„Sind die im Rheinland eigentlich alle verrückt?“, mögen viele, die von außerhalb dem rheinisch-karnevalistischen Treiben zusehen, denken. Ja, stimmt! Die sind tatsächlich verrückt! Aber positiv verrückt oder „positiv bekloppt“, wie man in Köln sagt…
Im ersten Jahr nach meinem Umzug von Telgte nach Köln bin ich vor dem Karneval zurück nach Westfalen geflohen. Hatte ich doch bei dem Gedanken an Karneval immer die westfälische Variante vor Augen. Langweilig, bieder, gezwungen-fröhlich. Und was geschah damals? Freunde überredeten mich, am Karnevalssonntag mit zum Zug nach Everswinkel zu kommen. Also stand ich dort am Zugweg, in Everswinkel, und hörte plötzlich in voller Lautstärke und schönstem Kölsch „Superjeile Zick“ der Kölschrock-Gruppe Brings. Ein Schlüsselerlebnis. Nie wieder bin ich von da an Karneval nach Westfalen geflohen. Ich habe alle Facetten des kölschen Fastelovend ausprobiert, habe gefeiert bis zum Umfallen und bis zur Heiserkeit…
Kostüme
Spätestens nach Neujahr setzt der Countdown ein: streng genommen beginnt die Session am 11. im 11., aber so richtig los geht es mit der Prinzenproklamation im Gürzenich. Spätestens dann gehören kostümierte Menschen, die unterwegs zu den zahlreichen Karnevalssitzungen der Vereine sind, unweigerlich zum Stadtbild. Woanders in Deutschland lässt man zeitgleich die besinnliche Weihnachtszeit langsam ausklingen, in Köln findet sie mit der PriPro (Prinzenproklamation) ein abruptes Ende. Die Kostümgeschäfte sind rappelvoll und immer öfter fragt man sich, wie denn die eigenen Kostüme in dieser Session ausfallen werden. Wohlgemerkt: Kostüme-Plural, denn ein einziges reicht nicht für mehrere Tage!
Damals habe ich angefangen, einen der Kellerräume zum Karnevalskeller voller Kisten mit Perücken, Hüten, Kostümen und Bastelplunder umzufunktionieren. Das ist hier so üblich. Wer keinen Keller hat, der packt all den Karnevalsplunder in mindestens drei bis vier große Kisten, die er in irgendeiner Ecke der Wohnung lagert. Selbst im Sommer auf dem ein- oder anderen Flohmarkt ist der Karneval präsent. Man hält immer auch nach Klamotten oder Plunder Ausschau, die sich im nächsten Karneval verwerten lassen. Denn Selbermachen ist Ehrensache! Das ein- oder andere Teil kann man im Kostümgeschäft kaufen, aber ansonsten wird gebastelt. Hüte werden mit Weihnachtskugeln und Federn und anderem Tand beklebt, Perücken zusätzlich mit Vögeln, Krönchen, Flitter aufgepeppt, es wird genäht, bemalt, was das Zeug hergibt…
Kneipenkarneval
Und dann ist es irgendwann so weit. Weiberfastnacht (op kölsch: Wiewerfastelovend) ist da und mit ihr die Frage: Wohin geht es ab heute? Auf keinen Fall zum Alter Markt zur offiziellen Eröffnung, denn dort ist es zu voll und später zu besoffen. Das halten nur Erzjecken aus oder Touristen, die in Scharen anreisen. Die meisten Jecken treibt es an allen Karnevalstagen früher oder später in die Veedelskneipen, die irgendwann so voll sind, dass Umfallen nicht mehr möglich ist. Die Kneipe besteht dann aus einer wogenden Masse, die singt und schunkelt. Für Menschen mit Platzangst ist das definitiv nix. Wenn eine Kneipe um 11.00 öffnet, ist es üblich, dass schon um 8.00 die ersten Jecken anstehen und zu einer feiernden und singenden Schlange werden (Schlangenkarneval, die neue Variante des Karneval). Wenn die Kneipe dann geöffnet wird, ist die Stimmung bereits prächtig.
