Fluchtgedanken
Imagination einer menschlichen Katastrophe

Alle reden über Flüchtlinge. Aber denken sie auch darüber nach, wie es ist zu fliehen? Was eine solche menschliche Tragödie bedeutet? Ein nächtliches Gespräch, aufgeschrieben von Marion und Arnold Illhardt.

Fliehen (Foto A. Illhardt)
Fliehen (Foto A. Illhardt)

Arnold (AI) Von Johann Gottfried Sieg, einem deutschen Schriftsteller (1763 – 1810) stammt das Zitat „Wo man Gefahren nicht besiegen kann, ist Flucht der Sieg.“ Sätze und Sprüche haben momentan Hochkonjunktur. Stände er auf einem Kalenderblatt, ich hätte es abgerissen. In einem hochtechnisierten und vermeintlich in Teilen der Welt durchdemokratisierten 20. Jahrhundert erscheint es beinah abstrus, sich mit Flucht zu beschäftigen. Der Begriff passt so gar nicht in eine Zeit, in der man vor allem mit sich selbst und irgendeinem nebensächlichen, aber hochstilisierten Quatsch beschäftigt ist. Wenn man vor etwas auf der Flucht ist, dann vor sich selbst und vor einem System, das uns längst so vereinnahmt hat, dass das Flüchten nur noch ein auf der Stelle treten ist. Eingebildete Fluchten! Man wäre allerdings ein von der Gesellschaft isolierter Einsiedler, bekäme man nicht mit, dass dieses hochtechnisierte und durchdemokratisierte Jahrhundert auch gleichzeitig eine Zeit ist, in der Millionen Menschen auf der Flucht sind. Eine grauenhafte Vorstellung! Und je mehr ich darüber nachdenke, wie schrecklich der Gedanke ist, fliehen zu müssen, desto mehr führt er mich zu mir selbst und nagt empfindlich an der Sicherheit, mir könne so etwas nicht passieren. Ganz ehrlich: Ich habe mich bis zu diesem Zeitpunkt nie gefragt, ob ich jemals in die Bedrängnis kommen könnte, fliehen zu müssen. „Kleine Fluchten“ heißen schon mal Reisebüros oder Outdoorgeschäfte. Kleine Fluchten stehen für unser Alltagsbestreben, mal aus dem Trott auszubrechen. Doch bei einer Flucht, vor was auch immer, handelt es sich nicht um Trott, sondern um das Davonlaufen vor einer unbestimmten Gefahr, vielleicht sogar einer Todesgefahr. Was muss in einem Menschen vorgehen, der oder die flüchten muss?

Hattest Du schon einmal das Bedürfnis, vor etwas fliehen zu müssen?

(Marion – MI) Na klar, ich denke, jeder hat mal das Gefühl fliehen zu wollen. In unserer Kultur würde man aber eher von „ausbrechen“ aus einer unangenehmen oder bedrückenden Situation sprechen. Ich selbst hatte mich auch schon mit dem Gedanken beschäftigt, allein es blieb bei dem Gedanken, denn beim näheren Beschäftigen mit der Aktion „Ausbruch“ verließ mich der Mut. Wahrscheinlich weil der eigentliche Grund nicht annähernd so bedrohlich war, wie die Gründe, die Menschen heute in die Flucht jagen! Und letztendlich: die Gründe, die hier in unserem Wohlstandsland uns dazu bewegen würden, unseren Allerwertesten zu erheben und zu fliehen, wären wahrscheinlich von uns selbst verursacht worden! Die einzige Ausnahme, die mir dann noch dazu einfallen würde, wäre eine Naturkatastrophe! Und was ist mir dir?

