Jeder kennt sie: Kurznachrichten, die uns minütlich über Smartphone und PC erreichen. Sie überfluten uns, doch statt zu informieren wollen sie nur eins: uns unterhalten und am besten so, dass wir glauben, eine Meinung über etwas zu haben. Doch die wenigsten erkennen, wie krank dies viele Menschen macht.
Ein katastrophaler Ist-Zustand
Einer der von mir überaus geschätzten Momente des Zusammenlebens mit meiner Frau sind die oft die bis tief in die Nacht reichenden Gespräche – mit und ohne Wein. Und je später die Zeit, so scheint es mir, desto intensiver und tiefer die Themen. So ging es kürzlich noch um die 68er-Bewegung, Israels Genozid an den Palästinenser*innen in Gaza oder einfach um ein Buch, dass jemand von uns beiden aktuell gelesen hat. Doch eines Abends – es ist gut zwei Monate her – machten wir eine schaurige Entdeckung.

An dieser Stelle unterbreche ich einmal kurz meine Einleitung für den Artikel „Kurznachrichten“. Soeben hat sich oben eine kleine Spannung aufgebaut und die Leserin oder der Leser fragt sich, was a) die Entdeckung und b) so schaurig an der Sache war. Auf diese Weise sind viele Nachrichten präpariert, die uns Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute digital um die Ohren gehauen werden. Eigentlich wollte man auf Google etwas recherchieren, schon versackt man sozusagen unterwegs bei einer eigentlich in diesem Moment unwichtigen Nachricht. Breaking News heißen solche „Unterbrechungen“, allerdings – ich kann mir den Joke nicht verkneifen – könnte sich die Übersetzung auch auf das Brechen im Sinne von Übelkeit beziehen. Denn tatsächlich ist diese Form der Information zum Kotzen. Warum? Die Nachrichtenindustrie schafft es auf eine verlogene und gleichzeitig dreiste Art, dem Nutzer vorzugaukeln, dass es nahezu essentiell sei, die News zu lesen. Denn wer nicht informiert ist, ist und bleibt dumm. Gegenfrage: Habe ich etwas verpasst, wenn ich den Inhalt von bestimmten, zumeist gehaltlosen Nachrichten nicht weiß? Bin ich dann ein schlechter Demokrat bzw. eine schlechte Demokratin? Die Antwort kann sich jeder selbst geben, ansonsten erscheint sie zum Schluss (auch so ein Trick!).
Gehen wir zurück zur Einleitung und zur schaurigen Entdeckung. Es kann natürlich an dieser Stelle inzwischen so sein, dass man vergessen hat, dass ich am Anfang von einer schaurigen Entdeckung sprach. Um so besser, es war ja auch nur als Lockmittel gedacht. Die professionellen Medien wählen diesen Weg, um dem Leser/der Leserin im weiteren Verlauf Schwachstrominformationen und natürlich Werbung unterzujubeln. Vor einiger Zeit blieb ich an einer Überschrift hängen, die sich auf eine Musikerin bezog, die mir sehr gut bekannt war. Der Titel hieß sinngemäß: Sie werden nicht glauben, wie XY heute aussieht. Und ich fiel darauf rein. Natürlich wurde mir erst einmal kein Bild von der inzwischen schon in die Jahre gekommenen Frau gezeigt, sondern ich musste mich durch eine Galerie von anderen Musikern und Musikerinnen klicken, die immer wieder durch blödeste Werbung unterbrochen wurde. Nicht nur die Welt ist blöder geworden, sondern auch die Reklame. (Wer schon mal TEMU-Reklame gesehen hat, weiß was ich meine!) Das Ende vom Lied (um es kurz zu machen): Die angekündigte Musikerin tauchte gar nicht auf, doch ich war auf den Leim gegangen und wer weiß: Vielleicht hat die TEMU-Reklame doch noch mein Interesse geweckt! (Kleiner Spaß!)
