten vor Augen. Daraus eine Auswahl zu treffen, wird immer schwerer, das fängt schon beim abendlichen Fernsehprogramm an. Also zappen wir uns durchs Leben: mehrere Parties an einem Abend, diverse Projekte gleichzeitig auf dem Tisch, mehrere Fernseher in der Familie mit fünf Informationen zeitgleich auf dem Bildschirm gehören zum Standard.

 

Industriedesign (Foto: Daniela Kaminski)
Industriedesign (Foto: Daniela Kaminski)

Von der Ortszeit zur Weltzeit

Dabei war man bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch Herr oder Frau seiner Zeit. Jeder Ort gestattete sich seinen eigenen Kirchturm mit seiner eigenen Uhr, wie die Situation rund um den Bodensee zeigt: War es in Bregenz 12 Uhr, so in Lindau 10 Minuten vor 12, in Friedrichshafen 20 vor, in Konstanz erst fünf nach halb zwölf und in Romanshorn zwei Minuten nach halb. Quelle: (das Tempo-Virus S. 128’) Bereits im Jahr 1876 schlägt der kanadische Eisenbahn-Ingenieur Sandford Fleming vor, die Welt in 24 Zeitzonen aufzuteilen, doch erst 1884 bestimmt die Internationale Längekonferenz in Washington den Längengrad des Royal Observatory in Greenwich zum Nullmeridian. Erst nach und nach folgten Gesellschaften oder Länder dieser Zeiteinteilung. Die Einteilung der Tagesstunden in 24 Einheiten erfolgte nach dem ersten Weltkrieg.

Es gibt Kulturen, deren Sprache kennt keinen Begriff für Zeit. Es gibt auch keine Verbformen, die Zukunft oder Vergangenheit ausdrücken. Alles trifft sich in der Gegenwart, denn die Vergangenheit hat sie bestimmt und die Zukunft ist in ihr angelegt.

Auch bei uns bauten früher mehrere Generationen ein Projekt wie den Kölner Dom (1248-1880), übernahmen Pläne und gaben Unvollendetes weiter. Unfertige Dinge, ungelöste Fragen hält der moderne Mensch nicht aus. Zur Not macht er sich vor, die Lösungen zu kennen und alles im Griff zu haben. Wir produzieren und verbrauchen Produkte, deren negative Konsequenzen wir den folgenden Generationen überlassen. Dramatisches Beispiel Plutonium mit einer Halbwertzeit von 24.000 Jahren. Damit haben sich die Menschen ihre neue Form der Ewigkeit selbst geschaffen.

Was als kluge Erfindung zu beginnen scheint, gleicht in den Auswirkungen Schillers Zauberlehrling: Die Geister, die er rief, wird er nicht wieder los.

Die Wissensgesellschaft hat den Überblick verloren.

 

Der Weg ist das Ziel - das Ziel ist der Weg. (Foto: Daniela Kaminski)
Der Weg ist das Ziel – das Ziel ist der Weg. (Foto: Daniela Kaminski)

Vom Produktlebenszyklus zu Produktlebenslinie

Nie gab es so viel Wissen wie heute, wird behauptet. Oder meinen sie: Nie gab es so viel Daten, Fakten und Informationen wie heute? Parallel geht unendlich viel Wissen in kürzester Zeit verloren: Sprachen von Ureinwohnern, Dialekte, alte Handwerkskunst. Dank des Bio-Booms wurde landwirtschaftliche und ökologisches Wissen im letzen Moment gerettet. Dank der Esoterikwelle konnten auch Wünschelrutengänger und Wetterkundige ihr Wissen wieder einbringen und dank der Skandale in der modernen Medizin erlebten Heilpraktiker, Homöopathen und chinesische Mediziner einen derartigen Zulauf, dass sogar die Krankenkassen sich für ihre Erfolge interessieren.

Wissen setzt die Auseinandersetzung, das Verstehen struktureller Zusammenhänge voraus. Für Know-How reicht Cleverness und Kurzlebigkeit. Auch hier schlägt die Linie den Kreis: Produktlebenslinie. Die Schnelllebigkeit unserer Produkte hat nicht ihre Qualität, ihre Langlebigkeit und Nachhaltigkeit erhöht. Dauerten früher Erfindungen Jahrhunderte, zumindestens Jahrzehnte, heizen unsere Märkte die Entwicklung und Vermarktung auf Spitzengeschwindigkeiten an. Modekollektionen gab es noch vor 20 Jahren zweimal jährlich, mittlerweile erscheinen alle 2 Monate neue „Fummel“ an den Kleiderstangen und schreien „Kauft!“ Der VW-Käfer rollte und rollte, neue Automodelle ähneln sich wie ein Ei dem anderen, boomen kurz oder floppen gleich und verschwinden. „Es gibt sie noch, die guten Dinge“, behauptet die Firma Manufaktum mit Recht und setzt auf bewährtes Design, Qualität und Haltbarkeit, und sie werden wieder entdeckt.

Die Entwicklung wichtiger Erfindungen dauerte früher 1000 Jahre, heute ein paar Jahre oder Monate.

 

Wald (Foto:Daniela Kaminski)
Wald (Foto:Daniela Kaminski)

Vor Christus: 6000 – hölzernes Wagenrad; 4000 – hölzerner Pflug; 3000 – Papyrus; 2000 – Bewässerungskanäle

nach Christus: 105 – Papier; 700 – Porzellan; 1000 – Windmühle; 1269 – Kompass; 13. Jhd. – Brille; 1445 – Buchdruck; 1500 – Taschenuhr; 1590 – Mikroskop; 1735 – Gussstahl; 1765 – Dampfmaschine; 1785 – mechanischer Webstuhl; 1825 – mechanischer Webstuhl; 1825 – Elektromagnet; 1837 – Telegraf; 1839 – Fotografie; 1853 – Fahrrad mit Tretkurbel; 1854 – elektrische Glühbirne; 1868 – Dynamit; 1895 – Kino;

20. Jahrhundert: Zeppelin – 1900; Motorflug – 1903; Fließband – 1913; Rundfunk in Deutschland – 1923; Fernsehen – 1932; Elektronenmikroskop – 1933; Nylonfaser – 1938; Radargeräte – 1943; Atombombe – 1945; Computer – 1946;

Aus: ZEIT: Ein Geheimnis wird hinterfragt. Seite 91f.

Der Mensch kann mit der Rasanz der Erfindungen nicht Schritt halten. Die zeitliche Begrenztheit aber lässt ihn ungeduldig werden. Generationenprojekte sind nicht mehr vorgesehen. Die Nutzung von Atomenergie, Gentechnik, die Ausbeutung von Ressourcen ohne Blick auf kommende Generationen, sind die Folgen des modernen Zeitbegriffs einer begrenzten Existenz, die alle Potentiale – intellektuelle, sexuelle, soziale – in dieser kurzen Zeit ausschöpfen muss. Bis zu Erschöpfung.