Straßenkarneval
Für mich der schönste Teil des Karneval. Die Züge rollen, fast jedes Veedel hat seinen eigenen Zug. Klein, aber fein. Den Kölner Rosenmontagszug kann man übrigens getrost vergessen. Er ist langweilig, nur wenig spritzig-bissig, also viel zu brav und immer auch selbstverliebt. Dort feiern sich das Festkomitee Kölner Karneval und die Traditionsvereine selbst. Da kann schon mal gähnende Langeweile aufkommen, wenn endlos die Blauen Funken, dann die Roten Funken, dann die Apfelsinenfunken und alle anderen Traditionsvereine an einem vorbeiziehen. Übrigens kostet die direkte Teilnahme am Rosenmontagszug viel Geld. Schließlich möchte man unter sich bleiben und Kölsch Kraat (alle, die nur wenig Geld haben, also 95% der Kölner) soll draußen bleiben. Oben auf einem der Wagen dabei zu sein, kostet mehrere Tausend Euro. Oder man ist ein Promi, dann wird man eingeladen. Zudem ist es am Zugweg so voll, dass man ohnehin nur wenig vom Zug mitbekommt. Wenn Rosenmontagszug, dann muss es d´r Zoch vür dem Zoch sein, doch der gehört eigentlich zum Alternativkarneval (s.u.). Schön ist es am Rosenmontag durch die Straßen zu ziehen, hier und da mal den Zugweg zu streifen und sich die wild, bombastisch und verrückt kostümierten Jecken anzuschauen. Denn die Stadt ist voll von ihnen. Und zum Feiern braucht man den Rosenmontagszug nicht, das geht überall, in allen Straßen.
Viel schöner und bunter sind am Karnevalssonntag die Schull-und Veedelszöch, die von Kölner Schulen und Veedelsvereinen gestaltet werden und die eine wahre Wonne für Augen und Stimmung sind.
Sitzungskarneval
Die Stimmung auf den zahlreichen Karnevalssitzungen, die übrigens schon vor Weihnachten beginnen, ist in der Regel großartig und auf einer wirklich guten Sitzung steht man hinterher auf den Stühlen und tanzt und feiert. Ob eine Sitzung gut ist, hängt ab von den eingeladenen Musikgruppen, den Büttenrednern und den Mitfeiernden, mit denen man am Tisch sitzt. Da sich das Karnevalsrad nicht ständig selbst neu erfinden kann, reicht pro Session im Grunde eine dieser Sitzungen, denn hat man eine gesehen, hat man sie alle gesehen. Da diese Sitzungen von den Traditionskarnevalsvereinen veranstaltet werden, haben sie zu Beginn einen eher biederen Charakter, der allerdings bei jeder Sitzung, die ich erlebt habe, spätestens nach einer Stunde über Bord geworfen wurde. Weinzwang, Bier nur im Außenbereich, teuer, Kniesköppe in Uniform, die keine Miene verziehen, und einmarschierende Garden muss man schon eine Stunde über sich ergehen lassen können. Danach wird´s deutlich anarchischer. Die Sitzungen sind übrigens für viele Tanzgruppen im Kölner Karneval eine Möglichkeit, ihr Können, das, wofür sie ein Jahr lang hart trainiert haben, einem größeren Publikum zu zeigen. Sie werden dementsprechend frenetisch gefeiert. So bieder sie auf den ersten Blick aussehen mögen, es macht wirklich Freude ihnen zuzuschauen. Ihre Freude am Tanzen überträgt sich unweigerlich auf die Zuschauer.
Alternativkarneval
Neben dem offiziellen Karneval hat sich im Laufe der letzten Jahre eine alternative Karnevalsszene entwickelt. Während der offizielle Karneval mehr oder weniger strengen Regeln gehorcht, geht es hier eher wild und frei zu. Angefangen hat der Alternativkarneval mit der Stunksitzung, die einen aufmüpfigen und politischen Gegenentwurf zum offiziellen Sitzungskarneval darstellen wollte. Mittlerweile sind die Karten für die Stunksitzung innerhalb eines Tages im September ausverkauft, denn die meisten Karten gelangen gar nicht erst in den Vorverkauf, sondern finden auf dem Klüngelweg ihren Besitzer. Aber die Stunksitzungen lohnen sich. Ich habe für die Session 2017 schon einen Klüngelpartner gefunden, so dass Karten in Reichweite sind. Kleiner, fein und durchaus politisch ist mittlerweile die Immi-Sitzung im Stollwerck. Eine Sitzung von Immis für Immis. Immis sind alle Kölner, die nicht in Köln geboren wurden, also auch ich. Dort wird “von außen”, aus Immi-Perspektive, ein Blick auf Köln geworfen, der nicht immer nach dem Motto “Et hätt noch immer jood jejange” ausfällt (Einsturz des Stadtarchivs, U-Bahn-Bau, Umbau der Kölner Oper und und und).