Da ich in diesem Text keine Werbeblöcke zwischenschalten möchte, werde ich die schaurige Entdeckung endlich aufklären. Bei dem besagten Gespräch stellten meine Frau und ich fest, dass wir manchmal, ohne es selbst zu merken bzw. gemerkt zu haben, immer häufiger und immer länger an einem solchen Informationsirrsinn hängen bleiben. Nach dem Frühstück: Facebook und Instragram checken, zwischendurch in die Nachrichten-App schauen, bei einer Online-Recherche bei News hängen bleiben und nicht zu vergessen: mal eben ein paar entsprechend sinnentleerte, aber tiefsinnige Informationen versprechende Youtube-Videos schauen. Und wo man schon dabei ist, glotzt man das nächste Video gleich mit. Und das nächste … usw. Häufig ist es nicht nur das Informationsinteresse, das einen vor dem Smartphone oder Laptop in den Bann zieht, sondern vielmehr die plumpe Neugierde oder gar Sensationslust, obschon man die Inhalte vielleicht unter normalen Umständen für zutiefst verachtungswürdig halten würde. Es gibt eine Reihe von Menschen, die viele Stunden vor dem Bildschirm verbringen, manchmal sogar einen halben Tag. Oder mehr! Und so waren bei uns gute 1 – 2 Stunden zusammengekommen. In dem Zusammenhang muss man vielleicht erwähnen, dass wir seit über 15 Jahren kein Fernsehen mehr besitzen, um uns mit dem dort gezeigten Schwachsinn zu verschonen. Doch gegen das, was im digitalen Bereich gezeigt wird, besitzt das frühere Fernsehprogramm ein hohes Intelligenzformat.
Doch die Zeit ist nur die eine negative Seite der Münze. Eine andere ist die Menge und der Gehalt all der Informationen, die wie eine Überflutung daherkommen.
„Überflutung wurde zu einer oft verwendeten Metapher zur Beschreibung der Informationsübersättigung. Es kommt das Gefühl auf, zu ertrinken: Die Information als steigende, alles verschlingende Flut. Man kann auch von einer Bombardierung sprechen, wobei die Daten in einer Reihe von Einschlägen viel zu schnell und von allen Seiten auf die Menschen einprasseln. (JGL)“

Was uns bei diesem nächtlichen Gespräch auffiel, war noch etwas weitaus Schlimmeres. Wir stellten beide fest, dass diese Dauernachrichtenberieselung schädliche Auswirkungen auf unsere Gesundheit hatte und immer noch hat: Schlafprobleme, Kopfschmerzen, depressive Tendenzen, Stimmungsschwankungen, vor allem in meinem Fall unglaubliche Aggressionen, soziale Auswirkungen wie Rückzug und eine zunehmende Neigung zu einer menschenverachtenden Einstellung. Oft spielte bei der kognitiven Aufarbeitung der gesehenen News ein tiefes Ohnmachtsgefühl eine Rolle. Wie könnte man etwas dem Irrsinn in der Welt entgegensteuern? Mal regte sich meine Frau über die neusten Denkaussetzer des amerikanischen Präsidenten, sowie die ungebremste Unterstützung der amerikanischen Freunde der tiefergelegten Politik auf, während ich an dem völlig dysfunktionalen und mehr als erbärmlichen Geschwafel der AfD verzweifelte. Hinzu kommt, dass wir als Vegetarier und Unterstützer von Tierrechtsorganisationen stets auch Informationen über absolut tierfeindliche Prozesse bei der Aufzucht, Haltung, Transport und Schlachtung im Blick haben und gleichzeitig die Gleichgültigkeit der meisten Menschen – leider auch in unserem Umfeld – mit Sorge beobachten. Eine Reportage über solche Vorgänge lässt mich in einem ohnmächtigen Gefühl der Rage zurück. News machen krank und verstärken, wie nachgewiesen werden konnte, eigene persönliche Sorgen, die mit den Inhalten der Nachrichten gar nicht in Zusammenhang standen. Dazu Rolf Dobelli (auf sein Buch komme ich später zu sprechen):
„Durch die Digitalisierung haben sich News von einem harmlosen Unterhaltungsmedium in eine Massenvernichtungswaffe gegen den gesunden Menschenverstand verwandelt.“ Wie im Vorfeld beschrieben, ist es nicht nur der gesunde Menschenverstand, der durch News vernichtet werden kann, sondern es ruiniert auch die körperliche und psychische Gesundheit.
