Ärger mit der Bürokratie
Warum Bürokratie die Demokratie verdirbt?

Wer ist Herrscher des Staates – das Volk oder die Bürokratie? – Dieser Aufsatz hat manchmal lustige, manchmal ernste und überraschende Argumente. Wir dürfen nicht einschlafen vor lauter Demokratiegesäusel. Umso wichtiger ist es, die Bedrohung unserer Demokratie durch die Bürokratie zu kennen. Hauptsache »…kratie«?

Lange Genehmigungsverfahren, umständliche Amtswege und verfehlte Überregulierung sind ernste Hindernisse auf dem Weg einer politischen Entscheidung. Übrigens, in dem Roman von Charles Dickens (Little Dorrit) heißt die bürokratische Behörde „Verzögerungsamt“ (Original: circumlocution office). Gemeint sind die „umständlichen Amtswege“, die eine direkte, schnelle und menschliche Entscheidung behindern.

Dazu ein Fall.

Für 2030 wurde ein Defizit in der Krankenpflege von ca. 180.000 Stellen berechnet. Schon der vorige Gesundheitsminister Spahn ging ins Ausland Stellen eintreiben. Kürzlich berichtete die Süddeutsche Zeitung (B. Peters & R. Stadler vom 28./29.10. 2022) von einer Schwester aus Brasilien, die in Deutschland arbeiten wollte und einer Institution die nötigen Unterlagen (Unizeugnis, Arbeitszeugnis, Reisepass usw.) schickte. Zunächst absolvierte sie einen 7monatigen Deutschkurs in Brasilien. Dann kam die deutsche Bürokratie: 1. Regierungspräsidium (Prüfung der Zeugnisse, Anerkennung oder Defizitbeschreibung), 2. Bundesagentur für Arbeit (Überprüfung des ersten Bescheids. Am Ende geht das ganze zur Botschaft oder zum Konsulat des Herkunftslandes. Die Kommunikation geht auf dem Postweg. Der Antrag der Brasilianerin brauchte nach den 7 Monaten Deutschkurs 8 Monate Antragsbearbeitung. Kein Wunder. Wenn längst nicht alle diese Unsicherheitsstrecke aushalten.

Übrigens, Antragssteller aus dem Nicht-EU-Ausland wenden sich an „Expat Insider“. 12.000 Bewerber waren in der Studie, Deutschland ist auf Platz 55 von 59 Ländern.

Der kleine Mensch und die Aktenberge. Foto Pixabay
Der kleine Mensch und die Aktenberge. Foto Pixabay

Zunächst zum Begriff, er ist sehr schillernd. Wenn wir von Bürokratie reden, denken wir – angelehnt an die Organisationssoziologie des Bürokratiemodells von Max Weber – an folgende Ebenen:

  1. Was sind die Interessen der Betroffenen?
  2. Wie organisiert man den angeblichen Willen der Betroffenen?
  3. Gibt es Alternativen?
  4. Was sind die Schwachstellen der Bürokratie?

Zu 1)  Wer interessiert sich für wen?

Zum Heulen ist die Tatsache, dass alle möglichen Leute, Parlamentarier und Bürokraten oder sagen wir alle, die Macht haben, Regeln konstruieren und aufstellen. Aber sie wissen kaum, was die Interessen der Betroffenen sind. Denken wir an Corona und den Ausdruck des Philosophen A. Brenner: den „Kronrat“ von Berlin. (Ich bin mehrmals geimpft, doch enttäuscht über die Respektlosigkeit der Bürokratie.)

Meine Gewährsleute sind der Soziologe Max Weber und der Rechtssoziologe Niklas Luhmann. Weber plädierte für eine Bürokratie, in der Profis das Sagen haben. Ähnlich klingt auch die Meinung von Luhmann. Was aber wäre denn ein Profi? Nehmen wir als Beispiel das Steuerproblem. Jemand, der ein Steuerprofi ist, wäre nicht nur jemand, der sich im Steuerrecht auskennt, sondern jemand, der die Probleme versteht, die der hat, der ein Haus baut, um gut leben zu können, Renovierungen im Haus vornimmt, um altersgerecht darin leben zu können usw.

