FAHRTENSCHREIBER – Wenn das Hirn beige wird

Fahrtenschreiber (Foto Arnold Illhardt)

 

Als kleiner Junge hatte ich in mein Abendgebet den Passus „lieber Gott, lass mich lange leben“ eingebaut. Offenbar war damals schon meine Lebenslust sehr ausgeprägt. An dieses Stoßgebet musste ich zurückdenken, als ich nun in einer dieser Illustrierten mit hohem „Treppenlifter-Reklame-Anteil“ die 33 besten Tipps für ein langes Leben entdeckte. Nicht rauchen, viel bewegen, gesund ernähren, Alkohol meiden und Spaß haben sind schon mal 5 von diesen Grundregeln für den Methusalemfaktor. Donnerschlag, man wäre selbst kaum draufgekommen!

Doch dann wurde ich nachdenklich: Spaß haben? Im Alter? Während meiner früheren Tätigkeit als Krankenpfleger machte ich die ersten umfassenden Erfahrungen mit den menschlichen Grauköpfen. Von den vielen hundert Versuchspersonen meiner unfreiwilligen Altersforschung fielen nur ein paar Handvoll aus dem Rahmen einer riesigen Kohorte verbiesterter und verholzter Zeitgenossen. Das macht man nicht, das tut man nicht, das gehört sich nicht und das gibt’s doch nicht sind bis heute bei vielen die mantraartig runtergebeteten und selbst auferlegten Verhaltensregeln. Man hat das Gefühl, die alten Herren- und Damenschaften sind in einem undurchdringbaren Kokon des So-und-nicht-anders-Sein gefangen. Da nutzt auch das Tragen von bunten Multifunktionssteppjacken nichts. Und weil sie sich ständig einem Verfall der Werte und einem Wegbrechen von Traditionen hilflos ausgesetzt sehen, weil früher alles besser war und überhaupt die zunehmende Verlangsamung der inneren und äußeren Beweglichkeit Verhaltens- und Denkveränderungen erheblich erschweren, ziehen sich die Mundwinkel immer weiter nach unten, wird die Kleidung auf ein geschlechtsneutrales Beige runtergetrimmt und die innewohnende Grimmigkeit verbal bis zum Abwinken ausgelebt. Man mokiert sich über schlecht geputzte Fenster der jungen Familie gegenüber, regt sich über Parksünder auf als seien es Schwerstverbrecher und denunziert Nachbarn beim Ordnungsamt, weil ihr Hecke über den Gehweg wuchert. Überhaupt ist das Ordnungsamt nebst örtlicher Polizeistelle eine Art jüngstes Gericht vieler Beige-Bürger, denn über all den Falten und Runzeln schwebt die in Stein gemeißelte Obermaxime: Ordnung muss sein! Wie sagte damals Dieter Hildebrandt, angesichts einer solchen Schunkelbürgergruppe: „Und die dürfen auch noch wählen!“

Nun bin ich in meinen Überlegungen und wüsten Aussagen zwei Denkfehlern aufgesessen. Erstens dachte ich, die beschriebene Engstirnigkeit verbunden mit Traditionsfetischismus und Ordnungsvernarrtheit sei ein Phänomen der Kriegs- und frühen Nachkriegsgeneration und das Übel hätte spätestens dann ein Ende, wenn die Woodstock-Veteranen nebst Alt-68ern die Rente einreichen würden. Denkste, selbst viele von denjenigen, die damals lauthals mit oder ohne „Mao Tse-tung“ nach Revolution gerufen haben, dümpeln heute im Brackwasser konservativer Spießbürgerlichkeit und latschen als Teil einer gigantischen beigen Wanderdüne durch Stadt und Land. Und der zweite Fehler: Die verknorrzte Lebenshaltung und starre Denkweise ist kein alleiniges Ü60-Problem und funktioniert auch ohne graue Haare. Viele Jungspunte haben sich schon jetzt in eine Art mentalen Altersvorruhestand mit fortschreitender Denkinsuffizienz begeben. Nur kurz, so mit 17, begehrten sie auf, mimten den ungehorsamen Rebell, sprühten „Fuck the system“ an die Wand der Tiefgarage um dann sukzessive mit vorergrautem Hirn in einen prämortalen Dämmerzustand zu verfallen. Und irgendwie habe ich das Gefühl, die Hirnergrauung setzt immer früher ein. Erschreckend, oder? Letztes Wochenende landete ich bei einem Hundespaziergang auf einem Golfplatz und erblickte dort gelackte und haargegelte Jungkonformisten, die auch dem Parteitag der Jungliberalen entsprungen sein könnten. Mein erster Gedanke: Die sind der Grund, warum es in Deutschland keine Revolutionen mehr geben wird oder wie der an frühzeitiger Hirnkomplettergrauung leidende Stalin mal gesagt haben soll: „In Deutschland wird es keine Revolution geben, weil man dazu den Rasen betreten müsste. Ok, wenigstens auf dem Golfplatz war ihnen das mit dem Rasen gelungen.

Neulich erwischte ich mich dabei, über einen Falschparker zu mäkeln, der auf meinem Gehweg stand. Ist das ein erstes Menetekel an der Friedhofsmauer?