In Deutschland gibt es das grassierende Geschwür des Rechtspopulismus. In Grundsatzpapieren oder Parteiprogrammen werden menschenverachtende und rückwärtsgewandte Parolen verbreitet, die unsere Gesellschaft in die Zeit der Weimarer Republik zurückversetzen sollen. Damit ist die Grenze einer gesellschaftlichen Verhältnismäßigkeit überschritten und Widerstand erforderlich – und legitim.
In der juristischen Nomenklatur existiert der Begriff Verhältnismäßigkeit, der vielfach auch in unserer Alltagssprache Verwendung findet. Zum Beispiel dann, wenn wir zum Ausdruck bringen wollen, dass etwas eine Grenze überschritten hat oder nicht mehr mit den gewohnten oder verabredeten Vorstellungen zu rechtfertigen ist. Verhältnismäßigkeit ist ein recht unscharfer Begriff mit einer „diffizilen Dogmatik“ (1). Unscharf deswegen, weil keine klaren Vorgaben oder Paragraphenverweise – wie im juristischen Bereich gewohnt – existieren, die das Verhältnismäßige sicherstellen. Es ist eher eine Abwägung, eine Angemessenheitsprüfung zwischen kollidierenden Positionen und lässt damit viel Raum für Handlungsalternativen. Innerhalb unserer in Deutschland festgelegten Rechtsstaatlichkeit zählt das Konstrukt der Verhältnismäßigkeit zu den fundamentalen Gerechtigkeitsprinzipien. Es folgt den Prämissen des legitimen Zwecks, der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit. „Die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes soll damit sicherstellen, dass der Bürger der staatlichen Gewalt nicht unbegrenzt und willkürlich ausgeliefert ist.“ (1)
Ob die Verwendung des Begriffs Verhältnismäßigkeit auch in einem allgemeinen gesellschaftlichen Kontext existiert, entzieht sich meinen Recherchen, mag aber sicherlich bereits an anderer Stelle entsprechend verwendet worden sein. Ich verstehe unter einer gesellschaftlichen Verhältnismäßigkeit eine übergeordnete Sichtweise. Durch sie werden Grenzen menschlichen Verhaltens vereinbart, wobei es sich nicht um rechtliche Abgrenzungen, Vorschriften oder Staatsformen handelt, sondern um ungeschriebene Grenzlinien, die aus der Geschichte, der Kultur oder den Umgangsformen entstehen, sich aber auch auf ein kollektives Gefühl des Zusammenlebens beziehen.
Verhältnismäßigkeit setzt drei Grundannahmen voraus: 1. Ein bestehendes Verhältnis bzw. eine Art gesellschaftliche Ebene, 2. ein Zustand, der in einer Diskrepanz zu dieser Basis steht und 3. Reaktionen auf diese Kluft oder Differenz.
Das bestehende gesellschaftliche Verhältnis
Wir haben in Deutschland viele Jahrhunderte gebraucht, um von diktatorischen oder auch monarchischen Vorstufen zu einem gesellschaftlichen Verhältnis zu gelangen, das im Vergleich zu vielen anderen Herrschaftsformen eine tragbare Grundlage für das kollektive Miteinander garantieren soll. Gemeint ist die Demokratie, die Herrschaft eines Staatsvolkes. Fraglich ist allerdings, ob eine Herrschaft und somit Machtausübung über was auch immer der Wahrheit letzter Schluss ist. Im Gegensatz zur Anarchie in ihrer ureigentlichen Bedeutung als Ordnung ohne Macht, existieren bei der aktuellen (!) Demokratie eine Reihe von zum Teil aus dem Ruder gelaufenen Reglementierungen und Bevormundungen, einer überbordenden Bürokratisierung des öffentlichen Lebens, sowie eher als oligarchisch zu nennenden Einflüssen durch Wirtschaft oder Geldinstitute. „Das Projekt Demokratie ist vielerorts auf entkernte formale Prozeduren reduziert“ (2)
Bei aller Kritik, ob der hiesige Parlamentarismus überhaupt als Demokratie zu bezeichnen ist, handelt es sich dennoch um eine Staatsform, die von den meisten in ihr lebenden Menschen mitgetragen werden und die durch in ihr innewohnende Legislative einen erheblichen Schutz der Bürger gewährleisten kann. So ist es gelungen, mit einer breiten Meinungsvielfalt leben und den menschenverachtenden Faschismus des letzten Jahrhunderts hinter sich lassen zu können. In einer Art gesellschaftlichem Konsens einigte man sich auf Grundnormen wie Gleichberechtigung, Religionsfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit, freien Zugang zur Bildung, Sicherung eines Überlebensminimums, die Ermöglichung einer breit gefächerten Kultur durch staatliche Unterstützung oder die Integration von Menschen aus anderen Kulturen oder Herkunftsländern. Diese Werte, die man im Allgemeinen auch mit Demokratie in Verbindung bringt, basieren auf einem hohen gesellschaftlichen Einvernehmen und werden hier vor allem auch durch viele humanistisch orientierte Gruppierungen mitgetragen. Selbst in einigen fortschrittlichen christlichen Bereichen öffnet man sich beispielsweise für gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften oder die Gleichstellung von Mann und Frau. Zahlreiche Interessenverbände ohne Parteianlehnungen setzen sich in zum Teil selbstloser Weise seit Jahrzehnten für oben genannte Werte ein.