Oder wenn es um Straßenbau, Stadtplanung, Verkehrsplanung o.ä. geht, geht es um Lebensqualität. Eigentlich wollen wir – um nur ein Beispiel herauszugreifen – eine lebenswerte Umwelt, und bekommen stattdessen ein Powerplay der Regeln. Ist gutes Leben wichtiger als Regeln? Verstehen Bürokraten mehr als die Regeln? Woher käme dieses Verständnis?

Zu 2)  Welche Ziele und Werte haben wir?

Könnte eine plebiszitäre Demokratieform die kennen? Natürlich nur, wenn man sie vorher recherchiert hätte. Organisationsziele müssen sich an den Zielen und Werten der Betroffenen orientieren. Bürokratie muss diese Zusammenhänge kennen. Soinst würde die Umsetzung von Regeln sinnlos. Dazu meine Graphik:

Regeln werden von »ganz oben« erlassen und von den Menschen »ganz unten« befolgt. Dazwischen liegt eine Schicht von bürokratischen Organisationsformen, die einerseits die Umsetzung erleichtern, aber andererseits auch die Autonomie der Menschen aufheben. Mit anderen Worten: Ziele und Werte der Menschen wird untergepflügt.

Bürokratie kann dazu führen, dass wir unsere Ziele und Werte aus dem Auge verlieren und stattdessen zielfremde Regeln konstruieren müssen. Denken wir an das Unglück in Bangladesch 2013 mit mehr als 1000 Toten. Sie alle waren Opfer eines Ausbeutungssystems, an dessen Spitze Modeimperien mit Milliardenumsätzen stehen.

Es geht nicht nur um Jeans und T-Shirts, sondern um viele alltägliche Konsumgüter. Wer will schon Schokolade essen, für deren Herstellung Kinder ausgebeutet werden, oder Avocados kaufen, für deren Anbau Menschen vertrieben werden? Um das zu bremsen, wurde das sog. Lieferkettengesetz geplant: Das exportierende Unternehmen muss transparent machen, wie die Firmen, die Waren für die Herstellung liefern, produzieren, wer das kontrolliert, woher die Standards für die Prüfung kommen usw. Ein Bürokratiemonster würde entstehen, das hohe Kosten verursacht, aber eventuell wenig Nutzen bringt.

Wie wäre das ohne dieses Bürokratiemonster? Kommen wir ohne dieses Monster weiter? Halten wir einfach fest: Seit 2013 kümmern wir uns darum mit dem entsprechenden bürokratischen Hintergrund. Aber nichts ist passiert. Dabei wollten wir doch Unfälle dieser Art vermeiden. Immerhin: Ein Gericht in Bangladesch hat den Besitzer Sohel Rana des 2013 eingestürzten Fabrikgebäudes wegen illegaler Einkünfte zu drei Jahren Haft verurteilt. Ihm droht wegen Verantwortung für die Opfer des Unfalls schlimmstenfalls die Todesstrafe.

9 Jahre nach diesem Unfall hat es noch keine gesetzliche Regelung gegeben. Wir haben unsere Ziele und Werte in die Welt hinausposaunt. Um unsere Werte – es geht um eine Preiserhöhung von 50 Cent pro Textilstück aus Bangladesch – zu schützen, haben wir nichts erreicht. Die Werte sind uns offensichtlich nichts wert, dafür sorgt die Bürokratie.

Zu 3)     Gibt es Alternativen?

Bürokratie ist zu einem „Herrschaftsmittel der demokratisch legitimierten Politik“ geworden, schrieb der Soziologe Dieter Grunow 2005. Eine wirkliche Alterative gibt es aber nicht. Wir müssen mit der Bürokratie leben, aber sie darf nicht unser Leben bestimmen. Näheres dazu im nächsten Punkt.