Als Psychologe (im Ruhestand), der früher Jugendliche betreute, war mir natürlich die gesundheits- und sogar lebenszerstörende Wirkung der digitalen Medien nicht neu. Ich las Fachartikel, besuchte Workshops, doch ich blendete aus, dass der gleiche Effekt – natürlich – auch bei Erwachsenen wie mir eine Rolle spielen könnte. Irgendwie schwingt doch stets der Glaube mit, die erwachsene Person sei reif und reflektiert genug, die Klippen des digitalen Overkills frühzeitig erkennen und einschätzen zu können. Doch dieser Glaube ist ein absoluter Irrglaube, denn meine Erfahrungen mit Jugendlichen zeig(t)en, dass die Unterschiede zu Erwachsenen, was eine mentale Verarbeitung von gesundheitsschädlichen Einflüssen anbetrifft, eher marginal sind. Ich habe zahlreiche junge Menschen kennengelernt, die aus genau den besagten Gründen, die digitale Informationsvermittlung über Handy & Co. ablehnten. Trotzdem waren sie übrigens gut informiert. Wie das?
Bevor ich diese Frage beantworte, möchte ich noch einen weiteren unbedingt wichtigen Aspekt im Zusammenhang mit digitalen Medien allgemein und dem Nachrichtensystem im Speziellen ansprechen. Natürlich liegt die Annahme nahe, dass Nachrichten deswegen vermittelt werden, um zu informieren. Auch das ist, gemessen an den Ergebnissen wissenschaftlichen Untersuchungen, leider ein Denkfehler. Hier geht es nicht mehr um Information, sondern schlicht und ergreifend um Unterhaltung. Eine Zeitlang postete ich auf Facebook sogenannte Satzzeichen, womit zumeist provokative Gedankensplitter gemeint waren. Eines davon lautete: „Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Tageschau als Spielshow angeboten wird.“ Der durch Arbeit und Alltagsstress gebeutelte Zeitgenosse hat keine Zeit mehr, ein informatives Buch zur Hand zu nehmen oder tiefgründige Dokumentationen zu schauen. Nein, er oder sie möchten fix, unterhaltsam und möglichst bildreich bespaßt werden. So schlimm die Szenen über die aktuellen Kriege und Katastrophen in der Welt sind, so schlimm ist auch der Verdacht, dass es eine Art billiger Ersatz für Horrorfilme ist. So kriegt man die Zeit bis zur Bettruhe rum, um am nächsten Tag wieder funktionstüchtig zu sein und in der Mittagspause mit dem erworbenen Knowhow über das aktuelle Weltgeschehen glänzen zu können. Der Vorteil dabei ist, dass alle Gesprächsteilnehmer nur halb und zum Teil falsch informiert sind, da die Komplexität zum Beispiel beim aktuellen Krieg in Gaza gar nicht in Kürze darstellbar ist. Hinzu kommt natürlich, das die Auffassungsgabe der vermeintlich Informierten sehr unterschiedlich ist.
Und zu diesem Dilemma gesellt sich noch ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Faktor. Computergestützte Verfahren beobachten meine Interessen. Man spricht hier von Algorithmen. Die Plattformen sammeln Daten über meine Interaktionen bei den Besuchen im Internet, personalisieren diese Bausteine und sortieren sie – ob ich will oder nicht – nach Kriterien wie Relevanz, Aktualität und Engagement-Potenzial. Mein Algorithmus erkennt also Muster bei meinem Internetverhalten und sucht, um mich zu befriedigen und um mich bei Laune zu halten, Themen aus, die mir dann bevorzugt gezeigt werden. Interessiere ich mich – wie bereits oben beschrieben – für das Tierwohl, so werden mir mit großer Wahrscheinlichkeit mehr Einheiten, die dieses Thema beinhalten gezeigt, als meinem unreflektiert fleischverzehrenden Nachbarn, weshalb der vermutlich bis heute davon ausgeht, das Fleisch an Bäumen wächst! (Den Spruch musste ich noch eben loswerden!).