Ein größtmöglicher gemeinsamer Nenner dieser Wertegemeinschaft ist die Ermöglichung einer optimalen Persönlichkeitsentfaltung unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung, Herkunft, Religion oder sozialer Schichtzugehörigkeit. Das Streben nach Freiheit und des Sich-Frei-machens von störenden Bindungen ist in der Psychotherapie ein zentrales Thema, was zeigt, dass es eine dem Menschen sehr bedeutsame und natürliche Bestrebung ist. Während für kleine Kinder das Beibehalten des Gewohnten und der Schutz durch die erwachsenen Beziehungspersonen (Autoritäten) erforderlich ist, streben Jugendliche mit zunehmenden Alter nach Loslösung von Einschränkungen oder Abhängigkeiten und somit nach innerem Wachstum. Der zurzeit zu beobachtende Rechtsruck in der Gesellschaft ist in dieser Hinsicht als eine Form der Retardierung zu sehen, also einer Wachstumshemmung.
Auch ein Blick in die Kultur, wie z.B. Literatur oder Kunst, zeigt, dass die Freiheit und Loslösung von Zwängen und Bevormundungen eine dem Menschen innewohnende Tendenz darstellt. In den Bibliotheken finden sich meterweise Buchreihen, die diesen Freiheits- und Selbstverwirklichungsdrang zum Ausdruck bringen. „Dem Menschen, der seine Freiheit gefunden und seine Gleichwertigkeit mit anderen entdeckt hat, ist Angst ein Vergehen, eine sklavische Eigenschaft.“ (Rudolf Dreikurs (Selbstbewusst“ dtv-dialog und praxis, 1971)
Diskrepanz durch rechtspopulistische Gegenbestrebungen
Zu Beginn dieses Jahrzehnts entstanden zahlreiche miteinander verwobene rechtspopulistische Gegenbewegungen, die zum Teil mit gewaltbereiten, verbal aggressiven, sowie menschenverachtenden Gruppierungen kooperieren. Die Rede ist von Parteien wie AfD, NPD, sowie von Protestbewegungen oder Zusammenrottungen a la Pegida, Hogida usw. Es lassen sich hier keine klaren Trennungen mehr vornehmen und obschon vor allem die AfD immer wieder betont, einen anderen Weg einschlagen zu wollen und sich gegen Bezeichnungen wie „Nazis“ wehrt, sind die Verbindungen in (neo-)nationalsozialistische/faschistische Bereiche offensichtlich. Deutliche Abgrenzungen werden nicht vorgenommen. Während nach außen die Wahrung der Werte des christlichen Abendlandes und der Schutz vor einer vermeintlichen Islamisierung des Westens propagiert wird, wodurch sich die Mehrheit der „besorgten Bürger“ unreflektiert angesprochen fühlt, werden eher im Stillen in Positionspapieren oder Parteiprogrammen (wer liest so etwas schon) Inhalte und Ziele erstellt, die eine Verhältnismäßigkeit zu unseren gesellschaftlichen Errungenschaften konterkarieren.
