Eher zufällig stieß ich bei einem meiner ausgedehnten Stadtbummel auf das Gebäude, das sich in einer ansonsten gesichtslosen Seitenstraße befand. Ein etwas abgetakelter Bau aus den 70er Jahren, an dem ich unter normalen Umständen vorbeigelaufen wäre. Doch dann fiel mir der Schriftzug über der Eingangstür auf: Agentur für Demokratie. Die letzten beiden Buchstaben fehlten, so dass es sich wie „schlechtes Deutsch“ las: „Agentur für Demokrat…“. Neugierig schaute ich durch die Schaufenster, die wohl früher mal einem Ladenlokal als Auslage gedient hatten. Vielleicht ein kleiner Lebensmittelladen oder eine Drogerie, dachte ich.
Der Laden wirkte leicht angestaubt und trostlos. Er erinnerte mich ein wenig an einen Betrieb kurz vor der Geschäftsaufgabe: Ein arg reduziertes Sortiment, vergilbte Werbeplakate und eine spürbar deprimierende, wenn nicht gar depressive Atmosphäre. Spontan beschloss ich, mir genauer anzuschauen, was sich hinter einer Agentur für Demokratie verbarg. Man kannte diese Geschäftsstellen von Parteien, die mich nie sonderlich interessiert hatten und stets einen Nimbus von Ungastlichkeit besaßen. Beim Öffnen der Tür hörte man eine Ladenklingel. Ich schaute mich um.
Erst auf den zweiten Blick sah ich den Mann in einem grauen Anzug, der an einem Schreibtisch saß, auf dem sich Bücher und Papiere stapelten. Er war einer dieser Personen, dessen Alter schlecht einschätzbar ist. An seinem ganzen Erscheinungsbild erkannte man, dass auch er schon bessere Zeiten erlebt hatte und inzwischen nur noch Übergebliebenes einer untergegangenen Ära verwaltete. In den Ecken standen einige Kartons, die auf einen Umzug schließen ließen. Ich war reichlich enttäuscht, hatte ich mir beim Betreten der Räumlichkeiten doch etwas anderes unter einer solchen Einrichtung vorgestellt. Ich hatte ein sehr lebendiges Interesse an der Demokratie, wenn ich auch das, was man allgemein darunter verstand, nicht mehr als solche bezeichnen würde.
„Wird das Büro geschlossen?“ fragte ich.
Der Mann wirkte an meinem Besuch nicht sonderlich interessiert, schaute von seinen Aktivitäten kurz auf und musterte mich mürrisch über seine Lesebrille.
“Wir modernisieren“, war seine reichlich einsilbige Antwort.
Ich hatte nicht das Gefühl, dass er sich auf eine größere Konversation mit mir einlassen wollte. So einfach ließ ich mich jedoch nicht abspeisen und blieb beharrlich: „Was wollen sie denn modernisieren, die Räumlichkeiten hier oder die Demokratie?“ Der Mann hinter dem riesigen Schreibtisch hob wie in einer Zeitlupensequenz seinen Kopf und schaute mich durchdringend, vielleicht sogar prüfend an.
„Warum sind sie hier?“, fragte er und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl von ihm wahrgenommen zu werden. „Aus Neugierde und Interesse“, erwiderte ich. „Um ehrlich zu sein, aus einer gewissen Sorge heraus. Ich glaube, dass es um unsere Demokratie schlecht bestellt ist.“ Ich war mir nicht sicher, wie mein Gegenüber auf diese Antwort reagieren würde. Durfte man in einer Agentur für Demokratie selbige kritisieren oder gar in Frage stellen?
Es wurde für kurze Zeit sehr still und dann schob er nach: „Es kommt nicht häufig vor, dass sich jemand hierhin verirrt. Es war, um genau zu sein, lange niemand mehr da, der sich für diese Sache hier interessiert. Jedenfalls kein…“ er hielt eine Weile inne: „…normaler Bürger.“ Dabei lächelte er ein wenig verlegen, so als sei ihm diese Bezeichnung für mich unangenehm.
Der Mann schlurfte langsam auf mich zu, schaute mir mit geradezu stechendem Blick in die Augen und tippte mir auf die Brust: „Sie sagten: Schlecht bestellt?“, wiederholte er meine Worte. Dann hörte man ihn gehässig lachen. „Es ist nicht schlecht bestellt. Es ist katastrophal schlecht bestellt.“ Er ging zu seinem Schreibtisch zurück, stützte sich mit beiden Händen auf die Rückenlehne seines verschlissenen Stuhls und ohne mich anzusehen sprach er: „Die Demokratie basiert auf einem guten Gedanken. Ich säße nicht hier, fehlte mir die Überzeugung, dass es sich um ein gutes politisches System handeln würde.“
„Würde?“, hakte ich nach.
