Ist politischer Anstand Schnee von gestern? Selbsternannte Moralapostel und darunter zahlreiche, vor allem rechts-konservative Politiker werden nicht müde, das Fehlen von Anstand, Moral, Respekt, Werten, Benimm, Sitte und Lauterkeit in der Gesellschaft anzuprangern. Dabei glänzen sie oft selbst mit der Abwesenheit von Werten und Tugenden. Warum trennen wir uns nicht von ihnen?
Es gibt spezielle Begriffe, die bei ihrer Nennung – um es mal schwäbisch auszudrücken – ein Geschmäckle bekommen. Eigentlich ist es noch schlimmer: Sie – die Begriffe, vor allem ihr thematischer Hintergrund – stoßen sauer auf. Ein solches Reflux-Wort ist „Anstand“ und reiht sich ein in eine Vielzahl von Werten, die einem je nach kulturellem, religiösem oder politischem Hintergrund zu Lebzeiten eingebläut werden/wurden. Mit einer guten, gleichaltrigen Bekannten, die im gleichen Ort wie ich groß geworden ist, sprach ich über diesen Begriff und es fiel unabhängig von meiner Äußerung ebenfalls der Ausdruck „Nebengeschmack“, denn eigentlich sei Anstand ein wohlwollendes, respektvolles, auch reflektiertes Verhalten anderen Menschen gegenüber, andererseits fielen ihr dazu zahlreiche Maßregelungen aus der Kindheit ein, in denen mit der Rute des Anstands Verhaltensregeln vermittelt wurden. „Du bist doch ein anständiges Mädchen“, oder „Du musst dich anständig kleiden“ usw.
In dem kleinen Büchlein des deutschen Journalisten und Schriftstellers Axel Hacke mit dem ausschweifenden Titel „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“, fand ich eine – ich nenne es mal: laxe – Umschreibung des Begriffs:
„Unter Anstand würde ich einen Sinn für Gerechtigkeit verstehen, auch ein grundsätzliches Gefühl der Solidarität mit anderen Menschen, für Fairness, also für den Gedanken, dass man sich an die Regeln auch dann hält, wenn mal gerade keiner guckt, für Ehrlichkeit also und Offenheit, auch sich selbst gegenüber. Und Aufrichtigkeit: zu handeln und zu reden ohne Hintergedanken. Fähig zu sein, das eigene Reden und Handeln kritisch zu sehen. Und den Willen zu haben, sich an diese Gebote zu halten, so gut es geht.“
Die ambivalente Einschätzung des Wörtchens „Anstand“ durch meine Bekannte kann ich nur zu gut nachvollziehen; entsprechende Kommentare musste ich mir auch als Junge anhören, doch lehrte mich die Zeit, genau hinzuhören, wer es sagt und wie es gemeint ist. Manchmal lassen sich ja Aussagen vor allem dadurch präzisieren, dass man sie unverblümt und in feinstem Straßendeutsch zum Ausdruck bringt. Einen solchen Spruch entdeckte ich neulich im Internet auf einer kritischen Seite:
„Da versucht man einfach sein Leben lang kein Arschloch zu sein … & plötzlich zählt das als linksgrünversifft, rotgrünversifft & linksextrem.“
Anstand heißt für mich, die Menschen nicht nach Geschlecht, Herkunft, Aussehen, Bildungsstand oder finanziellem Hintergrund (usw.) zu beurteilen, mich so zu verhalten, wie ich es für mich auch wünsche, Gewalt in seiner facettenreichen Gänze abzulehnen, eine gewisse Höflichkeiten der sozialen Kommunikation zu pflegen, Schwächeren zu helfen, mich im Straßenverkehr nicht wie ein frisch kastriertes Wildschwein zu verhalten, ehrlich zu sein und nicht ständig nach meinem Vorteil zu schielen, um nur ein paar Dinge zu nennen, die sich interaktionell bewährt haben und mit denen ich persönlich gut gefahren bin.

Interessant wäre es nun herauszufinden, was die aus dem Verein „Freiheitlich-Konservativer Aufbruch“ hervorgegangene, sogenannte Werteunion (bestehend aus Mitgliedern der CDU und CSU mit deutlichem AfD-Drall) zu dem Thema beitragen würde, schließlich gibt sie sich als die letzte Instanz, die sich für eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte und somit auch den Anstand einsetzt. Ich habe das mal gegoogelt, bin aber (Stand 9/2025) lediglich auf die internen Streitigkeiten der Kleinstpartei gestoßen. Hochanständige Truppe – das schafft Vertrauen!