Zu den Zügen des Alternativkarnevals gehören der Zoch vür dem Zoch am Rosenmontag und der Jeisterzoch am Karnevalssamstag. Beide sind wahre Highlights des Alternativkarnevals. Jeder kann dort mitmachen. Keine Einladung, keine Kosten, keine Kamelle. Einfach mitgehen. Einzige Bedingung ist, dass man verkleidet ist. Der Zoch vür dem Zoch hat immer ein politisches Motto. In diesem Jahr: Bunte Funken gegen braune Halunken. Und beim Geisterzug gehört die mehr oder weniger gruselige Verkleidung zum guten Ton. Alles andere ist der musikalischen und/oder künstlerischen Phantasie der Teilnehmenden überlassen.
Ja, und in der Nacht zum Aschermittwoch ist dann alles vorbei. Da wird der Nubbel unter Heulen und Zähneknirschen verbrannt, der Nubbel, der alle Sünden der Karnevalstage auf sich nimmt…
Resumeé
Ganz klar: der kölsche Karneval hat was! Vor einer Vorverurteilung sollte man ihn unbedingt kennenlernen. Dabei erleichtert die Beachtung einiger weniger Regeln den Zugang und das unbeschwerte Mitfeiern.
• Niemals ohne Kostüm feiern. Wer feiert, kostümiert sich. Was am Straßenbild, in den Bahnen auch leicht zu erkennen ist. Während der Karnevalstage sieht man kaum nicht-kostümierte Menschen. Selbst beim Einkaufen nicht. Und: niemals nur ein Kostüm von der Kaufhaus-Stange verwenden. Die eigene Phantasie und Kreativität schaffen die besten Kostüme!
• Den karnevalistischen Schlachtruf „Kölle Alaaf“ sollte man unbedingt kennen und anwenden können. Helau zu rufen ist ein absolutes K-O-Kriterium! Sollte jemandem ein Helau entweichen, sollte er schleunigst nach dem Ausgang Ausschau halten. Meist wird dreimal hintereinander „ Alaaf“ gerufen, oft mit Variationen, z.B. Kölle Alaaf – Querzeit Alaaf – Kölle Alaaf. Dabei wird der rechte Arm LOCKER-LÄSSIG nach oben, aber bitte leicht seitwärts gehoben. Auf keinen Fall mit diversen Heil-Rufen oder Heil-Gesten verwechseln!
• Ein paar der gängigsten Kölschen Lieder zu kennen, erleichtert den Zugang zum Karneval ungemein. Denn es wird wirklich überall gesungen. Dazu muss man wissen, dass Köln und die selbstverliebten Kölner (manche sagen auch “selbstbesoffen”) sich im Karneval selbst feiern und so geht es in den Texten fast immer darum, dass Köln zwar nicht schön, aber „e Jeföhl is“ und zwar „e joodes“, was zu Karneval auch durchaus stimmt. Zu erwarten, dass die Texte beim Singen von einem Textkundigen übersetzt werden, kann zu einer Enttäuschung und zu schrägen Blicken führen. Also besser vorher lernen.
• Man fragt niemals nach Altbier oder Kamillentee.
• Zu schunkeln, egal ob im Stehen oder Sitzen, gehört einfach dazu. Bitte dabei auf den Rhythmus achten, denn ansonsten bringt man eine Schunkelreihe schnell aus dem Takt und die Reihe fängt an, gegen- und nicht miteinander zu schunkeln und zu rumsen (peinlich! Ist mir am Anfang mehrfach passiert). Übrigens bleiben die Füße beim Stehschunkeln fest auf dem Boden.
Ach ja, und Bützen! Bützen muss sein! Ein Küschen rechts oder links auf die Wange und nicht knutschen! Wer knutscht, wird krank. Deshalb liegt halb Köln nach Karneval flach.
Ansonsten kann man feiern, wo und wie man will. Sich treiben lassen auf den Straßen, hier mitsingen, dort mitschunkeln, sich irgendwo hinsetzen mit einer Pizza in der Hand und dem bunten Treiben einfach nur zuschauen, den zahlreichen Musikgruppen lauschen, die durch die Straßen ziehen, und mittanzen… alles ist möglich. Ein Erlebnis ist es auf jeden Fall! Eine Stadt im Ausnahmezustand.
p.s. In diesem Jahr erkunden wir die Eifel-Variante des rheinischen Karneval. Zum Glück ruft hier niemand „Helau“. Auch hier ruft man „Alaaf“… das lässt hoffen ;-)
p.p.s. „Denn wenn et Trömmelche jeht“ ist eines der bekanntesten Karnevalslieder in Köln