Im 18. Jhd. wurde in Frankreich der Begriff »bureaucratie« geprägt. Er wird verstanden als Staatshandeln durch Gesetze. Seit etwa 200 Jahren ist die Bürokratie immer wichtiger geworden und bestimmt in der Alltagspraxis unser Zusammenleben. Wir haben sicher kritische Gedanken, welche die Eigenständigkeit und Bürgerferne der Bürokratie korrigieren, aber nicht ersetzen können.

Wer will, kann hier die beiden m.E. wichtigsten soziologischen Theorien der Bürokratie in Deutschland verfolgen:

Bis auf Weiteres müssen wir die Kritik der Bürokratie selber in die Hand nehmen.

Zu 4)   Was sollte man korrigieren?

Erklären wir die Schwachstellen der Bürokratie, ohne sie ganz aufzugeben. Nur eine Korrektur wäre möglich und sinnvoll. Sie würde die Möglichkeit für ein gutes Zusammenleben verbessern. Konzentrieren wir uns auf die folgenden Probleme:

  • Der Mythos des Formalismus

Pier Paolo Pasolini (Regisseur, Dichter und Schriftsteller, ermordet 1976) schrieb in seinen Freibeuterschriften über „das schamlos Formale der Demokratie“. Die Umsetzung der Regeln läuft immer und ausnahmslos über Formales, das die Kreativität der Menschen korrumpiert und im immergleichen Konsumismus enden lässt.

Pasolini meinte damit, dass Formalismus ein joint venture mit der Demokratie eingegangen ist, weil sie den Reichtum des Volkes, seine Werte, Interessen, Visionen, seinen Hang zum Zusammenhalt – oder ist der schon kaputt? – usw. verkauft habe.

Interessant: Pasolini hat der kommunistischen Partei Italiens, aus der er ausgetreten war, vorgeworfen, den „Glutkern der Revolution“ gelöscht zu haben. Und dem damaligen Papst hat er geschrieben, dass er die Kirche schließen sollte, weil sie das Soziale verkauft habe. Keiner von beiden hat geantwortet. Es bleibt also beim Formalismus und der Angst, dass die Demokratie zu Bruch geht?

Die lange Geschichte der Bürokratie hat bei uns allen den Papierkram zum alles beherrschenden Problem gemacht. Wir kennen den Satz (das Parkinson’sche Gesetz) von Cyril N. Parkinson: „Wenn sich die Bürokratie weiter so ausbreitet wie bisher, wird Gott die nächste Sintflut nicht mit Wasser, sondern mit Papier veranstalten“.

Soll heißen: Wenn das, was auf dem Papier steht, mehr bedeutet als das, was unser Leben und Zusammenleben, auch unsere Regeln, wichtigmacht, wäre eine Sintflut nicht unser, aber der einzige Ausweg. Auf was kommt es dabei an?

  • Einhaltung der Ordnung

Einhaltung der Ordnung geht gemeinhin durch Gesetze. Ganz klar: Gesetze müssen verständlich sein. Nehmen wir ein Beispiel aus der „Blütezeit“ von Corona. Der Staat beschloss das Infektionsschutzgesetz (IfSG, hier in der Fassung von 2021). Daraus § 28, Absatz 1 und 2):

(1) Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige und Ausscheider können einer Beobachtung unterworfen werden.

(2) Wer einer Beobachtung nach Absatz 1 unterworfen ist, hat die erforderlichen Untersuchungen durch die Beauftragten des Gesundheitsamtes zu dulden und den Anordnungen des Gesundheitsamtes Folge zu leisten.