Ganz egal ob die Forderung nach Anstand im persönlichen oder politischen Rahmen zum Ausdruck kommt, so stellt sich immer – wie oben schon angemerkt – die Frage: Wie hält es denn der oder die Anstand-fordernde Person oder die Institution/Partei mit diesem Werte-Konstrukt? Hier hilft vielleicht ein Satz weiter, der von Theodor Fontane stammt:
„Es gibt nicht zwei Sorten von Anständigkeit, und was ein anständiger Mensch nicht darf, das darf auch ein anständiger Staat nicht. Verstößt der Staat gegen diesen einfachen Satz, so gibt er ein schlechtes Beispiel.“ (Fontane)
Selbst aufgewachsen in einem extremkatholisch geprägten Umfeld musste ich erfahren, dass diejenigen, die am lautesten Anstand einforderten, selbst unanständig bis in die Feinrippunterwäsche waren (und immer noch sind). Während man von mir sexuelle Enthaltsamkeit forderte, weil dies im Sinne des katholischen Glaubens hochanständig sei, wurde im Nachbarort Ostbevern ein Mitschüler vom Pastor über längeren Zeitraum missbraucht. Anständigerweise wurde der Täter vom Bischof, der später Täter-Opfer-Umkehr betrieb, versetzt!!! Während der Vater im Nachbarhaus meiner Eltern uns predigte, er wolle uns Anstand lehren, verprügelte er seine Kinder auf brutale Weise. Und bei zwei meiner letzten Patientinnen, die in der Psychotherapie von ihrem sexuellen Missbrauch erzählten, waren die Täter Väter, die der AfD angehörten oder diese im Sinne von „endlich-mal-eine-Partei-in-der-Werte-großgeschrieben-werden“ verherrlichten. Die AfD sieht sich selbst als Gralshüter der Werte des christlichen Abendlandes, was vermutlich angesichts der hohen Kriminalitätsquote unter AfD-Politikern die größte Witznummer bis ins Morgenland hinein darstellt. Die Kommentare der Scheindemokraten und Werteprofis in den sozialen Medien, in denen gerne schon mal Strafaktionen wie Aufknüpfen, Vergewaltigen, Kehle-durchschneiden, Draufprügeln und In-den-Löschkalk-Werfen angedroht werden, sind unterirdisch unanständig.
Zusammenfassend ließe sich also auf den Punkt bringen: Wer mit der Forderung nach Anstand um sich wirft und diesen einfordert, sollte sich an seinem eigenen Verhalten messen lassen. Fast fiele das Resümee ernüchternd aus: Gibt es dann überhaupt Anstand bzw. gibt es ihn noch? Und welche Frage mich dabei vor allem beschäftigt: Ist Anständigkeit überhaupt noch in Mode oder gibt es vielleicht einen von mir verschlafenen Wertewandel nach der Devise „Nur Unanständige werden abgefeiert“? Rafael Ferber schreibt in seiner Einführung in „Philosophische Grundbegriffe“:
„Unsere Anständigkeit ist mitunter die größte Waffe unserer Feinde. Häufig wird nämlich die Anständigkeit nicht belohnt, sondern ausgenutzt, und man wird für sie bestraft. Nicht selten wird gerade die Unanständigkeit belohnt.“ Oder um es mit Shakespeare zu sagen: „Die einen haben Erfolg durch ihre Sünden, andere Unglück infolge ihres Anstandes.“
Während dieser Text entsteht, erfährt Deutschland aktuell seinen Tiefpunkt, was politischen Anstand betrifft. Mir persönlich sind kaum führende PolitikerInnen bekannt, die ich als tiefgründig anständig bezeichnen würde. Doch die Frage ist: Was macht das mit mir als vermeintlichem „Nicht-Arschloch“, dafür aber radikallinksgrünversifften Zeitgenossen? Ich wähle mal beliebige Beispiele aus dem Irrsinn, den momentan Politiker der Parteien wie CDU, CSU oder AfD (wo ist die Grenze?) Tag für Tag liefern und verzapfen. Vielleicht mag man mit mir Antworten darauf finden, ob man von politischem Anstand reden kann …
- … wenn Kanzler Merz (CDU) von der offenen Gesellschaft als Zirkuszelt redet?
- … wenn die früheren Bundestagsabgeordneten Eduard Lintner (CSU) und Axel Fischer (CDU) dubiose Geldzahlungen aus Aserbaidschan erhalten?
- … wenn der Unionsfraktionschef Spahn trotz Masken-Affäre im Amt bleibt und damit die Demokratie schwer schädigt?
- … wenn der CDU-Abgeordnete Amthor ein Mitglied der extrem rechten Burschenschaft Markomannia Aachen Greifswald beschäftigt(e)?