In seinem bekannten Buch „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“ schreibt der Historiker Yuval Noah Harari:
„Während Sie im Internet surfen, sich Videos auf YouTube ansehen oder ihre Newsfeeds in den sozialen Medien lesen, werden Algorithmen Sie diskret überwachen, Sie analysieren und Coca-Cola verraten, dass Sie, wenn Sie Ihnen klebrige Brause verkaufen wollen, lieber die Werbung mit dem feschen Typen als die mit der attraktiven jungen Dame verwenden sollten. Sie selbst werden davon gar nichts wissen, und derartige Informationen werden Milliarden wert sein. (YNH)“

Fragt man sich, wer eigentlich all die vielen Nachrichten, egal ob Breaking-News oder World-News, schreibt, so ist die Antwort ernüchternd. Mit ein bisschen Vorstellungskraft kann man sich vorstellen, dass dafür nicht gut bezahlte und fachlich versierte Starjournalisten eingesetzt werden. Die findet man mit Sicherheit nicht oder äußerst selten bei den Mickey-Mouse-News von Google & Co. Es sind sicherlich motivierte Journalisten (wenn überhaupt), aber keine, die es gewohnt sind, komplexe Themen verarbeiten zu können. Sie müssen schnelle Nachrichten produzieren, da bleibt keine Zeit, in die Tiefe zu gehen. Gut recherchierte Informationen benötigen oft viele Tage bis zur Fertigstellung. Und für den Jammerlohn wird sich auch niemand die Mühe machen, journalistisch so weit über den Tellerrand zu schauen. Dennoch handelt es sich um Menschen, die bemüht sind, halbwegs Wahrheitsgehalt in die Sache zu zaubern. Nach dem Motto: Wenn schon verkürzt, dann wenigsten so, dass es ein bisschen wichtig und am besten auch richtig aussieht. Doch genauso existieren natürlich Unterweltschreiberlinge, deren Aufgabe darin besteht, Informationen so zu (ver-)drehen, dass sie zwar jegliche Wissenschaftlichkeit vermissen lassen, dafür aber Inhalte bieten, die einfach verstanden werden können. Die meisten Menschen können besser Informationen in ihren Konstruktsystem aufnehmen, die einfach gestrickt, gut einprägsam sind und nicht allzu weit von der eigenen „Denke“ liegen. Voila – wir sprechen hier von den Fake-News. An dieser Stelle des ersten Teils, sozusagen der Darstellung des Ist-Zustands, gebe ich zu bedenken (übrigens mir selbst auch): Ist es nicht ungemein frustrierend bis beschämend, mit welchen stümperhaft zusammengeschraubten Informationen wir durch die Welt laufen und sie zu allem Übel auch noch herumposaunen? Schon gehört? Der frühere Papst Franziskus soll 2016 Donald Trump als Präsident unterstützt haben. Hier handelte es sich um eine willentliche Informationsverfälschung durch die bekannte Fake-News-Website WTOE 5 New. Wohl kaum jemand wird beim Lesen der Nachricht die Quelle geprüft haben, aber Millionen haben es geglaubt. Und die Erfahrung hat gezeigt, dass meistens die „Uraussage“ Gültigkeit behält, auch wenn es ganz klar berichtigt wurde.
Ein weiterer Aspekt, der sich bei der Vielnutzung von Nachrichten & Co. einstellt, ist die Gewöhnung. Die bestialischen Szenen aus Gaza oder der Ukraine lassen uns mehr und mehr kalt, da wir das ja nun wiederholt gesehen haben. Aber vielleicht brauchen wir die Negativmeldungen und damit das Wissen darüber, dass so vieles schiefläuft. Möglicherweise lenkt es uns von unseren eigenen Problemen ab oder relativiert sie.