„Ja, würde. Ausdrücklich: Würde. Demokratie heißt Herrschaft des Volkes, doch das Volk spielt eine verschwindend geringe Rolle. Wir sind weit davon entfernt, dass der Urgedanke der Demokratie noch von Bedeutung ist. Es ist heute eher eine Lobbykratie, bei der die Wirtschaft und andere eigennützigen Institutionen unter der Oberfläche des vermeintlich Demokratischen die eigentlichen politischen Abläufe bestimmen.“
„Aber all die Politiker brüsten sich mit dem Gedanken der Demokratie“, warf ich ein, „Demokratie ist eine beinah sakrale Angelegenheit, die nie und nimmer kritisiert werden darf. Bei jeder Gelegenheit wird betont, dass wir uns glücklich schätzen sollen, in einer solchen zu leben und dass sie, die Politiker, Gralshüter dieser Volksherrschaft seien.“
„Ja, das tun sie“, sagte der Mann, als spräche er zu sich. „Indem etwas – wie sie sagen – sakral wird, wird Kritik zum Frevel. Das ist der Trick und er funktioniert. In all diesen Regalen hier,“ und er zeigte in die Runde, „stehen nicht nur unzählige Werke, in denen es sich um Demokratie dreht, sondern auch solche, die undemokratische Strukturen, wohl gemerkt – innerhalb – der Demokratie aufzeigen.“ Er ging zum Fenster und schaute nach draußen. Dann drehte er sich langsam zu mir. „Demokratie ist inzwischen eine Art Deckmäntelchen geworden, mit dem man sich schmückt. So denken wir – die Wähler -, es gehe mit demokratischen Mitteln zu, doch die meisten Entscheidungen werden mit größtmöglicher Intransparenz, gesteuert durch die Wirtschaft und basierend auf der jeweiligen Profilneurose des zuständigen Politikers gefällt.“
„Aber was sagen die Leute dazu“, unterbrach ich ihn, „ich meine, interessiert das denn niemand? Begehrt niemand dagegen auf?“
„Ach die Leute. Wer sind die Leute?“, sagte er vergrämt. „Den Leuten ist doch alles egal. Sie haben gewählt, mokieren sich hier und da und warten vor ihren Großbildfernsehern auf bessere Zeiten. Sie sind satt und gut unterhalten, mehr interessiert sie nicht! Oder sie fallen auf das politische Paradoxon und damit auf Analogdemokraten herein!“
„Was verstehen sie unter politischem Paradoxon?“ wollte ich wissen.
Er machte eine kleine Pause und wischte mit seinem Finger über ein staubiges Regal. Er wirkte nachdenklich. „Neulich“, fuhr er fort, „hatte ich Besuch von zwei merkwürdigen Vögeln von der AfD.“
„AfD“, hakte ich nach. „Was wollte die AfD denn hier? Das ist doch keine Partei, die sich für Demokratie interessiert.“
„Eben, das wunderte mich auch“, sagte der Mann und putzte seine Brille mit einem Stofftaschentuch. „Sie seien demokratisch gewählt, meinten die Männer von der AfD und deswegen seien sie auch demokratisch. Nun wollten sie auskundschaften, was Demokratie überhaupt bedeuten würde.“ Er lachte etwas verbittert und schüttelte den Kopf. „Es war nur ein kurzer Besuch. Aber wissen sie, wenn ein Priester Messdiener missbraucht, spielt es dann eine Rolle, ob er katholisch oder geweiht ist? Warum wird immer wieder betont, die AfD sei demokratisch und nach den Regeln der Verfassung gewählt. Der Faktor der Widerlichkeit bleibt so oder so.“
„Sie meinen die Widerlichkeit des Betruges?“ fragte ich nach.
„Genau die. Deshalb politisches Paradoxon. Diese modernen Faschisten wollen keine Demokratie. Sie wollen einen autoritären Nationalstaat, in dem wenige bestimmen, was alle zu befolgen haben. Dabei möchte ich nicht wissen, wie viele…“ er hielt kurz inne, offenbar um zu prüfen, ob er in dieser Offenheit mit mir reden konnte … „aus den konservativen Parteien ebenfalls von einem Abbau der Freiheiten und einer umfassenden Reglementierung der Bürger träumen. Doch das ist keine Demokratie, sondern eine Farce.“
Und dann wandte er sich ab und setzte sich an seinen Schreibtisch.
„Und was wollen sie nun modernisieren?“, lenkte ich das Thema auf meine Anfangsfrage zurück?
Er drehte sich noch einmal um und lächelte niedergeschlagen. „Das Büro, mein Lieber, das Büro. Es soll fortschrittlicher wirken, zeitgemäßer und vor allem bunter.
„Damit niemand die Veränderungen merkt?“, fragte ich.
Er schaute mich an und nickte mit einem verbitterten Lächeln. „Auch meine Tage werden gezählt sein. Es behagt vielen Verantwortlichen nicht, dass es Demokratiebeharrer gibt, die ihre Finger in politische Wunden legen.“
Bei diesen Worten war er aufgestanden und verschwand hinter einem halb leergeräumten Regal. Vielleicht wollte er den Ausdruck seiner Verdrossenheit verbergen.