Die erpressbare Gesellschaft
Protest in einer vernetzten Welt

Unsere Gesellschaft stand/steht unter Druck und wurde erpress­bar. Das heißt: Sie reagiert auf Druck, und ist ihren Interessen fremd. Manche Protestaktionen funktionieren nach diesem Muster, aber wissen nicht, dass wir in einer vernetzten Gesellschaft leben. Diesen Umbruch nicht zu kennen, führt ins Chaos.

Erpressbarkeit ist ein Merkmal der Schwäche. Unsere Gesellschaft wird von einer Regierung geleitet, die ebenfalls schwächelt – Parteienstreit, Finanzprobleme, soziale Probleme usw. Die Schwäche unserer Gesellschaft wurde noch weiter verschlimmert, als uns einige Demonstrationen an den Rand der Katastrohe führten.

Auszuschließen sind Streiks, die von Arbeitnehmern gegen Arbeitgeber ausgetragen und von Gewerkschaften organisiert werden. Hauptanliegen sind Anpassungen der Lohnforderungen, wie sie im Grundgesetz definiert werden. Dass 2023 recht viele Streiks (etwa von

Erpressbarkeit unserer Gesellschaft erzielten nicht die hier genannten Streiks, sondern Protestaktionen – ich nenne sie bewusst nicht „Streiks“ -, die die Freiheit der Betroffenen einschränken. Ihr Ziel geht über die Zielsetzung des Streiks hinaus, richtet sich auf Forderungen, die Interessen der Regierung eines Staates betreffen. Regierungen, auch wenn sie als „Ampel“ verunglimpft werden, sind immerhin „ziemlich“ frei gewählt. Gemeint sind die Aktionen der

  • Landwirte
  • „Letzten Generation“
  • Bahn

Ich erkläre gleich, worin ich den Unterschied sehe. Streiks stabilisieren eine Gesellschaft, deren Balance in Gefahr geraten ist. Soziale Gerechtigkeit ist verloren gegangen. Die Protestaktionen der drei genannten Gruppen will mehr: eine andere Regierung, die ihre Prioritäten unterstützt. Die Drei – und mögen ihre Forderungen noch so verständlich sein – wollen die Freiheit der Gesellschaft (Wahl etc.) aushebeln. Sagen wir so: Es ist unsere Freiheit, nicht die Freiheit der Drei. Zunächst versuche ich, Erpressbarkeit der Gesellschaft näher zu definieren. Auch wenn es hart klingt: Ich vergleiche eine Kriegshandlung (hier: etwa Bürgerkrieg) mit einer Erpressung der Bürgerschaft: Ich beziehe mich auf eine Definition von Carl von Clausewitz (1780 – 1831, preußischer General und Militärstratege):

Es ist erschreckend, wie nahe Krieg und Erpressung beieinanderliegen. Die alte Definition des Krieges ist immer – auch wenn von Clausewitz (im 18./19. Jahrhundert) gern „strategisch vernünftige“ Kriege geführt hat – noch einsichtig, wenn wir aktuelle Kriege mit innerstaatlichen Erpressungen vergleichen. Schließlich geht es um

Und wieder einmal zeigt sich Erpressung gewissermaßen als eine Vorstufe des Krieges. Das eine ist innerstaatlich, das andere eine Auseinandersetzung zwischen Staaten. Für die aktuelle Institution in den USA („Correlates of War Project“) hat ein Krieg 3 Merkmale: 1) Akt der Gewalt 2) hohe Intensitätsschwelle und 3) mehr als 1.000 Tote pro Jahr (Statistik von1816 bis heute). Die Definition ist simpel und dient nur zu Analysezwecken

Machen wir ein Gedankenexperiment! Meine Frau hat kräftig mitgemacht bei „Omas gegen rechts“. Das war sicher wichtig, aber Gottseidank gefahrlos. Angenommen, 10.000 junge und alte Omas hätten sich festgeklebt, weil die AfD nicht bald vor Gericht kommt. Dann hätte unsere Gesellschaft vor einem echten Problem gestanden: Bürgerkrieg oder Erpressung? Unsere Gesellschaft steht vor dem Dilemma: Streiks haben einen legitimen Zweck und setzen unsere Regierung nicht schachmatt. Erpressungen dagegen setzen die gewählte Regierung außer Kurs.

