Über Aphorismen

Ich bin kein Germanist, der die Breite deutschsprachiger Dichtung überblickt. Darum ist das Folgende eine sehr persönliche Ansicht darüber, was den Aphorismus charakterisiert und wie er sich von anderen Formen der Dichtung unterscheidet. Ein gelungener Aphorismus – oder auch Epigramm, zwei Begriffe, die nicht deutlich gegeneinander abzugrenzen sind – muss für mich drei Bedingungen erfüllen.

Er muss einen Gedanken, eine Erkenntnis oder eine Beobachtung – im günstigsten Fall gar eine Weisheit – beinhalten, der oder die über Allgemeinwissen oder das unmittelbar Erkennbare hinausgeht. Er regt das Denken an, selbst dann, wenn er eine Emotion zum Ausdruck bringt. Denkvermögen, argumentative Abwägung und intellektuelle Erkenntnis stehen im Vordergrund vor Stimmung und Gefühl oder verbergen sich zumindest hinter diesen.

Der Inhalt des Aphorismus erschließt sich in der Regel nicht unmittelbar und wie von selbst. Er ist wie ein Stein, den man genauer ansieht, weil man über ihn gestolpert ist oder ein Haken, an dem man im Vorübergehen hängenbleibt. Er verlangt vom Leser, der Leserin, sich einer Mühe zu unterziehen, über ihn nachzudenken, darüber, warum dieses oder jenes Wort ausgewählt wurde, warum es an dieser Stelle und nicht an anderer steht, und was sich hinter dem Eindruck des ersten Lesens verbirgt. Der Aphorismus ist ein Angebot, kein Geschenk. Der Leser muss durch Mühe erwerben, was im Prozess des Entblätterns zum Vorschein kommt und gewinnt dafür Freude an der Entdeckung einer neuen oder anderen Sichtweise auf das Sein. Insofern ist er ein Gemeinschaftswerk von Autor und Leser.

Der Aphorismus drückt den Gedanken, die Einsicht, die Beobachtung, gelegentlich die Emotion, in kurzer, treffender Weise aus. In seiner Kürze kann er eine Erkenntnis vermitteln, für die anderenfalls ein ausführlicher Essay geschrieben würde. Er kann deshalb eine außer-gewöhnliche Auswahl von Wörtern erfordern, die nicht abgenutzter Alltagssprache entstammt, aber dennoch verstehbar ist. Er soll in dieser Auswahl oder auch im Rhythmus von Worten und Zeilen als schön empfunden werden. Er soll Freude bereiten, Freude am Wort und Freude an der Erkenntnis, die sich in ihm verbirgt. Er ist eine Form der Dichtung, aber eine, die sich von anderen unterscheidet.

Mir scheint, dass Gedichte, Poesie, Lyrik meistens eine emotionale Wirkung beabsichtigen. Ich will mich auf wenige Beispiele beschränken. Nehmen wir „Mondnacht“ von Joseph von Eichendorff. Der Dichter vermittelt in treffenden, ausgewählten Worten seine Empfingungen und überträgt dem Leser, der Leserin seine innere Bewegtheit. Er will durchaus nicht Erkenntnisse anbieten, die an den Verstand appellieren. Oder das schöne Gedicht „Das berühmte Gefühl“ von Mascha Kaléko. Auch seine Zeilen sind gereimt, sie spricht vom Sterben, meint aber das schmerzhafte Ende von Liebesbeziehungen. Obwohl sie in Bildern spricht, erschließt sich sofort wovon die Rede ist. Wie bei Eichendorff versteht man, welches Erleben ihre Gefühle bestimmt hat.

Zwar vermittelt auch „Amen“ von Georg Trakl Empfindungen, und doch unterscheidet sich das Gedicht von den zuvor genannten. Hier steht die Vermittlung schmerzhafter Bedrückung ganz für sich, ohne dass sich noch eine konkrete Ursache oder der Anlass für die dunkle Stimmung erschließt. Einzelne Wörter erfüllen nicht mehr die Funktion einer inhaltlichen Aussage, sondern sind nur noch Mittel zum Ausdruck von Stimmung, die sich selbst genügt. So meint Verwestes in der Stube nicht das tatsächliche Vorhandensein eines toten Lebewesens. Formen von Lyrik, die sich auch bei Friederike Mayröcker finden lassen, in denen Wörter sich von ihrem spezifischen Inhalt und Bezug lösen und nur noch Stimmung transportieren, scheinen mir den größtmöglichen Gegensatz zum Konzept des Aphorismus darzustellen.

Hier verlieren sich Wörter nicht im Ungefähren, jedes von ihnen hat seine Bedeutung. Vom ursprünglichen, eigentlichen Sinn entblößte Wörter, die nicht zu Worten werden können, können mit dem Konzept des Aphorismus nicht vereinbar sein. Die komprimierte Form des Aphorismus erfordert denkende Arbeit, hängt also notwendigerweise am Sinn einzelner Wörter, die den Zusammenhang der Worte formen. Von den vorgenannten Formen der Dichtung unterscheidet sich der Aphorismus nicht durch die sorgsame Auswahl der Wörter und die Freude an der Wortwahl, aber er verzichtet auf Reimung und sein spezifisches Charakteristikum ist die äußerst knapp gehaltene Mitteilung eines nicht alltäglichen Gedankens, einer Erkenntnis. Die knappe Form vermittelt ein andere Art von Schönheit als die genannten Beispiele.

Ich will nicht ausschließen, dass eine Leserin in der Interpretation eines Aphorismus zu Schlüssen kommt, die ein Autor nicht im Sinn hatte. Immer jedoch zielt der Aphorismus auf eine beabsichtigte Mitteilung, und die Entschlüsselung des Aphorismus enthält ein identifizierbares Geleit zu dieser, damit im besten Fall zu Erkenntnis, Freude und Schönheit. Wenn er zur Quelle eines inspirierenden Gespräches wird, mag er zudem Gemeinschaft stiften. Abschließend will ich auch hier Beispiele nennen.

Von Mäusen und Menschen

Weder gibt es viele Mäuse wegen der Anzahl ihrer Fressfeinde noch umgekehrt.

Ihre Entwicklung ist nur abhängig von einander erklärbar.

Urteilen

Stets und unter allen Umständen muss das Verstehen dem Urteilen vorausgehen.

Zwischen zwei Menschen kann Ersteres das Zweite ersetzen.

Vertrauen
Vertrauen verdient nicht, der tut, was man von ihm erwartet,
sondern wer verantwortet, was er tut
und nicht sich selbst zum Maß nimmt für das Gute.
Was jedoch gilt für Menschen, die sich nahestehen,
trägt nicht in der Gesellschaft, die auf Vorhersehbares baut.