Liest man Parteiprogramme oder Positionspapiere, so fühlt man sich in Zeiten totalitärer Einflussnahme durch staatliche Instanzen zurückversetzt. Mit Parolen wie „Wir sind das Volk“, „Lügenpresse“ oder „Mut zur Wahrheit“, sowie durch völkische Elemente werden Bemühungen kaschiert, die „…an den „Staatsumbau“ der niedergehenden Weimarer Republik…“ erinnern (Helmut Kellershohn, Rechtsextremismusexperte). Die rechtspopulistische Bewegung erhebt den Anspruch, die eigentlichen Interessen des Volkes beziehungsweise von dessen schweigender Mehrheit zu vertreten. Liest man Grundaussagen in Parteiprogramme findet man rückwärtsgewandte Standpunkte, wie – um nur einige zu nennen –
- – Realitätsfernes Familienbild
- – Reduktion der Frauen auf die Rolle der Mutter
- – Eingriffe in die Pressefreiheit
- – Abschaffung von Mindestlöhnen
- – Beförderung von Lohn- und Altersarmut
- – Bevorzugung der Reichen
- – Schießbefehl an deutschen Grenzen
- – Abwertung des Leids von Schutzsuchenden
- – Wiedereinführung von autoritären Schulsystemen
- – Abschaffung von Integrationsmodellen
- – Ausblenden einer geschichtlichen Aufklärung über die Nazi-Zeit
- – Eingriffe in die Freiheit der Kunst durch Reglementierung z.B. von Spielplänen
- – Absprechen der Entfaltungsmöglichkeiten von Menschen unterschiedlichen Geschlechts und sexueller Orientierung
– Anzweiflung eines Klimawandels
– Rückkehr zur Atomenergie
Dies sind offene Positionen, allerdings findet man im Internet unter Anhängern der AfD, sowie der Pegida usw. gewaltbereite, fremdenfeindliche und menschenverachtende Statements, die sich nicht mit den demokratischen Grundwerten vereinbaren lassen und somit klarer Ausdruck von Rechtsextremismus und faschistischen Tendenzen sind. Das solche Degenerationen möglich sind, hängt offensichtlich mit einer anderen Tendenz des Menschen zusammen, einer instinktiven Sehnsucht nach Unterwerfung, wie es Erich Fromm in seinem Buch „die Furcht vor der Freiheit schreibt.“ Die tonangebenden Figuren dieser rechtspopulistischen Bewegungen geben vor, den schweigenden Menschen in der Bundesrepublik eine Stimme zu schenken, dabei geht es auch bei ihnen nur um die Ausübung von Macht mit perfiden Mitteln, sowie einer „grundsätzlichen Schwäche und Unfähigkeit, das Leben spontan und liebevoll zu leben“ (Fromm).
Reaktionen/Widerstand
Die Rechtspopulisten rechtfertigen ihre politischen Ansichten, die sich jenseits einer gesellschaftlichen Verhältnismäßigkeit befinden, mit dem Anspruch, sich damit auf dem Boden demokratischer Regeln zu befinden. Tatsächlich bieten demokratische Grundwerte eine breite Meinungsfreiheit, die grundsätzlich auch rechtsorientierte Ansichten zulassen. Dass sich einige Aussagen nicht mit dem Grundgesetz vereinbaren lassen, zeigt z.B. die anvisierte Abschaffung einer Gleichberechtigung von Mann und Frau. Dazu sagt allerdings die Legislative: „Die Zielsetzung z.B. eines Gesetzes, welches Frauen möglichst wieder an Heim und Herd binden wollte, würde andererseits bereits im Widerspruch zur Verfassung, namentlich zur in Art. 3 Abs. 2 GG verankerten Gleichberechtigung, stehen“ (1). Doch ist die Demokratie nur ein Pfeiler einer offenen Gesellschaft. Wie bereits oben umschrieben, sind dies auch Grundwerte und die freie Persönlichkeitsentfaltung aller Menschen.