  1. Unser Dilemma

Wir versuchen, die Bewältigung des sozialen Problems zu rekonstruieren. Ein Schema soll vier Schritte der Bewältigung des sozialen Problems ausmachen.

Zunächst erkennt eine Gruppe von Menschen ein Problem, das von Betroffenen unterschiedlich bewer­tet wird.

Ein 2. Schritt besteht darin, dass dieses Problem ausreichend analysiert wird, etwa so: worin besteht es, wer ist betroffen, wer sind die Ansprechpartner usw.? Wichtig ist, dass kompetente Gewerkschaften bei dieser Klärung helfen.

Danach folgt ein 3. Schritt, der klären muss, ob das ein Problem der Politik (z.B. Strukturproblem) ist oder anders (z.B. durch Demonstrationen gegen eine insuffiziente Regierung) gelöst werden muss. Auch bei diesem Schritt ist Gewerkschaftshilfe notwendig.

Am Ende dieser Überlegungen steht die Frage, ob wir ein Problem lösen, ohne dass jemand beschädigt wird.

Es gibt ein Grenzproblem: Streik der ärztlichen und nichtärztlichen Mitarbeiter in einem Krankenhaus. Die streiken gegen die Arbeitgeber vom Öffentlichen Dienst, indem sie den Patientenstand (außer in nicht aufschiebbaren OPs) einbeziehen.  Angenommen, es gäbe keine Einigung. Letztenendes wären die Patienten dann die Leidtragenden, obwohl die Arbeitgeber die Verhandlungspartner sind? Gut, dass die Patienten nur marginal bestreikt werden. Aus Streiks werden erpresserische Aktionen.

  1. Worin besteht Erpressung?

Im Gegensatz zu den Streiks von Ver.di und dem Marburger Bund wollen die Pro­test­aktionen der Landwirte, Klimakleber und der Bahn die Gesellschaft erpressen, d.h. die Gruppe der Betroffenen nicht adressieren. Hier eine Aufzählung der Protestierenden mit ihren Forderungen und Zielen bzw. Zielver­wei­gerungen:

Was ist daran Erpressung? In allen Aktionen geht es natürlich um mehr Lohn, aber auch um Bedingungen, die direkt mit der Gesellschaftsplanung zusammenhängen. Die hier genannten Proteste betreffen Forderungen, die keine Lösung für die Gesellschaft bringen, sondern nur für die streikende Gruppe. Gruppennutzen statt Sozialnutzen?

Proteste der Landwirte

Ihnen geht es zunächst nur um die Austarierung eines gerechten Lohnes für Produzenten und Kunden, was vor allem die Billigpreise in den Discountern betrifft. Die Marktwirtschaft kann das nicht ändern. Insofern wenden sich die Bauern an die falschen Adressen.

Das Szenario des Bauernprotests hat mich sehr aufgeregt, weil er mehr ist als ein Streik. Hier einige Beobachtungen:

  • Kürzlich las ich ein Schild auf einem Traktor, darauf stand: „Landwirtschaft war immer schon grün“. Denken wir an Glyphosat, Viehtransporte, Schreddern männlicher Küken und andere bäuerliche Inhumanitäten!
  • Was mich noch weiter stört: Die Bauern haben (leider) die Unterstützung der AfD akzeptiert. Schuld ist natürlich Habeck.
  • Traktor (Quelle Pixabay)
    Traktor (Quelle Pixabay)

    Ein Riesentraktor (beängstigend wie ein Leopard Panzer) mit Reifen, die etwas größer sind als ich, muss erst einmal finanziert werden. Übrigens, ein Traktor kostet laut Google ab 50 PS rund 790 € pro PS (also ein 100-PS-Traktor kostet rund 79.000 €). Unser Auto ist billiger. Dafür braucht man gewiss keine Subvention für Agrardiesel.