AI Auch bei mir gab es glücklicherweise nie einen ernstlichen Fluchtgedanken, sondern eher das Bedürfnis, abhauen oder auch aussteigen zu wollen. Flucht ist ja eher eine Reaktion auf eine Bedrohung. In meinem Fall ging es vielmehr darum, die Nase von den mich umgebenden gesellschaftlichen und politischen Zuständen vollzuhaben. Als junger Mann träumte ich davon, in einem Freistaat zu leben, in dem der Mensch in einem sozialen Kontext leben kann, der einer – wie ich finde – tatsächlichen Grundannahme des menschlichen Seins entspricht: Nämlich als ein gleichberechtigtes Wesen ohne die Anwesenheit von menschlichen Perversionen wie Macht oder Gewalt. An diese Vision glaube ich übrigens immer noch, nur glaube ich nicht an die Menschen, mit denen eine Umsetzung möglich wäre.

Gab es eigentlich in Deiner Familie Erfahrungen mit Flucht?

(MI) Letztens erzählte mir meine Mutter von ihrer Familie und deren Erlebnissen während des 2. Weltkrieges. Auch ein Teil ihrer Familie war damals gezwungen zu fliehen. Ihr Cousin (damals um die 15 Jahre) mit seinen drei Schwestern musste aus dem Landkreis Hohensalza (damals das Gebiet Posen) vor den vorrückenden russischen Soldaten ihr Gut verlassen. Ihre Eltern waren zu der Zeit schon Opfer des Krieges geworden. Gemeinsam mit Onkel und Tanten flohen sie an die Ostsee um dort mit der „Wilhelm Gustloff“ das Land zu verlassen. Kurz vor Betreten des Schiffes wurden die vier daran gehindert und in Arbeitslager und Kinderheime aufgeteilt. Die Erwachsenen gingen auf das Schiff und mit der „Gustloff“, die kurz darauf bombardiert wurde, unter.

Die jüngste Cousine meiner Mutter kann sich noch recht gut an das Gefühl erinnern, in der Zeit immer nur auf der Flucht gewesen zu sein und niemals aufatmen und zur Ruhe kommen zu können. Sie wurde von ihrem Bruder getrennt und mit ihrer älteren Schwester in einem Kinderheim untergebracht, in dem schreckliche und erniedrigende Zustände herrschten. Gemeinsam mit ihrer Schwester floh sie schließlich aus diesem Heim, getrieben von der Erinnerung an das Haus ihrer Großmutter in Wanne-Eickel, das sie Jahre vorher, da war sie gerade fünf, nur einmal gesehen hatte. Zwei Mädchen, im Alter von 10 – 13 Jahren, allein aus den östlichen Gebieten auf der Flucht ins Ruhrgebiet, sie klammerten sich aneinander, aus Angst, die Schwester zu verlieren! Sie haben es geschafft, eines Tages stolperten sie die Treppe in diesem besagten Haus hoch und ihre Großmutter öffnete ihnen die Tür! Was Ihre Erlebnisse in den Heimen und die Begegnungen mit den damaligen russischen Soldaten waren, erzählte sie nicht. Ihren Bruder sahen sie Jahre später erst wieder, ihre Schwester, heute über 80 Jahre alt, verweigert jedes Gespräch über diese Zeit!

In der Presse und im Fernsehen las und hörte diese alte Frau über die Flüchtlinge, die in den letzten Wochen und Monaten ihr Heimatland verlassen mussten. Ihre Aussage zu diesen Bildern war: „Die Flüchtlinge von heute haben es leichter!“

Wie war das in Deiner Familie, ich kann mich nicht erinnern, dass du mir davon erzählt hast?

AI: Das Thema Flucht spielte in meiner Familie keine Rolle. Wohl aber bekam ich als Kind mit, dass es bei uns in Telgte Flüchtlinge gab, die aus dem „Ostblock“, wie es damals hieß, stammten. Sie hießen aber nicht Flüchtlinge, sondern Vertriebene. Die Zuschreibung „das sind Vertriebene“ war nicht unbedingt schmeichelhaft, sondern eher eine gewisse Degradierung und – wie ich heute darüber denke – Ausgrenzung. Nicht umsonst wohnten sie meistens am Stadtrand. Interessant ist aber, dass man sie eben als Vertriebene sah, was ja bedeutet, dass das ausschlaggebende Moment zur Flucht letztendlich von außen kam.