 

Die Rechtssprache nicht nur des IfSG hat einen „Hang zu Bandwurmsätzen“, zu „Kasernenton“ und, so Simon in der Süddeutschen Zeitung vom 27./28. 11. 2021, zu „furchteinflößenden Verben“ wie „unterworfen sein“, „dulden“, „Folge leisten“ usw. Übrigens, auch komische Begriffe kommen darin vor: Haben „Ausscheider“ was mit WC zu tun? (Textbelege sind markiert)

Das IfSG ist nicht in erster Linie für die Bürger gedacht, die das nur schwer verstehen, aber die nichtjuristischen Minister und Parlamentarier müssen das auch verstehen oder sollten es wenigstens. Egal. Schlimm sind die intransparente Sprache und Ausdrücke, die eher abschrecken als helfen. Kein Wunder, wenn das IfSG und andere Regelungen entgleisen.

Man könnte die Rechtstexte insgesamt analysieren. Das würde Querzeit und mich jedoch überfordern. Um zu schmecken, wie salzig das Wasser des Ozeans ist, schrieb Alexander Solschenizyn, genügt ein Schluck Wasser. Man muss nicht den ganzen Ozean austrinken. Mit anderen Worten: das IfSG genügt. Die Ordnung geht zum Teufel, wenn seine Regeln intransparent sind.

Ein anderes Beispiel, das uns im Alltag näher ist: die Polizei. Darüber schreibt der amerikanische Anthropologe (in Deutschland so etwas wie Völkerkundler) und Occupy-Mitglied David Graeber: „Die Polizei reguliert oder unterstützt groß[en]teils die Lösung administrativer Probleme, indem sie (…) physische Gewalt anwendet oder androht, (…). Also: Polizisten sind Bürokraten mit Waffen“. Natürlich nicht alle, einige unterstützen die Bevölkerung.  Aber wie oft gibt es kritische Geister der Polizei?

Später berichtet er, dass Generationen von Soziologen und Ethnologen festgestellt haben, dass der größte Teil ihrer Tätigkeit aus Verwaltungsarbeit, Regulierung von Problemen der Speiselokale, der Marktordnung, des Verkehrs usw. besteht. Ihre nicht bürokratische Tätigkeit, die Bekämpfung von Gewaltexzessen, ist nicht der überwiegende (wohl der gefährlichere) Teil ihrer Arbeit.

Aber machen wir die Polizisten nicht zu Buhmännern der Nation! An der „Spitze“ der Gesetzesspirale stehen die Politiker. Von denen wurde das Gesetz zur Reduzierung der pornographischen Verwendung von Nacktfotos beschlossen. Wir alle sind dafür. Aber was geschieht, wenn das Gesetz in die Hände von Bürokraten fällt und zudem handwerklich unzureichend ist? Hier ein Beispiel, diskutiert in der Süddeutschen:

Ein junges Mädchen (Azubi) sagte Nein, als ein Vorgesetzter es nackt fotografieren wollte. Der Vorgesetzte gab nicht auf und schickte ihr eine Sammlung nackter junger Frauen, die er bereits fotografiert hatte. Sie sollte ein Beweis seiner guten Fotografierkunst sein und Teil seiner Sammlung werden. Monate vergingen, und das Mädchen vergaß, die mail zu löschen. Da bekam sie über Umwege ein Gerichtsverfahren wegen Besitzes von Pornografie verdächtigen Bildern aufgebrummt.

Der Richter griff auf andere Paragraphen (Jugendschutz etc.) zurück, um das Mädchen nicht zum doppelten Opfer zu machen: zum Opfer des sexwütigen Vorgesetzen und zum Opfer des Paragraphen in Händen der Bürokraten.

Könnte man solche bürokratischen Engpässe nicht vermeiden, wo es doch auf den Sinn und nicht auf das Wording des Gesetzes ankommt? Bürokraten vergessen das leicht.

  • Wer verdrängt das Ethos?

David Graeber (gerade erwähnt) hatte ein Gespräch mit einem Banker aus der obersten Etage. Daraus zitiere ich mit veränderter Schreibweise:

Es geht es um Doppelmoral. Auch in deutschen Finanzbehörden gibt es vergleichbare Ereignisse: Betrügerei als eine leider verbreitete Verhaltensweise, oft eher verharmlost als Kavaliersdelikt. Dabei ist es der Ansatz für Auseinanderbrechen des sozialen Zusammenhalts. Die Bürokratie sorgt für den Untergang der Moral, auf die wir so bitter angewiesen sind.

