Picasso mutmaßte, Kunst wäscht den Staub von der Seele. Ich meine: Sie inspiriert außerdem, fordert heraus und klärt den Blick aufs Wesentliche. Kritische, besorgte, aber auch beherzte Nachbetrachtungen auf die 14. dOCUMENTA
Es sollte mal wieder Kassel sein, diese kleine vielgesichtige Schlampe unter den deutschen Städten. Wie schrieb Thomas Gsella: „Die City wie aus Hass gerührt/Der Bahnhof ein Schlamassel/Leb´ du zur Not in Ulm und Fürth/Doch nie, niemals in Kassel.“ Die Wochenzeitschrift „die ZEIT“ sprach einst von der „Stadt ohne Eigenschaften.“ Wir selbst haben hier mit Herz, aber auch Schmerz zeitweilig gelebt und ich muss gestehen, ich vermisse hin und wieder diese Metropole der Menschen, die immer noch meinen, dass ein großer Ausstoß an Qualm aus dem Doppelauspuff mit entsprechendem Lärm und der damit verbunden Geschwindigkeit ihrer aufgemotzten und tiefergelegten Autos ein Zeichen von Macht und Attraktivität ist. Kassel muss man mögen lernen. Wenn man lange Zeit, so wie ich in Münster gewohnt hat, fällt das schwer. Münster wirkt ja manchmal entsetzlich aufgehübscht, ausdruckslos verbeamtet und konsumorientiert aufgeputscht, aber im Gegensatz zu dem Hessenmetropölchen ist Münster allemal lebenswerter und lebendiger. Dennoch, wer sich die Mühe macht, Kassel kennenzulernen, der wird auch dort Orte und Plätze finden, die sich ins Gedächtnis einprägen. Und es gibt kaum eine bessere Möglichkeit dazu, als diese Stadt zu Fuß zu erobern, während hier die dOCUMENTA tobt.
Die alle 5 Jahre in Kassel stattfindende dOCUMENTA ist sozusagen das Weihnachten des Kunstgourmets bzw. der Leute, die gerne welche wären. Und hatte man vielleicht gerade angefangen, einen Kunstbegriff für sich zu definieren, mit dem man halbwegs unauffällig durch die Kunsttempel dieser Welt flanieren könnte, so wird er spätestens bei dieser Gelegenheit wieder böse infrage gestellt. Kunst schläft nicht. Wir hätten natürlich gewarnt sein müssen, denn in der Presse wurde die 14. dOCUMENTA als die schlechteste verrissen und unsere Künstlerfreunde rümpften verächtlich die Nase, weil sie die Veranstaltung für ein der Kunst unwürdiges Spektakel betrachten. Im Gegensatz zu den früheren von mir besuchten Weltkunstausstellungen in Kassel – man sieht, ich bin ein Wiederholungstäter (es ist die 5.) – hatte ich mich in keinster Weise vorbereitet. Ein bisschen im Kunstmagazin „art“ geblättert, was sich eher zurückhaltend äußerte, und ein paar Schlagzeilen in den Medien erhascht, das war´s auch schon an Vorbereitungen.
Doch: Was erwartet man als Kunstgucker und Mensch mit visueller Ausprägung von einem solchen Megaevent? Mir fällt da nur ein Wort ein: Inspiration! Meine Frau und ich wandelten über von uns selbst und vom Zufall geleitete Pfade durch die Stadt und ließen uns überraschen. Oder auch nicht! Viel spannender als die zum Teil hingerotzten Fragmente künstlerischen Schaffens waren oft vielmehr die spontanen Eindrücke, all die vielen Menschen aus den unterschiedlichsten Nationen und die Orte und Plätze, die man trotz guter Stadtkenntnisse nie betreten hat. Ich wäre ein denkbar schlechter Nationalist, denn ich genoss und genieße es absolut, unter all den vielen Südamerikanern, Chinesen, Engländern, Afrikanern und sonstigen Weltbürgern zu weilen. Oh Güte, was muss mit einem Menschen passiert sein, wenn er sich in ausschließlich deutscher Eindimensionalität suhlen muss? Im Grundsatzprogramm der AfD heißt es: „Die Ideologie des Multikulturalismus, die importierte kulturelle Strömungen auf geschichtsblinde Weise der einheimischen Kultur gleichstellt und deren Werte damit zutiefst relativiert, betrachtet die AfD als ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit. Ihr gegenüber müssen der Staat und die Zivilgesellschaft die deutsche kulturelle Identität als Leitkultur selbstbewusst verteidigen.“ Damit wäre wohl eine weitere dOCUMENTA, als multikulturelle Veranstaltung – sowohl was die Künstler, als auch was die Besucher anbetrifft – unter der Ägide von Rechtspatrioten nicht mehr denkbar!