Ich habe aber in meiner Tätigkeit als Psychologe viele Erfahrungen mit Menschen sammeln können, die flüchten mussten. Zum Beispiel habe ich eine Zeit lang eine Familie betreut, die nicht nur vor dem Regime, sondern auch vor der Gewalttätigkeit im eigenen Bekanntenkreis flüchten musste. Da die Mutter gut Deutsch konnte, war es mir möglich, sie psychotherapeutisch zu betreuen. Ihre Beschreibungen über Zustände wie Krieg, Vergewaltigung, Erschießungen oder Massengräber waren für mich bisher Berichte, die ich aus den Medien kannte. Nun wurden sie fassbare Realität. Die Aussage „die wahre Bestie ist der Mensch“ bewahrheitet sich hier in einer schauderhaften Weise. Das ist auch das, was in der momentanen Situation mit den vielen Flüchtlingen bzw. Vertriebenen in Deutschland völlig ausgeblendet wird: Ihre psychische Situation. Kein Mensch verlässt freiwillig sein Land, aber ein großer Teil der deutschen Überflussgesellschaft hat nun Angst, der Flüchtling könnte ein paar Schokoladenstreusel vom Kuchen klauen, die ihm beim Vollfressen fehlen könnten. Krankes Volk!

Wenn ich dann sehe, wie hier in Telgte Männer, Frauen oder Kinder, die deutlich als Vertriebene auszumachen sind, durch die Straßen gehen, frage ich mich sehr oft, wie mag es ihnen gehen. Kein Mensch, der das nicht selbst durchgemacht hat, kann das nachvollziehen. Umso bestialischer, dass „Mit“bürger mit einem stark psychopathologischen Defizit an emotionaler Intelligenz mit Hass und Gewalt darauf reagieren.

Wie denkst Du über die aktuelle Flüchtlingssituation und die Reaktion der deutschen „besorgten Bürger“ darauf?

MI: Was wäre hier in unserem Kulturkreis schon ein Grund zu fliehen? Natürlich, wenn wir persönlich in einer akuten Situation bedroht werden würden, z.B. durch Naturkatastrophen, bleiben einem oft logischerweise nicht viel Möglichkeiten. Aber wir reden hier von Gründen, die nicht nur Einzelpersonen betreffen, sondern die Familien, ganze ethnische Gruppierungen oder Glaubensgemeinschaften auslöschen. Seit ich denken kann, gibt es kriegerische Auseinandersetzungen, bei einigen weiß ich noch nicht einmal mehr die Beweggründe. Vietnam, Korea, Israel, der Irakkrieg, viele unmenschliche Taten in verschiedenen afrikanischen Ländern, um nur wenige zu nennen, waren in meinem bisherigen Leben blutige Meilensteine. Doch diese Masse von Flüchtlingen, erschreckt mich gewaltig, sie erinnert mich an eine Flutwelle nach dem Bruch eines Staudammes.

Ich denke, dass die wenigsten Deutschen, Überlebende des 2. Weltkrieges sicherlich ausgenommen, „besorgte“ Bürger oder Politiker, diese Gründe nachvollziehen können, die Hunderttausende aus ihren Heimatländern in die Flucht treiben. Ich versuche bei diesem Artikel mich in diese Menschen hineinzuversetzen, es ist mir absolut nicht möglich, nicht weil es mir an Verständnis mangelt, sondern weil ich mir das Ausmaß des Leides der Flüchtlinge nicht vorstellen kann!