  • Die Subventionen der EU nützen nur den großen Bauern, nicht den kleinen Bauern. Schuld ist der Habeck. Höchste Zeit, mit den großen Traktoren nach Berlin zu fahren. Habeck ärgern!
  • Übrigens, solche Planungsfehler konnten auch nur der Bauerngewerkschaft (DBV) unterlaufen. Gewerkschaften mit Format wäre das nicht passiert. Protestieren, ohne die Probleme der Gesellschaft zu analysieren?

Die Gesellschaft wird erpresst, nicht weil die Bauern vernünftige Forderung haben, sondern weil sie die Regierung unter schärfsten Druck setzen. Schuld war natürlich Habeck. Wer hat die Ampel gewählt? Hoffentlich kein Bauer. Sonst hätten sie sich ins eigene Knie geschossen.

Und bei der „Letzten Generation“?

Ihr ging es um Beschleunigung des Klimaschutzes, aber die ging nicht schnell genug. Also Erpressung. Verkehr wurde blockiert, und die Gesellschaft hat nur eine Chance, schneller zu machen, indem sie Verkehr wieder flüssig macht und die Luftverschmutzung fördert. Übrigens, viele sind dafür, den Klimaschutz schneller voranzubringen. Aber was nicht klappt, ist die Langsamkeit der Gesellschaft, die Gleichheit und Gerechtigkeit für alle Betroffenen fordert. Ist der Klimawandel existenzgefährdend? Meines Erachtens ja. Aber kann man protestieren, ohne die Neinsager zu respektieren, wenn nicht alle hundertprozentig sicher sind? Und vor allem: Kann man Menschen unter Druck setzen, um die Regierung zu erpressen?

Kommen wir zur Bahn.

Bei diesen Streiks ging es um Lohn und die 35-Stundenwoche. Betroffen war nicht nur die Reisenden auf Lang- und Kurzstrecken, sondern auch der Güterverkehr. Es wird klar, dass die GDL mit ihrem Streik gegen die DB zwar Finanzielles erreichen will, aber auf dem Hintergrund des gefährdeten Klimaschutzes (Bahn statt Auto) agiert sie nach dem Motto: Wenn Ihr nicht zahlt, drohen wir mit der Klimakatastrophe für die ganze Gesellschaft. Denken wir an sog. Streiks gegen die DB durch Gütertransport oder Fahrt zur Arbeit bzw. zur Schule samt Auswirkung auf die Firma, die Kollegen bzw. die Ausbildung.

Wer war der Dumme bei diesen Dreien? Vor allem die Gesellschaft. Kann sie die Probleme lösen? Wahrscheinlich nicht. Es ist sehr schwer, die Protestszene von den Problemen zu trennen. Die Regierung wie auch die von ihr (falsch?) gelenkten Gesellschaft stehen vor der Wand, fühlen sich instrumentalisiert.

  1. Demonstrationsgebot

Der legendäre Gewerkschaftsvorsitzende Carl Legien schrieb 1899: Man müsse mit den Streiks aufpassen, dass es nicht „zum sogenannten Kladderadatsch kommt und dass wir genötigt sind, auf den Trümmern der Gesellschaft Einrichtungen [= Verbesserungen] zu schaffen, gleichviel ob sie besser oder schlechter sind, wie [?] die jetzigen. Wir wünschen den Zustand der ruhigen Entwicklung.“

Übertragen wir das alte Zitat auf heute. Es geht nicht um eine konservative, linke oder grüne Einstellung. Wir müssen vielmehr bei allen Aktionen achtgeben, dass die Gesellschaft sich fortentwickelt, wir müssen also begreifen, was die Entwicklung stabilisiert oder blockiert. Bei den 3 Protestaktionen, die hier beschrieben wurden, hat das leider keine Rolle gespielt und es kam, wie Carl Legien schrieb, zum Kladderadatsch.

