Manche meinen, Visionen wären etwas für Spinner. Mona meint: Wenn wir unsere Visionen zusammentragen, wird eine Gesellschaft daraus. Eine richtige!
Ich war tief in die Altstadt vorgedrungen und traf dort auf ein Konglomerat von kleinen Geschäften, Galerien, Cafes und Plätzen. Hier sprühte es vor Kreativität und ich würde behaupten, dass solche Bereiche, vorausgesetzt, sie sind nicht bereits stupiden und lebensentfernten Stadtplanern zum Opfer gefallen, die wahren Energiezentren und Oasen einer Stadt sind. Inzwischen mache ich einen großen Bogen um Malls, Bankenviertel und andere sinnentleerten Areale, denn sie sind von einem Schimmelpilz der Entfremdung von uns selbst, den Mitmenschen und der Natur befallen. Eine halbe Stunde Einkaufspassage und ich habe das Gefühl, der Dreck des Kapitals regnet auf mich herab.
Beinahe hätte ich den eher unscheinbaren Eingang übersehen. Nur aus dem Augenwinkel nahm ich diesen ungewöhnlichen Namen wahr: Visionothek. Ich vergewisserte mich noch einmal: nein, nicht Videothek, sondern Visionothek. Eine wachsende Neugierde ließ mich die Klinke einer alten Holztür runterdrücken und schon stand ich in einem Vorraum, dessen sanfter Pastellton an eine Galerie erinnerte. Von hieraus schienen verschiedene Gänge in das Hausinnere zu führen. Überall standen Regale, die zum Teil mit Büchern, zum Teil mit Karteikästen gefüllt waren. Dazwischen kleine Arbeitsbereiche, ausgestattet mit einfachen, zum Teil abgenutzten Tischen und Stühlen. Wie ein staunendes Kind stand ich in einer Welt, die mir neu war. Ein Novize in der Welt der Visionen.
Hallo und willkommen, begrüßte mich eine weibliche Stimme und erst als ich mich aus meiner Verwunderung und Überraschung allmählich löste, nahm ich die junge Frau wahr, die auf einem Stuhl saß, ein Buch in ihren Händen hielt und auf den ersten Blick sehr sympathisch wirkte. Sie entkräftete auch meinen anfänglichen Eindruck, es ginge hier mit esoterischen Dingen zu, denn Mona, wie sich die junge Frau später vorstellte, wirkte eher wie eine geerdete, moderne und weltoffene Person, was mir meine Situation durchaus angenehmer machte. Ich las im Eingangsbereich den Satz „die Welt ist ohne einen neuen Traum nicht zu retten“.
Du bist das erste Mal hier, fragte sie mich. Ich nickte und erlebte mich ein wenig verunsichert, was möglicherweise auch an Mona lag, die unglaublich viel Selbstbewusstsein, Sicherheit und Souveränität ausstrahlte, sich aber gleichzeitig eine beneidenswerte Natürlichkeit bewahrt hatte. Eine Spezies Mensch, wie man sie nur selten traf. Es ist verrückt, versuchte ich in ein Gespräch mit ihr einzusteigen, noch neulich saß ich mit einem Bekannten in einem Café. Wir unterhielten uns über Visionen und bemerkten dabei, wie schwer es ist, sie in Worte zu fassen. Nun befinde ich mich in einer Visionothek. Was erwartet mich hier?
Sinn einer Visionothek ist es zusammenzudenken und –zuarbeiten. Der Einzelne vermag wenig zu bewirken, daher ist es notwendig, wenn sich Menschen zusammenschließen, um eine Vision zu gestalten. Die Visionothek zeigt aber auch, welche Wege die falschen sind oder waren. Viele, ja sogar die meisten, die hier hereinschneien, haben Spuren ihrer Visionen hinterlassen, die du in den Karteikästen findest. Wieder andere haben diese Spuren aufgenommen und vervollständigt. Daneben gibt es eine Fülle von Büchern von berühmten Visionären, Menschen, die der Gemeinschaft entscheidende Impulse gaben oder immer noch geben.
Und die vielen Gänge, fragte ich weiter, welche Funktion haben die?
Du musst dir diesen Ort wie eine Art Landkarte vorstellen, auf der Wege eingezeichnet sind. Manche Besucher verschwinden schnell wieder, weil sie auf dem Holzweg sind, wie ein Gang heißt.