Apropos viele Menschen! Der übergroße Andrang hatte auch einen gehörigen Haken: Mal ungestört vor einem der zahlreichen Objekte stehen und die geballte Aussagekraft auf sich wirken lassen? Fehlanzeige! Manchmal musste man das künstlerische Gebilde seines Begehrens gar suchen, weil es umhüllt von Gleichgesinnten war. dOCUMENTA heißt somit immer auch „finden“ und die gut gemeinten, allerdings grafisch verkorksten Wegweiser halfen da vielfach auch nicht weiter. Neben dem Suchen gab es übrigens noch ein weiteres zeitintensives Unterfangen: Das Warten. So lange Menschenschlangen habe ich das letzte Mal vor den Uffizien in Florenz gesehen.
Wir rollten die dOCUMENTA mit kleinem “d” von hinten auf. Startpunkt: Kulturbahnhof. Man fragt sich, warum gerade an Plätzen die Kunst aus allen Nähten platzt, die eher als Aschenputtel ihr Dasein fristen. Je unwirtlicher die Orte, je größer der kreative Auswurf. Dort, wo man uns bürgerliche Normalität vorgaukelt, können keine Ideen wachsen. Wo Versicherungen, Banken oder Billigklamottenläden aus dem Boden schießen, stirbt die Seele den Tod der Ödnis. Dagegen regt ein Hinterhof, eine seelenlose Nebenstraße die Sinne an und wäscht den Staub von der trüben Seele. Überhaupt zeigte sich, dass die dOCUMENTA an Orten, die außerhalb der üblichen Museen und Mainstreamplätze liegen, eindrucksvoller ist. Vor dem Kulturbahnhof verschwanden Menschen in einem Container und kamen nicht mehr zum Vorschein. Die Auflösung: Dort führte eine Treppe hinunter zu einer unterirdischen Straßenbahn-Haltestelle, deren Existenz sich unserem Wissen bisher entzog. „Der Untergrund vor den flimmernden Bildschirmen besteht aus Gleisbett-Schottersteinen, die sich in die Sommerschuhsohlen bohren. Die vorsichtigen Schritte der Besucher werden klickend und knirschend zum Soundtrack des ansonsten stummen Kunstwerks…“, schrieb die HNA (Saskia Trebing) zur Video-Installation von Michel Auder. Über flirrende Bildschirme liefen Bilder, wie man sie zurzeit alltäglich sieht: Katastrophen, Kriege, Twittereinträge und immer wieder Trump. Irgendwann warf einen der Tunnel wieder ans Tageslicht und man fraget sich, was habe ich gesehen und vor allem: nicht gesehen. Denn Bilder sind fragil: Sie tauchen für einen Moment auf, haben möglicherweise einen gewissen Wiedererkennungswert und beginnen alsbald zu langweilen.
„Ach, hier geht´s um Flüchtlinge“, sagte eine Besucherin im Fridericianum beiläufig und schaut mit Kennerpose auf die dort ausgestellten Objekte. Ja richtig, Flüchtlinge sind die eher bedeutungslosen Subjekte, die schon mal im Mittelmeer sterben, weil sie zuhause nicht bleiben wollen. Was der AfD zum Beispiel scheißegal ist. Mich wühlten manche Exponate auf und sollte ich auch nur mit einem Ergebnis die dOCUMENTA verlassen, so ist es eine Mordswut auf den grassierenden Rechtsradikalismus. Passenderweise stieß ich auf gigantische AfD-Plakate auf grauen Plätzen, passend zum Unterthema der d14. In einem Regal im Fridericianum war u.a. Natodraht ausgestellt. Wunderhübsch silbern. Ja, das würde den Rechten gefallen: Mauern, Zäune, Stacheldraht, Reglementierungen, Abschottung, Freiheitsbeschneidung, Einengung, Machtausübung, Entpersonalisierung.
