So lange der Mensch sich als denkendes Wesen begreift, gibt es Ansätze, das Miteinander durch ein allgemeingültiges Ordnungssystem zu regeln: Gesetze, Gebote oder gar gesunder Menschenverstand. Doch nichts will greifen. Was nun?
Der gesunde Menschenverstand und die 10 Gebote
Ein Gedanke, der mich sehr oft beschäftigt, ist die Frage, ob es nicht eine Art allgemeingültiges Ordnungssystem gibt, auf das sich alle Menschen aus ganzem Herzen einigen könnten. Also eben auch Menschen, bei denen man so etwas wie ein Herz leidlich vermisst. Man sollte ja – und nun kommt der gesunde Menschenverstand ins Spiel – meinen, dass eine solche verbindliche Aussage sein könnte: Das Töten eines Menschen ist bestialisch und daher ein absolutes Tabu. Man besinne sich, dass es doch für ein denkendes und gar weises Wesen („homo sapiens“), wie sich der Mensch gerne in seiner unfassbaren Überheblichkeit sieht, eine intellektuelle Schlappe erster Güte ist, sich gegenseitig niederzumetzeln. Sogar als libertär denkender Mensch, der von Gesetzen, Verordnungen und Reglementierungen wenig bis gar nichts hält, könnte ich mich mit diesem Satz gut anfreunden und habe ihn längst verinnerlicht.
Doch hier kommen die ersten Bedenken ins Spiel: Alles Ermessenssache, sagt der General; wenn der Staat XY Deutschland bedroht, werden wir als militärische Einheit reagieren und natürlich auch Soldaten der gegnerischen Seite töten. Man nennt das Verteidigung und der menschliche Gedanke des Nicht-Tötens ist hier außer Kraft gesetzt. Und obschon es sich um eine vorsätzliche Tötung handelt, darf man es auch nicht Ermordung nennen. Als ich in grauen Vorzeiten meinen Kriegsdienst, den man aber zur Verschönerung Wehrdienst nannte, verweigerte, musste ich mir übrigens auch von weihrauchbeduselten Katholiken den Vorwurf anhören, ich sei ein Vaterlandsverräter. Aber, gab ich zu bedenken, heißt das fünfte der zehn Gebote nicht: Du sollst nicht töten! Zur Verdeutlichung: Diese zehn Gebote werden als Richtmaß für unsere irdische Existenz und den Tod hinaus gesehen. Alles Ermessenssache, stellte ich fest: auch die zehn Gebote sind letztendlich keine sattelfeste Instanz. Schon gar nicht in einem durch und durch verwässerten Christentum! Kein Wunder also, dass katholische Priester hier und da schon mal Panzer segnen!
Philosophische und politische Hintertreppen
Schaut man bei den Philosophen vorbei, so begegnet man natürlich alsbald dem kategorischen Imperativ (was ja an sich schon ein Murksbegriff ist, da Imperative immer blöd sind) von Immanuel Kant, der von anderen Denkern x-mal umformuliert und strapaziert wurde: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Nachdem wir den Tötungs- bzw. Ermordungsvorgang schon mal ausgeklammert haben, kommt man gedanklich ziemlich in die Bredouille, denn – wenn schon das Umbringen von Menschen Ermessenssache ist – wie soll das mit dem Rest klappen? Also z.B. wenigstens die Würde des Menschen zu achten, sich nicht auf Kosten anderer zu bereichern oder die Umwelt zu schützen! Wir erleben zur Zeit (und nicht erst heute), dass selbst führende Persönlichkeiten, von denen man ja – ich weiß, dass es Quatsch ist – Redlichkeit erwarten sollte, sich nicht an Wahrheiten halten, ja sogar allgemein anerkannt falsche Aussagen tätigen, um sich ins rechte oder wahlweise linke Licht zu rücken. So schreibt die FAZ (12.5.2018) im Untertitel eines Artikels über den leider immer noch amtierenden amerikanischen Präsidenten: „Donald Trump wurde gerade deshalb zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt, weil er notorisch Unwahrheiten verbreitet. Sein Erfolg scheint darauf zu beruhen, dass seine Unterstützer ihn ernst, aber nicht wörtlich nehmen.“ Wie kann man eine Person ernst nehmen, der notorisch lügt? Die AfD, die bekannt für ihre Lügen- bzw. Falschbotschaften ist, hat zumindest kein Problem damit, denn Gauland pries Trump jüngst noch als großen Politiker. Auch das dürfte nicht weiter verwundern, liegt der Menschenverächterfaktor bei beiden Personen ähnlich hoch.