Es ist unvorstellbar, dass hinter diesen Gründen der Mensch selbst steckt. Politiker, Machthaber, Diktatoren oder wie immer man sie auch nennen mag, sind verantwortlich für den Tod tausender Männer, Frauen und Kinder! Ein Tier tötet aus Instinkt, sei es um sich zu schützen oder weil es Nahrung bedarf, doch der Mensch, vernichtet aus niedrigen, machtbesessenen und egoistischen Gründen. Tagtäglich verlieren hunderte Menschen in den Ländern, in denen der IS wütet, ihr Leben, werden aus Ihren Städten und Häusern vertrieben und wo sollen sie hin? Es gibt in dieser Hemisphäre nahezu kein Land mehr, in dem der Mensch friedvoll leben kann. Die Überlebenden sehen ihre einzige Chance auf ein menschenwürdiges Leben in der Flucht!

Theusner - Die Ankuft - Fluchtpunkte Weimar (Foto A. Illhardt)
Theusner – Die Ankuft – Fluchtpunkte Weimar (Foto A. Illhardt)

Viele Flüchtlinge kommen nach Deutschland um hier in Frieden zu leben, dauerhaft oder bis in ihrem Heimatland wieder friedliche Zustände herrschen. Bewundernswert, dass viele deutsche Mitbürger diese armen Menschen an Grenzübergängen oder Bahnhöfen willkommen heißen. Sie mit Kleidung, Nahrung und dem Nötigsten versorgen. Ein freundliches Lächeln, ein paar nette Worte, so sie denn verstanden werden, öffnet die Herzen und lässt die Vertriebenen hoffen. Doch es gibt auch eine andere Seite der Reaktionen in Deutschland, von der wir fast täglich in den Medien und den sozialen Netzwerken erfahren: Abweisung, Ablehnung und Hass. Es ist erschreckend zu beobachten, dass durch gezielte Kampagnen von Pegida, AfD und anderen rechten Gruppen ihre Anhängerschaft wächst. Mir erscheinen die Gegendemonstranten in ihren Bemühungen dem etwas entgegenzusetzen so hilflos, ihre Handlungen sind wirkungslos. Durch diese Ohnmacht, nichts bewirken zu können, entwickelt sich eine unterschwellige Wut, die sich in Gewalt entlädt. Was das Ganze dann immer weiter zum Brodeln bringt!

Es gibt in Deutschland noch viele Personen die den 2. Weltkrieg erlebt haben und einen gewissen Einfluss haben, fast täglich liest man auch Berichte über ehemalige KZ-Überlebende. Grade diese Bürger müssten sich doch in diese armen Menschen hineinversetzen können. Warum ist ihr Einfluss nur so gering? Oder ist es gar so, dass sie niemand hören will und ihnen nicht die Möglichkeit gegeben wird, gehört zu werden?

Beobachtest Du nicht das gleiche? Ich könnte z.B. jemanden von der AfD nicht freundlich ins Gesicht schauen!

 AI: Genauso wenig, wie es mir wichtig ist, ein Mann, ein Akademiker, ein Katholik oder ein heterosexuelles Wesen zu sein, lege ich keinen gesteigerten Wert darauf, eine deutsche Staatsangehörigkeit zu besitzen. Ich habe mir neulich einen Original-Pass ausstellen lassen (ein Kunstprojekt der slowenischen Künstlerkollektiv IRWIN), der mich als eine Art Weltbürger ausweist. (leider gab es noch keine Möglichkeit, ihn vorzuzeigen!). Ich bin zufällig Deutscher, fühle mich aber einfach nur als Mensch und habe daher auch keine Verfügung darüber, wer nach Deutschland – was für mich nur ein zufälliges Areal ist – einreist oder nicht. Ich lebe hier gerne in einer menschlichen Vielfalt, weil dadurch unglaubliche Chancen entstehen. Für mich ist nicht die Herkunft maßgeblich, sondern die Hinkunft: Wo geht’s gemeinsam hin?