- … wenn ein Kanzler nebst regierenden Parteien trotz Genozid in Gaza kein Grund zum Intervenieren sieht?
- … wenn die Bundestagspräsidentin Klöckner eine enge Verbindung zum Finanzier des rechtspopulistischen Onlinemediums „NIUS“, Gotthardt, unterhält?
- … wenn der im Mautskandal involvierte Andreas Scheuer (CDU) nicht gerichtlich für die veruntreuten 243 Mill. Steuergelder belangt wird?
- … wenn gegen zahlreiche CDU- und AfD-Politiker Ermittlungs- und Gerichtsverfahren wegen Korruption, Bestechlichkeit, Verstoß gegen Parteiengesetze oder Veruntreuung laufen?
- … wenn die AfD die höchste Quote an kriminellen Handlungen aufweist? Zahlreiche Politiker, darunter mehrere Landtags- und Bundestagsabgeordnete sind wegen körperlicher, verbaler und indirekter Gewalt (u.a. auch Volksverhetzung) aufgefallen und angeklagt!
- … wenn die CDU (u.a. Pascal Reddig) – mal – wieder für eine Rente ab 70 plädiert, obschon sich längst rumgesprochen haben sollte, dass sich viele bereits vor dem Eintritt in dieses Alter „kaputtmalocht“ haben?
- … wenn CDU-Innenminister Dobrindt Meldedaten/Listen für Trans-Menschen und Linnemann ein Register für psychisch kranke Menschen plant?
- … wenn in dem rechtsradikalen Dorf Jamel ein Rockfestival gegen Nazis stattfindet, dem vom Landrat Schomann (CDU) Steine in den Weg gelegt wurden?
- … wenn Lügen nicht erst seit heute zur „Kernkompetenz“, wie es Roger Willelmsen einst ausdrückte, gehört?
Sollte nun die zu erwartende Replik kommen, die anderen Parteien würden doch auch … Natürlich ist es genauso skandalös unanständig und man möge sie mit allen Mitteln maßregeln. Ich finde, dass diese Personen nicht mehr wählbar sind und ihre politische Chance verspielt haben. Doch mit Blick nach Amerika muss man leider feststellen: Je unanständiger der Präsident, je lauter der Jubel der WählerInnen. Menschen, was ist los mit euch?

Verfolgt man die Kommentare in den sozialen Medien, so wird schnell klar, dass mangelnder Anstand in der Politik für hohe Unzufriedenheit und Parteiverdrossenheit sorgt. Das ist nichts Neues, sondern ein alter Hut. Erbärmlich ist allerdings die Feststellung, wie wenig das irgendwen in der Politik zu kümmern scheint. In der Klinik, in der ich früher gearbeitet habe, gab es den Prozess der Fehleranalyse. So wollte man sicherstellen, dass falsches Vorgehen künftig vermieden werden kann. Warum gibt es so etwas nicht in einem großen System wie einer Regierung? Die Menschen wollen nicht betrogen werden. Sie wollen nicht mit ansehen, wie miserables Verhalten ungeahndet bleibt, wie geschachert und getrickst wird. Und wie sich dort Personen halten können, die in einem Betrieb längst entlassen worden wären. Und noch etwas: Recherchiert man zum Thema Lügen im politischen Bereich, so wird man das Gefühl nicht los, dass es sich dabei um ein charmantes Kavaliersdelikt handelt („Gottchen, jeder lügt doch mal!“). Nein! Wer in der Politik lügt und der Lüge überführt wird, sollte achtkantig rausfliegen. Das gilt auch für einen Kanzler oder Minister! Auch im privaten Bereich wollte ich nichts mit einer Person zu tun haben, der oder die lügt.
Abschließend noch eine Antwort zu der vorher gestellten Frage, was das mit mir macht! Ich kann schon lange Politiker eines solchen Schlages nicht mehr ernst nehmen, fühle mich durch sie nicht vertreten und werde mich von diesen albernen Hampelmännern und für dieses Land unwürdigen Vertretern der geballten Peinlichkeit auf meine Art abwenden. Abwenden bedeutet nicht wegzugucken oder – noch schlimmer – mich wegzuducken, sondern ihnen auf außerparlamentarische, aber radikal-eindrucksvolle Weise entgegenzutreten. Aber all das mit radikaler Kreativität und Anstand. Schließlich habe ich ihn noch gelernt!
Quellen:
Axel Hacke: Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen. Verlag Antje Kunstmann, München 2017
Rafael Ferber: Philosophische Grundbegriffe. Eine Einführung. Verlag C.H. Beck, München 1994