Ein Dunst der Macht fiel über die Kirche
Ihr macht uns die Kirche kaputt

Die Überschrift stammt aus André Gides Roman »Die Verliese des Vatikans«. Die Kirche ist bei ihm eine Kirche in Rom, bei mir die(!) Kirche. Austritte aus den katholischen und evangelischen Kirchen nehmen ständig zu. Es mag viele Gründe geben. Ich meine, dass die Kirche (auch die Gesellschaft) das Problem der Macht nicht ehrlich diskutiert. Hier einige Argumente.

Zuvor die Satire eines Bösewichts, die mir eine Physiotherapeutin erzählte. Dahinter steckt die Frage: Was ist in der Kirche los?

Benedikt XVI. sei gestorben (noch lebt er emeritiert, fromm und päpstlich gekleidet in Rom). Er kommt an die Himmelstür. Petrus öffnet. Ich bin der emeritierte Papst, sagt Benedikt. Petrus geht zu Gott Vater. Der sagt: Kenn ich nicht. Dann geht Petrus zum Hl. Geist. Der schaut in die Liste der vernünftigen Menschen, findet aber keinen Benedikt XVI. Auf dem Rückweg zur Himmelspforte trifft er Gott Sohn und fragt ebenfalls nach einem gewissen Papst Benedikt. Gott Sohn fängt an zu lachen und fragt: Gibt es den Fischerclub immer noch, den ich in Israel mal gegründet habe?

Was soll dieser Witz? 1) Aus der Perspektive Gottes ist der Papst eine unwichtige Figur. 2) Vernunft ist ziemlich bedeutend. Und 3) was ist das Problem der Kirche?

Kirche Bacherach (Foto Johanna Scherle-Illhardt)
Kirche Bacherach (Foto Johanna Scherle-Illhardt)

Kürzlich habe ich ein Buch gelesen, sein Autor, Daniel Bogner, ist Moraltheologe, der Verlag ist Herder. Alles spricht für ein kirchennahes Buch. Der Titel („Ihr macht uns die Kirche kaputt …“ 2019) jedoch spricht gegen die schleichende Zerstörung der Kirche. Ich benutze ihn als Untertitel. Wem gehört eigentlich die Kirche, den kirchlichen Machthabern oder uns? „Uns“ – auch wenn ich trotz Theologiestudium ausgetreten bin? Ja – uns. Zur- Kirche-gehören ist keine Frage der Kirchensteuer.

Ein bekanntes Austrittsmotiv sind die sexuellen Übergriffe. Gefordert werden, um eine kaputte Kirche zu vermeiden, ethische Neuordnungen der Sexualmoral, der Homosexualität und des Zölibates. Das ist sicher wichtig, hat aber wahrscheinlich keine allzu große Auswirkung auf die sexuellen Übergriffe. Aber dabei darf man nicht stehen bleiben

Macht und Kirche

Klar, fast nur Männer sind sexuell übergriffig. Man kann die Männer schlecht abschaffen. Aber der Grund kann nicht nur die ungute Sexualmoral sein. Denn in anderen Konfessionen (etwa in der evangelischen Kirche), in denen der Zölibat nicht vorgeschrieben ist, sind die Austrittszahlen höher. Ein Phänomen, das uns zu denken gibt, sind Frauen aller Konfessionen in Kinderheimen, die Kinder bestrafen, Bademeister, die sich an Kindern austoben, (meist männliche) Lehrer, die sich an ihren Schülern vergreifen usw. Sexualmoral hilft da nicht.

Warum diese Perversionen? Priester oder Menschen, die nicht aus der Kirche kommen, verführen Minderjährige zu sexuellen Handlungen. Diese Männer sind nicht so faszinierend und erotisierend, vielmehr weil sie Macht haben und ausüben können. Und genau das ist der Punkt. Die Krise der Kirche ist keine Moralkrise, sondern eine Machtkrise. Und das müssen wir in Augenschein nehmen.

Also stellen wir uns der wichtigen Frage: Wie geht Kirche mit Macht um? Schlecht! Genau das hat mich wütend gemacht und zum Austritt bewegt, weil das System Kirche an dieses Problem nicht herangehen wird.

Bleiben wir beim Thema „Macht“. Rom wird den sog. „synodalen“ Weg nicht akzeptieren. Der synodale Weg bedeutet: Entscheidungen würden nicht nur in Rom getroffen, sondern von männlichen und weiblichen Laien in einem regionalen Meeting (= Synode). Diese Entscheider sind nicht Machthaber, sondern Menschen, die mit dem Problem zu tun haben, und das sind viele Fragen, juristische, verwaltungstechnische, moralische, sozialarbeiterische usw.