Hilft nur noch: Juristerei
Irgendwie kommt man nicht weiter. Es müsste doch ein System geben, dass eine breite gesellschaftliche Anerkennung genießt und jeden Menschen einschließt (die zehn Gebote gelten ja nur für Christen und hier offenbar nur für einige und das nur manchmal!). Es gibt ja in diesem unserem Lande haufenweise Menschen, die immer nach Recht und Ordnung rufen, da sie offenbar nur in einem Zustand der Reglementierung existieren können. (Es sind übrigens die gleichen, die jammern, wenn sie der Arm des Gesetzes selbst erwischt und dann von hanebüchener Ungerechtigkeit reden!). Dieser Ansatz führt einen stehenden Fuß in die Jurisprudenz, sozusagen in die letzte Bastion, auf die man sich vermeintlich verlassen kann! Kann man das tatsächlich? Anwälte schwören den großen Eid der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte gemäß § 12 a Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) und gebrauchen dabei die großen Worte: „Ich schwöre bei Gott, dem Allmächtigen und Allwissenden, die verfassungsmäßige Ordnung zu wahren und die Pflichten eines Rechtsanwaltes gewissenhaft zu erfüllen, so wahr mir Gott helfe.“
Geht doch, denkt man, doch dann bekommt man Post von einem windigen Vogel aus einer Abmahnkanzlei, seines Zeichens promovierter Jurist, der Kohle für eine Abzockfirma im Internet eintreiben möchte, die ganz klar gesetzfreie Machenschaften betreibt. Geld scheint dicker als Gesetz zu sein. Ich melde das der von dem Anwalt zitierten Anwaltskammer in Berlin, die sich zwar distanziert, aber weiter nicht zuständig fühlt. Auf meine Frage, warum solche Analogjuristen sich noch Anwalt nennen dürfen, erhalte ich von der Kammer leider keine Antwort. Offensichtlich alles Ermessenssache. Und so wundert es auch nicht weiter, dass schlaue Anwälte Trumps ihren Mandanten schützen, obschon es sich bei seinen Aktivitäten fast ausnahmslos um Lug und Betrug handelt. Da nutzt auch eine Robe zum Aufputzen der Rechtlichkeit nicht viel; für Geld wird auch die gerne mal mit Unredlichkeit besudelt. Als juristischer Laie scheinen mir die Gesetze eher aus einer Aneinanderreihung von Gummiparagraphen mit Ausnahmestatuten, So-als-ob-Richtlinien und hohem Lückenpotential zu bestehen.
Endlich: Das Grundgesetz
Apropos Gesetze! Bis vor kurzem hatte ich noch eine Ausgabe unseres Grundgesetzes im Bücherschrank stehen. Ich habe das schlanke Büchlein zum Altpapier getan. Sicherlich, schon der erste Artikel ist super: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Und weiter geht’s mit: „Das deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Da freut sich das gutmenschliche Herz, doch schaut man sich die verbalen Exkremente der rechtspatriotischen Schreihälse und Nachplapperer an – dabei sei zu betonen, dass diese Tendenzen in den konservativen Parteien inzwischen ebenfalls zur effekthascherischen Grundausstattung gehören – muss man wohl von einer Verwitterung des Grundgesetzes sprechen. Eine unantastbare Würde gilt offenbar nur für die eigene Mischpoke; Einwanderer und Flüchtlinge sind selbstredend ausgeschlossen. Da fällt mir ein, steht nicht im Grundgesetz: „Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer öffentlich oder in einer Versammlung den öffentlichen Frieden in einer die Würde der Opfer verletzenden Weise dadurch stört, dass er die nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“? Warum läuft eigentlich Gauland nach seiner Fliegenschiss-Formulierung noch frei rum? Und warum können Hunderte von Pegida-Anhänger auf der Kundgebung in Dresden skandieren, die Flüchtlinge sollten absaufen? Ist das kein Rechtsverstoß gegen die Menschenwürde? Ach, das ist Ermessenssache? Ich vergaß!