Deutschland ist ein schweinereiches Land, in dem lediglich die Reichtümer falsch verteilt sind. Aber das ist ja Sinn des Kapitalismus und der hier herrschenden Lobbykratie. Wenn nun Flüchtlinge, die ich eher als Vertriebene sehe, zu uns kommen, finde ich das nicht nur in Ordnung, sondern unsere verdammte Pflicht, sich um sie zu kümmern bzw. sie hier willkommen zu heißen. Es ist eine Selbstverständlichkeit. Mir geht und ging mir schon immer gegen den Strich, wenn sich Parteien als liberal, sozialdemokratisch oder – noch schlimmer – christlich bezeichnen, aber nicht in der Lage sind, die damit verbundenen Werte tatsächlich zu leben. Es erinnert an einen Vegetarier, der heimlich Bratwürste und Schnitzel verschlingt. Man könnte es auch als Etikettenschwindel bezeichnen. Allerdings stört es niemanden.

Das ist die eine Sache. Dass nun Tausende besorgte Bürger auf die Straßen gehen, sich nicht zu blöde sind, mit Ultrarechten, gewaltbereiten Hooligans und anderen Faschisten für ein Deutschland der Deutschen zu protestieren, ist einfach nur ekelig und beschämend. Wir leben in einem Zeitalter, in dem man sich vielfältig informieren kann, doch haben die Menschen leider nicht gelernt, selbst zu denken. Unser Schul- und Bildungssystem sieht nur ein Reproduzieren vor, nicht aber ein Reflektieren oder Hinterfragen von Informationen. Man könnte dann z.B. recherchieren, dass viele Vertriebene deswegen ihr Land verlassen müssen, weil dort mit Waffen, die aus Deutschland eingekauft wurden, Krieg geführt wird. Hinzu kommt, dass durch mediale Infiltration Ausgrenzung und Hass hoffähig gemacht werden. Das Sozialverhalten der Patrioten und Pegidasten liegt jenseits jeder Zivilisationsgrundlagen. Selbst Primaten pflegen ein besseres Miteinander.

Ich versuche mir immer wieder vorzustellen, wie es den Vertriebenen wohl gehen mag (man nennt das übrigens auch Empathie), u.a. auch wenn sie mitbekommen, dass man ihre Unterkünfte anzündet. Dann denke ich auch darüber nach, wie es für mich wäre, flüchten zu müssen. Wovor auch immer! Hast Du da schon einmal drüber nachgedacht?

MI: Oh ja, darüber habe ich schon sehr oft in letzter Zeit gegrübelt. Es bringt mich allerdings auch dazu über mein Leben nachzudenken. Mit welch nebensächlichen und oberflächlichen Dingen wir uns beschäftigen, ich hinterfrage immer wieder mein Konsumverhalten und versuche anderen Menschen freundlich und verständnisvoll zu begegnen.

In dieser politisch geladenen Zeit habe ich oft Angst, dass auch bei uns in Deutschland Kriegszustände herrschen. Aber wohin sollten wir flüchten? Wir leben in einem reichen Land mit einer boomenden Wirtschaft, funktionierenden sozialen Strukturen und mit einem erstklassigen Gesundheitssystem. Wo sollen wir hin?

Ich habe hier jetzt endlich meine Heimat gefunden, die Stadt in der ich glücklich bin und mit meinem Mann gemeinsam alt werden möchte. Hier im Umkreis leben meine Freunde und ich habe eine für mich sehr befriedigende Arbeit gefunden, die mir Spaß macht. Ich kann in zwei bis drei Stunden bei unseren Kindern sein, die auch ein zufriedenes glückliches Leben führen. Das Haus in dem wir leben ist meine Zuflucht, ein Balsam für meine Seele, hier komme ich zur Ruhe nach einem hektischen Tag. Die Straßen meiner Stadt, der Spazierweg entlang unseres Flusses entlockt mir so oft ein glückliches Lächeln. Das alles aufgeben zu müssen wegen einigen unberechenbaren machtgierigen selbstsüchtigen und skrupellosen Menschen würde mich in einen bodenlosen Abgrund stoßen. Dazu käme die Angst um meine Kinder, Familie und Freunde! Es würde bitterkalt in mir werden und mit dieser Kälte könnte ich mir vorstellen, dass jedes gute Gefühl im Keim erstickt wird und ich meine Familie notfalls auch mit Gewalt verteidigen würde.