Diese neue Macht­verteilung würde z.B. bedeuten: Die Berufung eines Bischofs würde letztenendes nicht nur in Rom entschieden, sondern von allen Gläubigen in der Diözese. Vor Jahren wurde von Rom die extrem rechte Kongregation des „Opus dei“ verboten, und von Papst Johannes Paul II. wieder zugelassen. Proteste (auch von mir bekannten Theologieprofessoren) nützten nichts. Wird das von einigen wenigen entschieden oder von denen, die keine Macht, aber Einsicht haben?

Nehmen wir als Beispiel die Rückkehr des Kölner Kardinals Wölki in „seine“ Diözese. Der Papst hat ihn für fünf Monate aus dem Verkehr gezogen und römische Visitatoren nach Köln geschickt. Warum hat nur Rom die Macht, warum kann das nicht auch die Diözese? Wird Macht von oben nach unten (top down) verteilt. Jetzt (März 2022) kommt er zurück. Nur das Problem ist nicht gelöst, auch nicht mit Wölkis Rücktrittsangebot.

  1. Wer kontrolliert die Transparenz der Übergriffe in der Diözese: die Kirchenoberen oder der Staat? Ähnlich wie im Fall der sexuellen Übergriffe, die Lösung – besser: Scheinlösung – regelt die Kirche. Fragen wir so: Wer hat die Macht? Die Herren in Rot oder wir, die Betroffenen?
  2. Was bedeutet „seine“ Diözese, und wer darf was darin überprüfen? Wem also gehört die Kirche? Eine Diözese ist eine Verwaltungseinheit. Aber welche Rolle spielt darin der Glaube? Natürlich sind Bischöfe keine Ungläubigen, sie müssen Glauben behüten. Tun sie das? Verwaltungschefs denken allzu oft strategisch und an Nützlichkeit orientiert. Urteile einer Diözese oder gar der ganzen Kirche werden anders bestimmt, vom Glauben und nicht von Nützlichkeit.

Es tut mir sehr leid, dass die Kirche so derangiert und zu einer Art Fischerclub mit Vereinssatzung verkommen ist. Gerät die Vermittlung der religiösen Beziehung durch die Kirche ins Abseits, fern von dem, was den Menschen wichtig ist? Sie wird beherrscht von Problemen, die nicht die Probleme des Glaubens sind. Wieso wird die Kirche von einer restriktiven Sexualmoral beherrscht und nicht vom Glauben? Das bedeutet, ihr Problem ist die Macht, die mehr und mehr dominiert.

Machtausübung ist ein wenig diskutiertes Problem – übrigens auch in der Gesellschaft insgesamt und nicht nur in der katholischen Kirche mit ihrer (vor)barocken Machtstrategie. Macht in der Gesellschaft ist ein eigenes Problem. Noch haben wir nicht beherzigt, dass die Macht des Staates eine Leihgabe ist, die von den Bürgern kommt.

Bleiben wir beim Thema: Macht und Kirche. Kirche ist ebenfalls eine Leihgabe, die allen gehört, die sich an Jesus orientieren. Macht ist ein Universalschlüssel zu allen Bereichen, vor allem in der Kirche. Dass gerade die Kirche mit der Macht schlecht umgeht, ist ein Skandal und hat mit Kirche nichts zu tun.

Auch ein Skandal, weil Kirche lange als Symbol der Macht galt wie im nebenstehenden Bild. Das Bild des Löwen enthält auch die Macht als König der Tiere, ähnlich wie der Adler. Aber weiß man, worüber die Kirche König ist und wofür? Legitimierte sie in früheren Zeiten gar die Macht? Nur Napoleon setzte sich selber die Königskrone auf, sonst taten das die päpstlichen Machtproduzenten.

Was mir an der Kirche fehlt? Hier einige Argumente.