Letzte Instanz: Pippi Langstrumpf
Was bleibt dann noch? Ich selbst halte es ja mit Pippi Langstrumpf, der kleinen Anarchistin: „widdewiddewitt und drei macht neune … Ich mach‘ mir die Welt – widdewidde wie sie mir gefällt …“ Als bekennender linksgrünversiffter Gutmensch habe ich mir mit den Jahren so eine eigene Maxime zurechtgelegt, die bisher ganz gut funktioniert hat, aber – ich gestehe – mir nicht immer ganz leicht gefallen ist: Ich bin für bedingungslose Menschenrechte, für die Gleichheit von Mann und Frau und ein gelebtes Leben unabhängig von Religion, sexueller Neigung oder Herkunft. Ich bin für eine Vielfalt der Kultur, für Meinungsfreiheit und ein buntes Deutschland mit einer wohlwollenden Willkommenskultur. Ich lehne Gewalt, eindimensionale Autorität und Machtstrukturen ab; ebenso verurteile ich Lobbyismus, kapitalistische Strukturen und ein nicht am Menschen orientiertes Parteiensystem. Ich fordere zudem uneingeschränkten Tier- und Klimaschutz in allen Bereichen, sowie ein Verzicht auf natur- und klimagefährdende Energietechnologien. Früher nannte man das christlich, kritisch oder allenfalls links; heute ist das linksextrem! Bevor man mir hier bestimmte Parteizugehörigkeiten andichtet: Ich brauche keine Partei!
Jahrzehntelang dachte ich, dies sei eine gute, am Menschen orientierte Einstellung. Doch die rechte Bewegung in Europa zeigt: Genau das Gegenteil ist en vogue. Vor lauter Angst vor der Eigenverantwortlichkeit schreien die eindimensional denkenden Anhänger einer regressiven Antifreiheits- und Selbstdenkkultur genau das Gegenteil. Mein Ansatz taugt somit als Grundlage für ein menschliches Miteinander nicht die Bohne, denn Meinungen haben immer Pole. Und welches davon der humanere oder gar richtige ist, bleibt ungewiss! Eben: Ermessenssache!
Vermutlich ist diese Erkenntnis für viele schlichtweg niederschmetternd und frustrierend! Dachte man, der hart erkämpfte Weg für eine offene Gesellschaft sei eine okaye Sache, so wird man spätestens beim Blick in eine hass- und gewalttriefendes Internetforum der Rechtsnationalen eines Besseren belehrt. Man hat das Gefühl, in eine Selbsthilfegruppe für Patienten mit schweren sozialen Störungen geraten zu sein. Ist eine allgemein gültige Agenda für das Zwischenmenschliche vielleicht abhängig von der Psychodynamik des Einzelnen? Hat dies möglicherweise etwas mit den individuellen Konstruktsystemen der Menschen zu tun, wobei Konstrukte als innere Landkarten umschreibbar sind?
Letzter Versuch: Das Manifest der Konvivialisten
Nun haben ja Kant, die katholische Kirche, die deutsche Anwaltskammer und meine Wenigkeit eines gemeinsam: Wir können offenbar nicht für eine Allgemeinheit sprechen! Denn was interessieren den rechtsdrehenden Nationalfetischisten die zehn Gebote, wenn er doch lieber seinen ganzen Lebensfrust mittels menschenverachtender Hasskommentare raushauen darf. Es müsste also eine Art Manifest geben, an dem möglichst viele und unterschiedliche Menschen, die sich mit dem Zusammen der Menschen eingehend auseinandergesetzt haben, mitgearbeitet haben und das Ergebnis nicht nur einen Kompromiss (= Mittelweg), sondern Konsens (= höchstmögliches Einvernehmen aller Beteiligter) darstellt. Unmöglich? 2010 schlossen sich französischsprachige Wissenschaftler zusammen und erstellten das Konvivialistische Manifest („Manifeste Convivialiste“), was später von Frank Adloff und Claus Leggewie in den deutschsprachigen Raum übertragen wurde.
Die beteiligten Autoren aus den unterschiedlichsten Bereichen versuchten eine Einigung darüber zu treffen, wie sich „globalen Probleme des Klimawandels, der Armut, der sozialen Ungleichheit oder der Finanzkrise…“ lösen lassen. Ihr Vorschlag: Durch eine neue Kunst, miteinander zu leben (con-vivere). Eine solche Idee ist geradezu bezaubernd, denn es existieren ja bereits viele Ansätze, Menschen zusammenzuführen und eine offene, gerechte und gleichberechtigte Gesellschaft der Vielfalt zu schaffen. Doch die Faszination über einen solchen Ansatz schwillt schnell ab, wenn man bedenkt, dass es zahlreiche Menschen gibt, die an einem solchen Prozess keinerlei Interesse haben. Was wollen Menschen, die machtbesessenen sind, ein Schmalspurkonstrukt vom menschlichen Miteinander haben oder die Ängste der Wähler für ihr Stimmenergebnis brauchen mit Forderungen a la Gleichberechtigung, Gleichheit oder offener Gesellschaft?