Holzweg, fragte ich verwundert.
Ja, viele Menschen haben die Vision, möglichst viele materielle Güter anzusammeln. Ihr Traum ist es reich zu sein oder Macht ausüben zu können. Die Visionothek zeigt, dass dieser Materialismus und Kapitalismus nichts Anderes ist, als ein Surrogat für ein falsch gelebtes Leben. Macht, Wettbewerb, Geld oder Besitz sind vielmehr Ersatzbefriedigungen für ein enterotisiertes Sein. Die Menschen haben diese Visionen, weil ihre Sinne verkümmert sind. Kennst Du das Zitat von Fritz Perls? Ich schüttelte den Kopf. Es lautet: Wir sollten endlich den Verstand verlieren und zu Sinnen kommen. Schön nicht wahr?
Mona konnte sich über solche Sätze freuen wie ein kleines Mädchen. Dann führte sie weiter aus und ich konnte ihr stundenlang zuhören: Unsere Leidenschaften sollten wieder mehr die Oberhand gewinnen und zu diesen Leidenschaft gehört auch die Erotik. Wir meinen in einer erotischen Welt zu leben, weil wir sie kaufen können und ständig präsentiert bekommen, aber wir leben sie nicht. Wir sind enterotisiert. Und was macht der erfinderische Mensch: Er sucht sich eben solche primitiven Dinge wie Macht oder Geld. Erfahren Besucher auf unserem Holzweg diese Erkenntnis, reagieren sie betroffen oder gar verletzt. Niemand hört gerne, dass er so einfach gestrickt ist. Hast du eine Vision, fragte sie mich unbefangen und fast fühlte ich mich ein wenig überrumpelt von dieser Frage. Dachte sie gar, ich sei ebenfalls so ausgerichtet, wie die Holzweggänger? Ich setzte mich auf einen der Stühle, so als könnte ich im Sitzen besser auf diese Frage reagieren. Nach einer Weile des Nachsinnens erwiderte ich ihr: Vielleicht habe ich sogar mehrere Visionen, eine davon ist ein Traum, den ich nicht für umsetzbar halte. Das andere sind Ideen und Vorstellungen, die zu diesem Traum hinführen.
Magst du von deinen Traum erzählen, fragte meine Gesprächspartnerin vorsichtig und lächelte mir aufmunternd zu. Mein großer Traum, so begann ich, ist die Vision von einer Gemeinschaft, in der es gerecht, friedlich, gewalt- und machtfrei zugeht. Es ist die Vision von einer anarchistischen Gesellschaft, fügte ich nach und schaute dabei auf ein Zitat von Marcuse, das mit Heftzwecken an einer Pinnwand, von denen es hier reichlich gab, befestigt war: die eigentliche Katastrophe liegt in der bevorstehenden totalen Verblödung, Entmenschlichung und Manipulation des Menschen. Die Vision einer idealen Gesellschaft, nickte Mona. Diese Vision ist sehr beliebt. Schau dort, sie zeigte auf das Hinweisschild Utopia. Viele haben erkannt, dass unsere Gesellschaft keine Gemeinschaft ist, sondern eher an eine Krankheit erinnert. Von daher ist Utopia – schau wie viele darüber geschrieben haben und dabei machte sie eine Handbewegung zu einem Regal am Ende des Utopiabereiches der Visionothek – ein alter Menschheitstraum. Doch dann verfinsterte sich etwas ihr Gesicht: Utopia ist ein schöner und sehr alter Gedanke, doch es ist eben ein Traum und den sollten wir deutlich von Visionen trennen. Solange die Menschen eher dazu beitragen, die kranke Gesellschaft voranzutreiben, müssen wir erst einmal an der Verbesserung der Symptome arbeiten. Selbst Visionen sollten einen Touch von Realisierbarkeit und Nähe zu uns selbst und der Natur, auch der Natur des Menschen, besitzen. Sonst wird deine Vision zu einer Sackgasse. Die wenigsten schaffen es, dann zu wenden, sondern verharren in der Falle.