Und noch etwas: Kontrolle ist das maßgebliche Moment der Vorschriften. Selbst der Theologe Thomas von Aquin (Mittelalter) fand Gesetze ungültig, deren Befolgung man nicht überprüfen kann. Würde man ihn akzeptieren, wären viele Gesetze heute ungültig. Befolgung der Regeln und Vorschriften scheint nur dann sinnvoll, wenn Kontrollmöglichkeiten mitsamt ihren Ausnahmeregeln bestehen. Ist Betrug gut oder schlecht? Erst wenn Kontrollmöglichkeiten mitsamt ihren Ausnahmeregeln versagen, sind wir auf Moral zurückgeworfen. Vorher erscheint sie bedeutungslos. Schade!

Wer hat das Ethos kaputt gemacht? Wir alle. Viele setzen auf Kontrolle, nur wenige auf Ethik.

  • Gerechte Mittelverteilung – aber wie?

Wer verteilt die Mittel? Die Regierung bzw. das Parlament hat wegen der Energiekrise Unterstützung beschlossen. Aber dass die Unterstützung beim Nutzer ankommt, ist nicht das Problem von Berlin, vielmehr der zuständigen Behörden. Etwa der Bäcker, der sein Brot für 8 € verkaufen muss, um seine Kosten zu decken, bekommt das Geld auf anderem Wege als das industrielle überregionale Backunternehmen. Und das natürlich nur, wenn die Formulare richtig ausgefüllt sind. Ist das Bürokratie, das „stahlharte Gehäuse“ von Max Weber?

Und was hat das mit Mittelverteilung zu tun? In Berlin werden Regeln konstruiert. Aber die konkrete Umsetzung für bestimmte Regionen bzw. Bereiche wird bürokratisch (also von Behörden usw.) organisiert. Liegen dort die Probleme – begraben?

Wie kriegen wir eine gerechte Mittelverteilung hin? Sicher nicht, indem wir eine weitere bürokratische Institution gründen (Kontrolle der Mittelverteilung), also durch wunderbare Bürokratievermehrung. Faire Mittelverteilung funktioniert nur, wenn die oberen Verteilungseben mitbedenken, welche Probleme es ganz unten gibt. Es kann sie nur geben, wenn auf allen Ebenen die Perspektive der Betroffenen bewusst gemacht wird. Bei Verdacht bitte Transparenz einfordern!

Gesundheitswesen ist lediglich ein Problem der Mittelverteilung unter vielen anderem Bereichen wie Steuern, Bauwesen, Verkehrssanierung usw. Aber die Strukturlinien sind ähnlich.

  • Wer legitimiert Macht?

Legitimation klingt zwar so ähnlich wie Legalität (gleicher Wortstamm). Aber Legalität bedeutet Gesetzmäßigkeit, und Legitimität Gültigkeit. Bei weitem nicht alles, was legal ist, ist auch legitim. Und umgekehrt. Etwa Gewalt ist dem Staat vorbehalten, ihre Anwendung z.B. durch die Polizei ist meistens (wenn auch nicht immer) legal, oft aber nicht legitim. Ein Kuddelmuddel von Recht und Ethik. Aber nur wenige – leider – kümmern sich um Ethik oder respektieren sie.

Bürokraten sind nicht gewählt, nur ernannt bzw. eingestellt. Ihre Machtanwendung ist zwar oft gesetzeskonform, aber ist nicht unbedingt richtig. Sie werden zwar von ihren Vorgesetzten eingestellt, aber nicht von der Regierung ernannt. Legal, auch legitim?

Bei unseren letzten Steuerklärungen haben wir ein Hin und Her der Regeln erlebt. Wir haben alle Belege mitgeschickt und bekamen nach ca. 1 Woche die Nachricht, dass die Behörde keine Belege will. Beim nächsten Mal haben wir keine Quittungen mitgeschickt und bekamen die Nachricht, dass sie die Quittungen sehen wollen. Beim nächsten Mal haben wir wieder alle Belege mitgeschickt. Und wieder das gleiche Katz-und-Maus-Spiel.