Aber da, ein Licht am fernen Horizont verspricht mir: „Wir schaffen das!“ Und die Hoffnung kehrt zurück! Flüchtest Du mit mir oder was sollten wir Deiner Meinung nach tun? Und was wären Deine Gefühle?

AI: Es ist eine unglaubliche schwierige Frage! Als ich damals den „Kriegsdienst“ verweigerte – neben moralischen Gründen, gab es bei mir auch politische – bereitete ich mich auf das Szenario einer Gewissensprüfung, wie es damals hieß, vor: Was würde ich tun, wenn mein Land angegriffen würde? Ich halte Krieg für die dümmste aller menschlichen Verhaltensweisen und deswegen war und bin ich zu keiner Zeit bereit, mich für eine wie auch immer geartete Autorität zu militarisieren. Nichtsdestotrotz würde ich meine Familie verteidigen und dies natürlich auch mit Gewalt. Ich eigne mich vermutlich mehr für den Untergrund, als dass ich mich uniformierten Brüllaffen unterordnen würde. Aber das sagt sich jetzt natürlich im Schutze des Nichtbedrohtseins so leicht!

Müsste ich mit Dir fliehen, wäre es für mich eine der existentiell schlimmsten Zustände, denen ich jemals ausgesetzt war. Was man in solchen Momenten spürt, seelisch wie körperlich, lässt sich selbst in den kühnsten Vorstellungen nicht im Vorweg wahrnehmen. Vermutlich würde ich mich ständig übergeben müssen, hätte Durchfall, elendige Magenschmerzen und dieses widerliche Gefühl von Leere, Angst und Traurigkeit. Müsste ich ohne Dich fliehen, würde ich zwangsläufig durchdrehen; es würde mich lähmen, mir jegliche Lebensenergie stehlen. Neulich las ich, Menschen die lieber andere im Meer ertrinken lassen, als dass sie etwas von ihrer Bequemlichkeit abgeben, sind Arschlöcher. Ich mag dieses Wort nicht und es ist zu harmlos. Der Satz ist ansonsten richtig. Mich packt bei diesem Gedanken unglaublicher Zorn. Ich habe keine Angst vor Ausländern oder Flüchtlingen; ich habe Angst, eines Tages ohne sie hier in Deutschland leben zu müssen.

Da ist aber noch ein Aspekt: Der Stolz. Ich bin ein unglaublich freiheitsliebender, aber auch stolzer Mensch und jegliches Unterordnen fällt mir schwer. Aber plötzlich müsste ich mich unterordnen, wäre abhängig von Menschen, die sich erbarmen, mir zu helfen. Toll, dass es solche Menschen gibt, aber vielleicht hätte ich auch das Pech, auf so rechtsdrehende Schwachmaten wie Lutz Bachmann, Björn Höcke oder Frauke Petry zu stoßen, deren soziale Kompetenz auf dem Gefrierpunkt liegt.

Natürlich denke ich auch darüber nach, was ich in einem solchen Fall einer Flucht mitnehmen würde. Wüsstest Du es?

MI: Nehmen wir einmal an oder versuchen wir uns doch nur einfach vorzustellen, es klopft an der Tür und jemand sagt uns: „Sie haben eine Stunde Zeit, packen Sie das Notwendige zusammen, sie müssen fliehen!

Das Notwendige zusammenpacken? Was wäre das Notwendige? Damit würde das Chaos in meinem Kopf schon anfangen! Jetzt vor dem PC habe ich endlos Zeit mir diese Situation vorzustellen, ich gehe durch unser Haus und könnte mir in aller Ruhe eine Liste erstellen.