Was tun? Oder: Was tun!
Ich denke, meinen Ausführungen liegt ein schwerwiegender Denkfehler inne. Denn wer sagt eigentlich, dass man Manifeste, Gesetze, Gebote oder politische Verordnungen braucht, um in einer menschaffinen Umwelt leben zu können? Warum müssen Ordnungssysteme von außen vorgegeben werden? Von dem brasilianischen Schriftsteller und Dichter Mario de Andrade gibt es den Satz: „Was nützt es, wenn der Mensch lesen und schreiben gelernt hat, aber das Denken anderen überlässt?“ Und weiter heißt es in einem Gedicht: „…Ich habe keine Zeit für endlose Treffen, bei denen die Statuten, Regeln, Verfahren und äußerliche Vorschriften besprochen werden, in dem Wissen, dass damit nichts getan wird.“ Das Leben – so de Adrade – sei zu kurz, um sich mit aufgeblasenen und absurden Menschen zu befassen. Natürlich sind das Sätze, wie man sie auf Kalendern und Kräuterteebeuteln findet, aber dennoch sehe ich darin eine gewisse Essenz.
Während sich viele, auch sozialkritische Menschen auf das verlassen, was ihnen im Fernsehen oder Printmedien präsentiert wird, verteufeln Rechtskonservative genau diese Medien – außer natürlich die eigenen. Letztere – so die sinnfreie Logik – bieten natürlich die Wahrheit, während die anderen lügen oder fremdgesteuert wurden. Was Politiker der „Altparteien“ sagen ist falsch, was Rechtspopulisten sagen, dagegen richtig. Interessant, dass diese Argumentationskakophonie niemanden stört!
Fangen wir doch einfach mal an, selbst zu denken und damit zu reflektieren, welche zwischenmenschlichen Inhalte wichtig sind, um „…Frieden mit meinen Lieben und meinem Gewissen zu erreichen“ (de Andrade). Was also tun?
Erster Schritt: Bereit dafür sein, das eigene Überzeugungssystem auf die Probe zu stellen, es nicht als in-Stein-gemeißelt zu sehen, sondern als Regelwerk, dass man ständigen Überprüfungen unterziehen muss.
Zweiter Schritt: Man sollte keine Glaubensrichtungen, politische Aussagen oder allgemeinen Meinungen unreflektiert übernehmen, sondern sie lediglich als Orientierungshilfe akzeptieren. „Selbst denken“ ist die Devise! Man sollte für sich ganz alleine klären: Welche Grundlagen will ich für mich, für andere und für das Zusammenleben? Kann ich diese Ausgangspunkte auch auf mich anwenden, wenn ich mich in der entsprechenden Situation befinde? Wenn nicht, taugen sie nichts!
Dritter Schritt: Aufhören zu jammern, im Internet rumzuheulen und auf fremde Hilfe zu warten. In jedem Moment selbst anpacken, selbständig werden und dabei nicht nach dem Großen schielen, sondern im Kleinen wirksam werden. Es geht nicht um die Weltrettung, sondern um die Interaktion im Kleinen.
Vierter Schritt: Ausprobieren, Selbstversuche machen, Widerstand leisten, eigene Meinungen vertreten und damit experimentieren, ungehorsam sein und durchaus anecken. Dann schauen: Wie wirkt das? Wie fühle ich mich dabei? Aber auch: Inwieweit habe ich damit die Würde anderer verletzt? Ist das der Fall: Wieder vorne anfangen!
Fünfter Schritt: Sinnfreie Autoritäten in eigenen Umfeld hinterfragen und so weit wie möglich abschaffen. Und sei es nur in der Vorstellung! Kein Mensch braucht eine Autorität, wenn er Selbstverantwortung übernehmen kann.
Sechster Schritt: Leute „anstecken“, sich zusammenschließen und die Vision von einer offenen Gesellschaft in kleinen Gruppen ausleben. Gewaltfreie Aktionen durchführen und subversiv oder offen unsinnige Machtgefüge unterwandern.
Siebter Schritt: Sich weitere Schritte ausdenken und immer wieder reflektieren, ob sie noch Sinn machen oder neu überdacht werden müssen.
Achter Schritt: (…gerne führe ich die Auflistung mit fremden Vorschlägen fort.)