Ich sehe ein, dass Steuern sinnvoll, legal und legitim sind. Aber die Regel, einmal Belege zu wollen, das nächste Mal sie nicht zu wollen, klingt nach reiner Willkür. Man muss den Bürokraten nicht einfach Machtspielerei unterstellen, das wäre eine Art Diskriminierung, sie unterstehen der „Amtsphilosophie“. Philosophie? Aber sie wissen offensichtlich nicht, warum die Regeln legitim, aber  sind. Das ist sicher keine Philosophie, bestenfalls Ignoranz.

Wichtig ist auch die Tatsache, dass die oft sehr entscheidenden Tätigkeiten der Bürokraten nicht auf Legitimation durch eine politische Wahl beruhen. Wie sollte das auch gehen? Nicht über eine direkte Wahl – die wäre unmöglich. Es geht nur, wie Niklas Luhmann schrieb, über Ausbildung. Und Ausbildung bedeutet nicht nur Erlernen von Regeln, sondern Verstehen von Regeln und legitimen Ausnahmen.

Und was lernen wir daraus?

Aus den vielen Charakteristiken der Bürokratie Konsequenzen zu ziehen, ist sehr schwierig. Bürokratie ist nicht nur das, was sich in Ämtern & Co abspielt. Sie ist aus dem System nicht mehr wegzudenken. Wenn die EU mit dem am Schluss nochmal erwähnten Edmund Stoiber als Leiter einer AG der EU den Bürokratieabbau organisiert, übersieht sie den Zusammenhang von Bürokratie und Demokratie. Mit anderen Worten: Es kommt bei dieser AG garantiert nichts dabei heraus.

Wenn Abbau, dann geht das nur über ein Projekt, das die Demokratie nicht ungeschoren lässt. Ich beschreibe das als eine grundsätzliche Korrektur des Herrschens. Es geht doch nur um das »Herrschen«, das die Übersetzung von »…kratie« in Büro-kratie und Demo-kratie ist. Herrschen geht in unserem Fall nicht von oben nach unten (top down), sondern nur von unten nach oben (bottom up). Versuchen wir also die folgenden zwei Wege:

  • Mehr regelfreie Räume

Ich zitiere wieder nach Graeber aus dem CWC, („Crimethinc. Ex-Workers’ Collective” oder auch “Crimethinc. Ex-Workers-Ex-Collective”, Formulierung nach George Orwell), das jetzt mehr sozial-politisch, aber sehr kritisch (jedoch nicht mehr total anarchistisch wie noch in den 1990er Jahren) ausgerichtet ist. CWC schrieb:

„Wir müssen (…) Löcher in das Gewebe der Wirklichkeit schneiden, neue Wirklichkeiten erschaffen, die am Ende uns selbst formen werden. Sich immer wieder in neue Situationen zu begeben ist die einzige Möglichkeit sicherzustellen, dass man seine Entscheidungen unbelastet durch die Trägheit der Gewohnheit (…), des Rechts oder des Vorurteils trifft“.

Gleich ob kritisch oder nicht. Bürokratie geht nicht ohne »unsere« Anstrengung. Wir dürfen Wirklichkeit nicht mehr Objekt der Gesetze und ihrer Organe sein lassen. Wirklichkeit ist »unsere« Wirklichkeit.

Vielleicht wundert ihr euch, dass ich Franz Kafka mit seinen surrealen Werken als Zeugen der Bürokratie angebe. Ich beziehe mich auf seinen Hauptroman »Der Prozess«.