Was ist deine Empfehlung, was kann zu dem Utopiagedanken hinführen, unterbrach ich ihre beherzten Ausführungen. Ich gebe keine Empfehlungen, sagte Mona. Jeder, der hier reinschaut und an Visionen arbeiten möchte, soll selbst zu einer Lösung kommen. Doch ich möchte dir dennoch Folgendes dazu sagen: In jedem Menschen stecken kreative Anlagen, nur gibt es jede Menge Kräfte, die eben diese Kreativität unterdrücken. Der Reichtum von uns Menschen ist nicht das Geld, sondern die schlummernden kognitiven Möglichkeiten. Und statt sie zu lehren, zu ihrem inneren Kern vorzustoßen, dort wo die menschliche Fantasie wie ein kostbarer Bodenschatz verborgen liegt, bringt man uns Menschen bei, oberflächlich und leidenschaftslos zu leben, an der Peripherie zu vegetieren. Es müsste in jeder Schule ein Fach geben, das heißt: Angewandte Fantasie.
Ein schöner Gedanke, warf ich ein. Doch was sollte ich ganz individuell tun, um meine Visionen zu realisieren? Statt mir zu antworten, erinnerte mich Mona an meine Aussage, neben einem Traum von einer idealen Gesellschaft Gedanken und Vorstellungen zu haben, die dorthin führen. Eine ganze Weile entstand eine Stille, es war nicht unangenehm, sondern eher eine Zeit des Überlegens. Ich denke, begann ich zögernd, diese Gedanken und Vorstellungen setzen bei mir selbst an. Ich möchte mich aus dieser Isolation herausbewegen, in die mich der allgegenwärtige Individualismus gebracht hat. Ich möchte Grenzen aufsprengen und mich lösen von all dem Stumpfsinn, der mich umgibt. Ich möchte kein Befehlsempfänger fremden Willens mehr sein. Ich möchte aus dieser Gefangenheit ausbrechen, diesem Normdenken und und und. Ich redete mich in Rage. Mona war aufgestanden und zog ein Buch von Robert Jungk aus dem Regal: Der Jahrtausendmensch. Hier, eine schöne Stelle, und dann las sie vor:
„Die Mehrheit der Menschen sieht nicht, weil sie nicht sehen will, sondern weil sie lieber anerzogenen stereotypen Vorstellungen nachhängt; und sie hört nicht, weil sie nur hören will, wenn das Gehörte der eigenen, bereits zuvor festgelegten Meinung entspricht“.
Dann schloss sie das Buch und fuhr fort: Wir müssen lernen, erfahrbereit zu werden und das bedeutet uns zu öffnen. Leider ist es so, dass Menschen, die diesen Öffnungsprozess vollzogen haben, immer wieder Anfeindungen ausgesetzt sind, weil ihre Umgebung nicht bereit dafür ist. Das führt dazu, dass sich diese Menschen wieder verschließen. So gehen der Gemeinschaft wertvolle Kräfte verloren. Menschen mit Träumen, Fantasien, Visionen und Ideen sollten unsere Parlamente besetzen und nicht Büropolitiker, die jeglichen Kontakt zur Basis und damit zu den Fragen des Menschlichen verloren haben.
Die Tür öffnete sich und ein junger Mann trat ein. Er wurde von Mona herzlich begrüßt, offenbar ein alter Bekannter hier. Ich muss dich nun dich selbst überlassen, sagte sie freundlich in meine Richtung. Vielleicht hast du Lust, weiter zu stöbern.
Vielen Dank, sagte ich. Sie hatte das Buch von Jungk auf dem Tisch liegen lassen. Ich blätterte durch und blieb bei einer Stelle haften, die blau markiert war: „Ein neues Leben beginnen. Aufgeben, was bisher war. Tun, was man eigentlich vorhatte. Selbst steuern, statt getrieben zu werden. Sich zurückziehen. Sich sammeln. Nachdenken, Reisen irgendwohin, ohne vorher bestimmtes Ziel, in der Hoffnung eine Richtung zu finden. Mit der Welt und sich selbst ins Reine kommen. Man müsste. Man sollte“. Ich verabschiedete mich und winkte Mona zu. Du hast wunderbare Visionen, sagte sie zum Abschied. Danke, erwiderte ich, fast ein wenig eingeschüchtert und beim Rausgehen dachte ich darüber nach, zuhause an meinen Visionen zu arbeiten. Heute noch!