  1. Am Glauben fehlt das Wagnis

Peter Wust, Philosophieprofessor in Münster, der sogar zum Katholizismus konvertierte, schrieb noch zu Beginn seiner Konversion in einem Brief: „Was mich abstößt im Katholizismus, das ist eine gewisse Saturiertheit, wie wir sie bei vielen finden […] Mit dieser Sattheit verbinden sich leicht Intoleranz und Dünkel, das sind die Seiten, die ich hasse“. Sein Hauptwerk (»Ungewissheit und Wagnis«) klingt noch sehr optimistisch. Später und besonders gegen Ende seines Lebens verliert er sein Vertrauen in Kirche und Theologie, weil Glaube seinen Wagnischarakter verloren hat. Er richtet seine Fragen nicht mehr an Kirche und Theologie, riskiert eher ein Leben in Unsicherheit.

Glauben heißt Wagen. Aber was wagen wir, wenn wir glauben? Eher nichts. Wenn wir in den Nachrichten hören oder sehen, was zurzeit in der Ukraine passiert, rührt uns das zu Tränen. Oder würden wir die Ölpreissteigerung oder die Gasverknappung akzeptieren, uneingeschränkt oder doch nur halbherzig? Würde Kirche helfen, weil wir den massenhaften Tod von Menschen nicht billigen? Kirche wäre dann eine Gemeinschaft der Mutigen.

  1. Was sagt uns die Bibel?

Lange Zeit hielt die Kirche an dem Bild fest, Gott habe den vier Evangelisten gleichsam die Bibel diktiert. Aber mehr und mehr entschieden sich die Theologen (und anfangs sogar ein einiger (1), der römischer Kardinal Bea) für eine textkritische Auslegung der Bibel. Zeitgeschichtlich stammen die vier Evangelien aus der Zeit von ca. 50 bis 120, also ziemlich lange nach dem Tod Jesu. Vorher gab es eine Liste von sog. Herrenworten, die in die endgültige Fassung der Evangelien eingebaut wurden. Die Briefe einiger Apostel sind zeitmäßig ähnlich verteilt.

M.E. ist das insofern entscheidend, weil man in der frühen Zeit des Christentums so etwas wie einen Leitfaden des Lebens und der Botschaft Jesu meist als Predigtgrundlage benutzte. Eine Art Testament also. Unsere Probleme sind aber nicht mehr die von vor ca. 2000 Jahren. Menschen anzusprechen, wo auch immer sie stehen, erfordert mehr als Bibelzitate. Und trotzdem bemüht man sich, aus der Bibel herauszuholen, was unsere katholischen Normen sind. Stecken etwa die Probleme Schwangerschaftsabbruch, Sexualmoral, Sterbehilfe etc. in der Bibel? Unsinn.

Übrigens, der Münsteraner und später Tübinger Theologe Greinacher (gestorben im Februar 2022), forderte Johannes Paul II. zum Rücktritt auf. Aber er meinte das wohl nicht ernst im politischen Sinne, wohl im theologischen. Wer von beiden hat Bibel und Lehrtradition nicht richtig verstanden?

  1. Befreiungstheologie

Kardinal Romero wurde während einer von ihm in einer Krankenhauskapelle in San Salvador zelebrierten Messe 1980 von einem Soldaten der Armee erschossen. Er predigte überall vom Ende der Unterdrückung, was die Großgrundbesitzer natürlich nicht akzeptieren konnten. Sein Tod markierte den Beginn des Bürgerkriegs in El Salvador. Dahinter stand die Theologie der in Punkt 5 genannten Münsteraner Professoren Greinacher und Metz. Gott ist kein Gott der besitzenden Klasse, sondern einer, der an der Freiheit der Menschen interessiert ist.

Eine kleine Nebenbemerkung. Wenn es um Freiheit, Staatskritik und Aufgaben der Kirche geht, verbot Papst Johannes Paul II. das Engagement der Kirche. Es war ihm zu marxistisch. Nur er selbst dürfe so etwas verkünden – und mit Bibel und Tradition, wenn es eine gibt, verwässern. Übrigens, Jesus war kein Unterstützer der Mächtigen. Im Gegenteil: Er wandte sich den unfreien Menschen zu.

  1. Biblischer Amoralismus

Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen amoralisch und unmoralisch. Amoralisch bedeutet, an Regeln zu zweifeln (z.B. Containern) – unmoralisch heißt etwas zu tun, was gegen die Interessen und Rechte der Betroffenen verstößt (z.B. jemanden betrügen). Das nur vorweg. Die Bibel hilft jemandem, gegen Regeln zu verstoßen, weil man an ihrer Gültigkeit zweifelt. Sie verbietet aber, jemandem zu schaden. Wir haben das anders gelernt – leider.