Seine Biographie in aller Kürze, gemünzt v.a. auf seine Schwierigkeiten mit dem Gesetz:

Hauptfigur im »Prozess« ist

Hauptfigur im »Prozess« istJosef K. (K. = Kafka, aus Franz wird Josef?) Er versucht nach seiner Verurteilung – er weiß nicht warum und was die Strafe ist – verzweifelt, Zugang zum Gericht und zu einem verstehbaren Prozess zu finden. Doch das gelingt ihm nicht. Er beschäftigt sich immer öfter mit seinem Prozess, obwohl er anfangs das Gegenteil beabsichtigte. Er gerät dabei immer weiter in das albtraumhafte Labyrinth einer surrealen Bürokratie.

Stecken wir auch darin fest? Wir leben halt im jüdisch-christlichen Abendland und seiner wunderbaren Regelvermehrung.

  • Welche Regeln wollen und verstehen wir Bürger?

Wem gehört unsere Welt? Natürlich gehört sie uns. Wir müssen sie verstehen. Wenn die Sprache der Regierenden nicht unsere Sprache ist, müssen wir »aufheulen«. Das sind nicht mehr unsere Regeln. Wir brauchen Erfassen unserer Wünsche und Visionen, und die Regierenden müssen uns eine Chance geben, uns Bürger mitarbeiten zu lassen. Wir befürchten das Ende der sog. „repräsentativen Demokratie“ in Deutschland. M.E. genügen dann nicht mehr Demos, Pfeifkonzerte und Protestaktionen an den Rändern der Ordnungswidrigkeiten. Je klarer das wird – etwa durch Querzeit? -, desto eher haben die Parteien Angst vor Wählerverlust. Und die Bürokraten bemerken den Abbau ihrer Wichtigkeit.

Hier ein Beispiel: In meiner Stadt wurde ein Glasfasernetz für das schnelle Internet gelegt. Wegen der Kosten wurde eine Firma aus Spanien mit der Verlegung beauftragt. Wir kennen das Problem aus dem Fall in Bangladesch. Die Arbeiter (keiner spricht Deutsch. Nur wenn meine Frau und ich ihnen Kaffee und Wasser rausbringen, geben sie für die Anzahl der Tassen mit „six“ (bzw. französisch gesprochen „sis“) an. Aber Anstand ist das Eine. Ich schrieb dem Bürgermeister einen Brief, um meinen Protest gegen die unanständige Sklaverei zum Ausdruck zu bringen. Meine Protestpunkte waren 1) der niedrige Lohn (weit unter Mindestlohn. Lohn minus Transport und Hotel), 2) schäbige Unterkunft wie einst bei Tönnies, 3) Arbeitszeit ca. 12 Std, 4) kein Ohrenschutz trotz ungeheurem Lärmpegel, 5) Keine Toiletten (Dixiklo) 6) keine medizinische Kontrolle (Corona, kleinere Unfälle etc.).

Recht bald bekam ich einen Brief vom Bürgermeister, dass der Brief dem Landratsamt weitergegeben wurde, weil aus der Gemeinde viele ähnliche Briefe angekommen seien. Pausen für diese Arbeit wurden offensichtlich eingerichtet. Warum nicht gleich so?

Summa summarum: Man braucht kreative Offenheit der Bürger – auch, vielleicht sogar am besten – in übersichtlichen Bereichen und Regionen. Machtverfall der Bürokratie funktioniert am besten in uneinsehbaren Winkeln. Je öfter man Aufmerksamkeit und Verstehen fordert, desto eher kommt Bürgernähe.

Übrigens hat der damalige Präsident des Bundesverbandes deutscher Banken, Alwin Münchmeyer, 1974 in einem Interview (laut Deutschlandfunk) gesagt:

Edmund Stoiber betreute bis 2014 eine Arbeitsgruppe der EU. Ihr Ziel war es, bestehende Regelungen zu überprüfen, ob sie unnötige Bürokratie-Kosten für die Wirtschaft verursachen und somit Wachstum behindern. 2015 wurde in der EU das sog. REFIT-Programm aufgelegt. Der allfällige Bürokratieabbau soll kontrolliert werden. Wieder Bürokratiemaßnahmen, um den Abbau der Bürokratie zu kontrollieren?

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