IN DER HÖHLE DES DATENSCHUTZES … 7:30 Uhr … ich betrete zu dieser unmenschlichen Zeit die Arztpraxis und werde am Empfang eingecheckt. Ich sage wahrheitsgetreu meinen Namen, nenne mein Geburtsdatum und füge an, dass ich schon mal da war. Die junge Frau kommuniziert mit ihrem Computer (weniger mit mir) und fragt dann: „Sie kommen wegen der Hüfte?“ Ich verneine und nenne meinen Ellenbogen als Ursache meines Arztbesuches. Sie bittet mich noch eine Weile im Wartezimmer Platz zu nehmen. Eine Weile ist in einem Wartezimmer meistens eine recht lange Zeit. Der Raum hat den Charme eines 5-Sterne-Kühlschranks, aber immerhin hängen hier statt der üblich Mark-Rothko-Praxis-Bilder extravagante Kunstwerke; also solche, die aussehen, als hätte der Künstler seine Pinsel auf einem Blatt Papier gesäubert und anschließend Gefallen an der Kleckserei gefunden. Bestimmt heißen die Schinken „Metamorphose“ oder „Ohne Titel“, denke ich. Dann betritt Jochen Müller (Name natürlich!!! verändert) die Bühne. Ich kenne ihn von früher, aber mir war sein Name entfallen. Jochens Geburtsdatum ist der 12.4.60. Guck an, denke ich, ich wusste gar nicht, dass er jünger als ich ist. Jochen wirkt sportlich, geradezu durchtrainiert, was mich etwas neidisch macht. Doch dann erfahre ich aufgrund des Nachfragens der Arzthelferin, dass er arge Rückenprobleme hat (die MRT-CD hat er dabei), jetzt aber vor allem der Hände wegen da ist. Siehste, denke ich, Sport nützt nicht immer was, was mein anfängliches Neidischsein leicht zerbröselt. Kurz darauf erscheint Gerda Schmidt, geboren am 23.8.61. Sie hat Hüftprobleme und wurde deswegen auch schon beidseits operiert. Mit dem Krankenhaus, in dem ich früher gearbeitet habe, war sie sehr zufrieden. „Kann ich nur empfehlen“, sagt sie. Gerda kennt Jochen und beide starten eine interessante Unterhaltung über Gartenarbeit, wobei ich erfahre, dass Jochen kaum mehr in der Lage ist, die Gartenschere zu halten und Gerda bereits im Ruhestand ist. Als nächstes kommt Jelisaweta Zwetkova keuchend aus dem Aufzug. Eine Karte hat sie nicht dabei, das Geburtsdatum erfahre ich leider auch nicht. Ich sag mal, sie ist so zwischen 60 und 70. Sie habe Beine, sagt sie im gebrochenen Deutsch auf die Frage nach dem Behandlungsgrund. Also auch Beine, denn offensichtlich – sie zeigt mit beiden Händen auf den ganzen Körper – tut eigentlich alles weh. Viel weh, aber Beine, Beine, stöhnt sie. Trotz fehlender Karte darf sie sich setzen. Ausgerechnet neben mir. Sie bringt mich völlig aus dem Konzept: entweder zischelt sie irgendeine Melodie, gähnt, was sie jedes Mal mit einem wou, wou, wou begleitet oder streicht sich stöhnend über die Oberschenkel und klagt: „Beine, Beine.“ Dabei schaut sie mich intensiv von der Seite an, um meine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Ich lasse mich auf das Spiel aber nicht ein. Ich habe keinen Bock, mir ihre Krankheitsgeschichte anzuhören. Nein, Jeslisaweta, auch nicht wenn du lauter stöhnst! Außerdem bekomme ich so die Unterhaltung von Jochen und Gerda nicht mit. Dann erscheint Herbert Krause auf der Bildfläche. Er ist bei der Feuerwehr, verbeamtet und privatversichert. Er ist fünf Jahre jünger als ich, sieht aber älter aus. Bestimmt von der Sauferei; er hat ne fulminante Schnapsnase. Er ist mit dem Fahrrad gestürzt und hat den Finger verstaucht! Gerne hätte ich noch mitbekommen, was die junge Frau – Nina Wagner, geboren am 30.1.82 – für Wehwehchen hat, aber da werde ich reingerufen. Schade, das hätte mich noch interessiert, denn sie wohnt ein paar Häuser weiter.