Würden wir mit dem Auto flüchten oder nehmen wir das Rad oder wäre es für alles zu spät und wir müssten Hals über Kopf aus dem Haus? Dann wäre mein erster Griff zum Portemonnaie mit Geld und Ausweispapieren, der nächste Griff wäre mein Smartphone (Ladekabel nicht vergessen)! Ich glaube, das, was mich in dieser Situation lebendig und stark halten würde, wären Bilder meiner Kinder und meiner Heimat, meiner Mutter und Freunde. Und die Möglichkeit, mit ihnen in Kontakt zu bleiben, ihre Stimme zu hören! Zu wissen, für was es sich eventuell zu Kämpfen lohnt! Vielleicht würden sie mir Mut machen oder sie brauchen meine Hilfe! Egal wie sehr wir in diesen Zeiten das Verhalten und das unserer Familie mit dem Mobilphone kritisieren, dann wäre es für mich überlebenswichtig!

Hätten wir etwas mehr Zeit würden natürlich ein paar Lebensmittel, Papier und Stifte, Kleidungsstücke, Wechselschuhe und Zahnbürste in einen Rucksack verschwinden!

Jung - Hellcome To Germany - Fluchtpunkte Weimar (Foto A. Illhardt)
Jung – Hellcome To Germany – Fluchtpunkte Weimar (Foto A. Illhardt)

Als ich von der Flucht meiner Verwandten im Jahr 1944 erfahren hatte, recherchierte ich über diese Zeit und fand einige Fotos. Unglaublich was die Menschen damals auf der Flucht tragen mussten, ich sah Frauen die schwere Rucksäcke auf dem Rücken hatten und auch noch ein Kind auf dem Arm. Wie haben diese armen Frauen das alles nur geschafft. Im tiefsten Winter, bei Eiseskälte und durch tiefen Schnee schleppten sich die armen Menschen dahin. Aber schauen wir uns doch um, genau das passiert in diesem Moment!

Bitte vergiss Du dein Handy nicht! Letztens träumte ich, wir wären irgendwo unterwegs und ich konnte dich mit meinem Handy nicht erreichen! Würdest Du auch so packen oder habe ich noch was vergessen?

AI: Du hast nichts vergessen. Und natürlich würde ich mein verdammtes Smartphone mitnehmen, schließlich sind dort wichtige Fotos von meinen Lieben drauf, von Erinnerungen, meiner zurückgelassenen Heimat, aber auch Musik, die mich vielleicht in schlimmen Momenten retten könnte. Und ich würde einen Block und Stifte mitnehmen, um alles aufzuschreiben. Um nicht wahnsinnig zu werden!

Freiheit (Foto M. Illhardt)
Freiheit (Foto M. Illhardt)

„Alle sagen: Wo war Gott? Warum hat er dem Blutbad nicht mit einem Fingerschnalzen ein Ende gemacht, warum hat er nicht Glut, Feuer und Schwefel auf die Gottlosen herabregnen lassen?“ wiederholte M. oft, ich aber sage: Wo war der Mensch? Wo war das Wesen, dass „kaum geringer als die Engel“ geschaffen wurde. Denn es waren die Menschen, die die Gaskammern gebaut haben, Fachingenieure haben den genauen Rotationswinkel der Karren der Verbrennungsöfen bestimmt, um die Zeit zu optimieren – nichts durfte den Rhythmus der Entsorgung aufhalten; sie stellten ihre Berechnungen an, während ihre Frauen im Wohnzimmer strickten und die Kinder in Flanellschlafanzügen, den Teddybär im Arm, in ihren Betten schliefen. Es waren die Menschen, die die Leute Wohnung für Wohnung aus den Häusern holten und in den geheimsten Verstecken aufspürten; es waren die Menschen, die ihre Hände in Blut getaucht, Säuglinge mit Fußtritten getötet, Alte massakriert haben; Menschen, die hätten wählen können und es nicht getan haben; Menschen, die – anstatt des Blicks des anderen gewahr zu werden – nur ein Objekt in ihm gesehen haben.“

 Aus „Erhöre mein Flehen“ von Susanna Tamaro