Im Matthäusevangelium heißt es (2:7): „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat“. Dahinter steht eine Auseinandersetzung mit Leuten der Synagoge, die gelernt haben, dass der Sabbat ein heiliger Tag ist, und man an diesem Tag nichts tun dürfe, kein Tier retten, keinen Menschen heilen usw. Transportieren wir diese jesuanische Geschichte ins Heute, dann ist wichtig zu wissen und festzuhalten: Moral ist für den Menschen da und nicht umgekehrt. Ich habe den Eindruck, dass die Kirche das vergessen hat.

Wirklich dramatisch (für die damalige jüdische Gesetzgebung) ist die Geschichte, dass die hungrigen Jünger Jesu das Korn aßen, das für den Tempel gedacht war. Auch über diese Regel setzt sich Jesus hinweg gegen die Priester der Synagoge mit den Worten (Matthäus12:8f): „Wenn ihr begriffen hättet, was das heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer, dann hättet ihr nicht Unschuldige verurteilt“. Die hungrigen Jünger und auch andere Amoralisten wurden als moralische Übeltäter abgestempelt, aber nicht von Jesus.

  1. Kirche der Armen

Ich studierte Theologie in Münster. Zwei meiner Professoren (J.B. Metz und N. Greinacher) legten großen Wert auf das Engagement der Kirche für die ärmeren Menschen, hier und auch in Südamerika. Die Unterüberschrift dieses Punktes ist Teil eines Buches von Greinacher.

Natürlich ist Armut nicht leicht zu verstehen. Sie gilt, wenn der monatlicher Geldbetrag eines Menschen in einem bestimmten Land unter einer durchschnittlichen Norm liegt. Da mischt sich die Theologie besser nicht ein. Aber sie umfasst mehr: ohnmächtig sein, sich nicht wehren können, keinen Zugang zu Ressourcen der Gesellschaft haben, nicht haben, was man braucht usw. Hilft die Kirche den Armen und delegitimiert sie die Reichen? Genau das hört man in der Kirche eher selten und bekommt es noch seltener vorgelebt.

 

Mein Hin und her: Wofür Kirche?

Wofür wir Kirche brauchen? Ich kann und will hier nicht etwas positiv beschreiben, was ich abgewählt habe. Von Harald Welzer (»Nachruf auf mich selbst«. S. Fischer 2021) habe ich einige Punkte ausgesucht, die wichtig sind und von denen ich wünschen würde, dass mir Kirche dabei hilft. Einiges habe ich in seinem Sinne hinzugefügt:

Ich möchte einen Kreis von Menschen, der mir hilft, das alles und noch mehr zu verwirklichen. Könnte das nicht die Kirche sein? Das, was insbesondere Theologen unter Kirche verstehen, kann helfen. Dabei müsste Kirche manches aufgeben, was sie seit Vorzeiten unter kirchlicher Veranstaltung versteht. Zentral in der Kirche sei die Eucharistie. Schon recht. Sie ist aber die Vergegenwärtigung (J.B. Metz) dessen, was Jesus vorgelebt hat. Und das ist mit kirchlicher Tradition nicht identisch.

Aber das, was Evangelische und Katholische trennt, ist die veraltete Philosophie von Trans- und Consubstantiation. Ich erspare Euch die Erklärung, sie hat sicher nichts mit Jesus zu tun, wohl mit mittelalterlicher Philosophie. Wir müssen uns mehr um das kümmern, was Jesus wollte, und nicht um das, was die Kirche daraus gemacht hat.

Zurzeit wird diskutiert, ob Staat und Kirche schärfer getrennt werden sollen. Eine neue Konkordatsregelung wäre überfällig, in manchen Ländern Europas z.B. in Frankreich ist das so. Auch bei uns soll die vom Staat einbehaltene Kirchensteuer abgeschafft werden. Ebenfalls die Vergütung von Ländereien und anderem kirchlichen Besitz seit Anfang 1800 würde gestrichen. Nicht schlecht, ist sie doch nicht essentiell. Kümmern wir uns doch um Wesentliches, auch wenn es der Kirche schwerfällt. Wenn das so kommt und ich dann noch lebe, kümmere ich mich und trete wieder ein.

Ich habe viel an der Kirche auszusetzen. Nicht weil ich Influencer für Kirchenaustritte bin, sondern weil ich hoffe, dass diese Punkte, die mir fehlen, realisiert werden. Und diejenigen, die in der Kirche bleiben, sollten einige von meinen fünf Punkten der Kirche immer wieder vorhalten. Hoffentlich bringt das etwas.