Wenn ich über gesellschaftliche Verhältnismäßigkeit nachdenke, so ist es schwierig, dies in neutraler und unabhängiger Weise zu tun. Das eigene politische Denken lässt sich schwerlich zugunsten einer absoluten Unparteilichkeit ausschalten. Die zahlreichen Diskussionen in den sozialen Medien zeigen, dass jeder in seiner Position natürlich darauf pocht, im Recht zu sein. Die AfD beispielsweise lässt kaum einen Moment aus, darauf zu verweisen, dass sie die Stimme des Volkes sei und die guten Wahlergebnisse scheinen ihr Recht zu geben. Interessant ist, dass Statements bedient werden, die schon X-Mal von anderen Parteien genutzt wurden, die z.T. völlig diffus sind, für die selbstkonstruierte Wirklichkeiten herhalten müssen, die über Verschwörungstheorien weit hinausgehen und die genauso auf gewohnten Machtstrukturen basieren, wie bei denen, die durch die Rechtspatrioten abgeschafft werden sollen. Durchschaut dies niemand oder soll das niemand durchschauen?
Dies soll mit einem Beispiel unterlegt werden. Die Zahl der Befürworter, die für mehr militärische Einsätze bei Krisen außerhalb Deutschlands ist, liegt laut diversen Umfragen bei ca. 20 Prozent. 45 Prozent der Befragten sprachen sich dafür aus, Deutschland tue hier bereits zu viel. Würde man die reinen Befürworter nun explizit fragen, ob sie auch die Auswirkungen eines Krieges wie Verletzung, Verstümmelung oder Tötung von unschuldigen Menschen, Zerstörung von Städten und Infrastruktur, oder Verseuchung der Natur durch Chemiewaffen begrüßen, würden sicherlich viele einlenken und ihr Voting relativieren. Befragte man nun wiederum Personen, was sie von Mitmenschen halten, die einen Krieg mit all seinen Grausamkeiten (ein Krieg ist immer grausam!) komplett unterstützen, so würde das Ergebnis sicherlich in einer den menschlichen Denkweisen entsprechenden Verhältnismäßigkeit negativ ausfallen: Man würde solche Kriegsbefürworter für barbarisch, herzlos und unmenschlich halten.
Sämtliche Forderungen der momentan gängigen rechtsgerichteten Bewegungen und hier lassen sich Unterscheidungen nur müßig treffen, verstoßen gegen gesellschaftliche Vereinbarungen der Gleichberechtigung, Gleichheit, Menschlichkeit oder Persönlichkeitsentwicklung. Der in Deutschland grassierende Rechtspopulismus ist kein zu rechtfertigender Teil unserer Gesellschaft, sondern ein übles Geschwür, dem dringend ein legitimer Widerstand entgegengebracht werden muss. Dabei geht es – wie es Michel Foucault ausdrückt – um „…einzelne Widerstände: mögliche, notwendige, unwahrscheinliche, spontane, wilde, einsame, abgestimmte, kriecherische, gewalttätige, unversöhnliche, kompromissbereite, interessierte oder opferbereite Widerstände…“ Jeder ist gefragt, auf kreative Weise, verdeckt und offen, allein und in Gruppen, selbstkritisch und selbstdenkend einen Gegenpol zu dieser pathologischen Entwicklung in Deutschland zu setzen. Wir brauchen keine politischen Strukturen, die autoritär, rückwärtsgewandt, faschistisch und nationalistisch sind, sondern „…konstruktive Uneinigkeit und inspirierende Unterschiede für die Gestaltung der Zukunft“ (2). Wir brauchen eine bunte Republik der Vielfalt und keine braune Diktatur der Eindimensionalität. Wir brauchen eine Gesellschaftsform mit dem größten gemeinsamen Nenner des alternativen Denkens.
„Die einzige legitime Politik ist diejenige, die sich auf das Prinzip einer gemeinsamen Menschheit, einer gemeinsamen Sozialität, der Individuation und der Konfliktbeherrschung beruft“ (3). Es mag sein, dass der Rechtspatriotismus in einem demokratischen System tragbar ist, aber die gesellschaftliche Verhältnismäßigkeit hat er mehr als überschritten. Zeigen wir ihm die Stirn, wo immer und wie immer. Es ist müßig, irgendwann schon wieder schwafeln zu müssen, man solle den Anfängen wehren.
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- Thomas Reuter: Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne – das unbekannte Wesen. In: JURA Heft 7/2009
- Wir sind die Generation Gesamtdeutschland. Und wir fangen einfach an. Ein Aufruf. In: Taz, Oktober 2015
- Das Konvivialistische Manifest – Für eine neue Kunst des Zusammenlebens. Transcript, 2014