Und dann – dem Strom der Kunstlemminge folgend – stand man staunend vor dem Parthenon – geschaffen von der Pop-Art-Diva Marta Minujin, wahrlich einer der Hauptattraktionen der dOCUMENTA. 70 Meter lang, 30 Meter breit und 20 Meter hoch. Tausende Bücher waren in Plastik eingepackt in dem Monument verarbeitet. Immer wieder entdeckte ich mir bekannte und auch mir wichtige Bücher in der gigantischen Sammlung. Das Besondere an den Büchern: Sie sind oder waren irgendwo in der Welt verboten. Es ist kaum vorstellbar: Wer hat das Recht zu verbieten, was ich lesen möchte? Doch, es gibt genügend politische Kretins auf der Weltbühne die diese Macht besitzen. Und achtet man auf die Forderungen der Neurechten, die erfolgreich an die Macht drängen, so werden auch künftig wieder Bücher verboten werden. Verbieten, Riegel vorschieben, Entsorgen, Abschaffen, Wegsperren: Das ist das Vokabular, aus dem die Rechten mit beiden Händen schöpfen. Wir sollten achtsam sein! Und was passiert anschließend mit den Büchern? In der Hessenschau (08.06.17) erklärte die Künstlerin. „Ich schenke den Parthenon dem deutschen Staat. Die Bücher sollen an Menschen verteilt werden, die kein Geld haben, um zu lesen. An den letzten vier Tagen der documenta werden die Säulen abgehängt, eine nach der anderen, als eine Kunstaktion.“ Den Moment haben wir leider verpasst.
Die dOCUMENTA ist ein Megaprojekt; irgendwann schmerzten nicht nur die Füße, sondern es streikte auch der Verstand. Außerdem bekam die Kunst eine solche Inhaltsschwere, dass mir die Lust ausging, mich damit intensiver auseinanderzusetzen. Irgendwann konzentriere ich mich auf die Besucher, Menschen aus aller Welt, die nicht nur für Kunst offen sind. Es ist eine friedliche, inspirierende und freundliche Atmosphäre. Immer wieder ein Lächeln, ein wahrnehmender Blick.
Ich machte mir allerdings auch etwas Sorgen. Nicht dass mich jemand falsch versteht, ich amüsierte mich königlich auf der dOCUMENTA und freu mich schon jetzt auf die 15., aber bei so manchem Werk durchdrang es mich, welch frühkindlichen Deprivationsprozesse Pate für die Kakophonie des zu betrachtenden Objekt gestanden haben mussten. So manches Mal kam es mir in den Sinn, der Künstler oder die Künstlerin hat alles schon gesehen, gemalt und gestaltet und kotzt uns jetzt einfach mal seinen ganzen Seiens- und Seelenfrust mehr oder weniger gestaltet vor die Füße bzw. kunstspezifisch gesehen – vor die Augen. Da aber auch ich schon alles gesehen und gehört habe, ließen mich solche Exponate kalt. Es gab aber auch die Bilder oder Videos, die eine andere Wirkung erzielten: Wachrütteln, nachdenklich machen, entrüsten. Da war jede Provokation nur recht. Vielleicht erwarte ich das sogar in der Kunst; Blümchen kann ich auch im Garten bewundern. Bei der Betrachtung einer Videoinstallation mit militärischem Hintergrund, überkam mich der blanke Zorn auf dieses entsetzliche Militärgehabe, diese dümmste und krankste Entgleisung menschlichen Verhaltens. Ich musste die Betrachtung sogar vorzeitig beenden.
Nach und nach setzte eine Art dOCUMENTA-Erschöpfungssyndrom ein. Wir brachen ab. Unsere Auffassungsgabe ist nun einmal endlich. Stille in einem Café! Nur jetzt keine Menschen mehr! Da wir noch eine Kleinigkeit besorgen mussten, betraten wir die Einkaufspassage City-Point. Als würde man uns eiskalt duschen, wurden wir blitzartig wach. Etliche Stunden waren wir eingelullt von einem bunten Konglomerat aus Imagination, Traumwelt, Philosophie, Provokation, Kopfkino und ein von Kunst gestreicheltes Liebesleben, nun hatte sie uns wieder, die schnöde, eiskalte Plastikwelt, in der sogar die sich in ihr bewegenden Menschen künstlich wirkten. Ich wurde das Gefühl nicht los, ein Leben in und mit Kunst wie auf der dOCUMENTA ist das eigentlichere, lebendigere Leben. Der Rest ist Plastinat!