Unsere heutige Gesellschaft ist eine kooperative Gesellschaft. Viele Firmen, auch aus verschiedenen Ländern, stellen etwas her, das in einer weiteren Firma zusammengebaut wird. Ein Beispiel aus Skandinavien (Bericht aus der Süddeutschen): Die Skandinavier, allen voran die Schweden versuchen, Elon Musk auszuhebeln, weil in einem E-Auto von Tesla ca. 10 kg Glimmer für die Ummantelung der Batterien benutzt werden, das in Madagaskar auch von Kindern abgebaut wird. Schwedische Teslafahrer unterstützen die Protestierenden an den verschiedenen Streikorten mit Süßigkeiten, Semla (schwedische Backware mit Sahne – für jeden Streikenden eine Semla), Gummibärchen usw. Nicht jeder hat die gleiche Meinung, aber viele stehen dem Ziel bei, das der ganzen Gesellschaft nützt.

Die Tesla-Demo der Skandinavier ist die Antwort auf das (m.E. leider abgeschwächte) Lieferkettengesetz der EU. Es geht um eine Gesellschaft, die gegen Autobauer zu Felde zieht, die ihre nationale Verantwortung unterlaufen. Der Unterschied zu den 3 hier diskutierten Demonstrationen in Deutschland ist: gegen etwas demonstrieren, was nur der eigenen Gruppe nützt. Übrigens, hierzulande wird gegen das Lieferkettengesetz der EU nicht demonstriert. Das bedeutet:

  • Demonstrationsziele

Der frühere Richter im Bundesverfassungsgericht Peter Müller (ausgeschieden 2011) hielt die Demos gegen rechts für gelungen. Er verglich sie jedoch mit den Demonstrationen gegen Netanjahus Rechtsänderung in Israel. Je konkreter desto gezielter. Sind diese Demos gegen rechts wirklich konkret? Und erreichen sie auf Dauer ihr Ziel? Wird sich herausstellen. Wenn die Zahlen der Bundes- und Landtagswahl für die AfD zurückgehen, sind der Grund dann die Demos oder eher die Spaltung der Gesellschaft, der aggressive Ton, die Verbindungen zu Russland und China usw.?

Wichtig wäre in einer repräsentativen Demokratie nicht nur, dass die Parteien über Wohl und Wehe der Nation entscheiden. Die Gesellschaft muss den Parteien sagen, was ihre Nöte sind: Etwa die Bürokratie, die Gesellschaft, ihre Gerechtigkeit und Freiheit kaputtmacht – die Aggressivität, die Zusammenleben untergräbt usw. Um den vorzubeugen, brauchen wir konkretere gezieltere Demos. Aber seien wir stolz für den guten Anfang.

  • Verteilte Produktion

Unsere Gesellschaft ist auf verteilte Rollen der Herstellung aufgebaut. Beispiel: Die einen stellen etwas her (etwa Autos), wobei sie ohne bestimmte Teile (etwa Batterien) nicht arbeiten können. Lieferketten bestimmen unsere Wirtschaft. Streiks sind erst dann sinnvoll, wenn die Bestreikten auch die Beeinträchtigungen der anderen berücksichtigen. Die Aktionen der Landwirte, der Letzten Generation und der Bahn ignorieren die verteilten Rollen der ganzen Gesellschaft und hoffen nur auf den eigenen Vorteil.

  • Interaktion ohne Kommunikation?

Was in der Betriebslehre begann, wurde mehr und mehr zum philosophischen Prinzip (etwa Habermas). D.h. nicht nur der eine nimmt Kontakt, Rücksprache und Absprachen mit dem anderen auf, Gleiches tut auch der andere. Nur so funktioniert Gesellschaft. Man muss darauf achtgeben, dass die Vor- und Nachteile für alle, die in der Interaktion verbunden sind, ausbalanciert werden. Gerade die Aktionen der Landwirte, der Letzten Generation und der Bahn haben gezeigt, dass die Berücksichtigung der Gesellschaftsinteressen ausgeblieben ist.

  • Missverstandener Konsens

Ein Konsens heißt nicht, dass alle die gleiche Meinung haben. Beispiel: Demo gegen rechts. Nicht alle Demonstrierenden verstehen das gleiche unter Demokratie (etwa: repräsentative oder direkte Demokratie, mit oder ohne Menschenrechtsanschluss usw.). Aber alle Demokraten, egal von welcher Demokratieform, ziehen an einem Strang.