Natürlich schwirren Nachrichten und Falschmeldungen nicht nur in der digitalen Welt herum, sondern auch in der Papierpresse. Da meine Schwiegermutter der Meinung ist, dass ihre Fernsehzeitung, die sie jede Woche kauft, uns Nicht-Fernsehgucker eventuell bereichern könnte, liefert sie die gelesenen Exemplare regelmäßig bei uns ab. Die Berichterstattung ist katastrophal und – was vor allem auffällt – ungemein verkürzt. Deutlich wird immer wieder der Effekt des Erzeugens von Neugierde durch reißerische Überschriften, die einen förmlich zum Lesen zwingen. Irgendwann konnten wir im letzten Moment vereiteln, dass sie eine Adresse anschrieb, die in einem Artikel über patiententäuschende Machenschaften in der Medizin zu finden war. Dabei handelte es sich, was ihr entgangen war, um eine Abofalle. Übrigens habe ich die entsprechende TV-Zeitschrift damit konfrontiert, bekam aber keine Antwort. Die Philosophin Romy Jaster, die sich intensiv mit fake-news beschäftigt hat, schrieb:
„Nach meiner Überzeugung sind Fake-News Nachrichten, denen es einerseits an Wahrheit mangelt und andererseits an Wahrhaftigkeit seitens der Person, die Fake-News verbreitet. Wenn es einer Nachricht an Wahrheit mangelt, heißt das, dass sie falsch oder irreführend ist. Und wenn es einer Person an Wahrhaftigkeit mangelt, hat sie entweder eine Täuschungsabsicht oder die Wahrheit ist ihr einfach gleichgültig. (ROJ)“
Ersetze ich Person durch Fernsehzeitschrift, so ließe sich nach Jaster sagen: Den Machern der Illustrierte mangelt es an Wahrhaftigkeit – er ist ihnen offensichtlich egal!
Wie geht man mit diesen Erkenntnissen um?

Denkt man über Strategien nach, wie man mit den obigen Beurteilungen und Feststellungen umgeht, so möchte ich diesen Überlegungen ein Szenario voranstellen, das sozusagen den Extremfall präsentieren soll. Man stelle sich vor, meine Frau und ich würden in die absolute Einsamkeit ziehen. Wir lebten dort in einem kleinen Haus, umgeben von feinster Natur und fern von der Zivilisation. Vielleicht würde nur der Bauer beim Pflügen seiner Äcker hin und wieder vom Trecker aus grüßen. Wir hätten zwar Strom, aber würden auf Internet, Radio und Fernsehen verzichten und – da wir eher selten in die Stadt kämen – auch auf Zeitschriften. Natürlich bekämen wir hin und wieder Besuch von Freunden, aber wir würden deutlich unser Desinteresse an politischen und gesellschaftlichen Diskussionen zeigen.
- Wie würde es uns damit ergehen?
- Wären wir glücklicher und vor allem psychisch gesunder?
- Könnte man uns eine gewisse Gleichgültigkeit nachsagen, wenn wir nicht auf jeden Nachrichtenzug aufspringen? Sind uns etwa Menschen egal?
- Und wieder die Frage: Wären wir damit gute Demokraten*innen? Bedeutet eine demokratische Teilhabe nicht immer auch Information?
Übrigens haben wir, vor allem ich schon oft genug über eine solche Absonderung und Weltenflucht nachgedacht. Auch habe ich Menschen kennengelernt, die diesen Schritt in einem gewissen Maße längst umgesetzt haben. Und man hatte nicht den leisesten Eindruck, sie würden etwas vermissen. Ich denke allerdings, dass es in unserem Fall ein gewisser Phasenverlauf wäre:
- Zu Beginn gäbe es eine gewisse Unruhe nebst Automatismen, ständig auf ein Handy schauen zu müssen.
- Es würde sich ein schlechtes Gefühl einstellen, etwas zu verpassen und dadurch nicht mehr dazuzugehören.
- Nach und nach setzte ein Gewöhnungsprozess ein und der Aufmerksamkeitsfokus würde sich mehr auf Aspekte wie Natur, Wetter oder existentielle Themen richten. Bravo – willkommen schöne neue Welt.
Natürlich handelt es sich bei diesem Szenario um den Gegenpol von einer Überberieselung durch „Kirmes-Nachrichten“. Dazwischen gibt es sicherlich viele Grautöne, doch bevor man in eine Gegenoffensive einsteigt, sollte jeder zunächst selbst überlegen, wie wichtig ihm oder ihr Nachrichten sind. Und hier gilt vor allem das Nachdenken darüber, wie belastbar der jeweilige Mensch ist. Habe ich bei mir festgestellt, dass sich Stressreaktionen z.B. durch den Berufs- oder Lebensalltag eingestellt haben, sollte ich ganz klar entscheiden, erste Reduktionen vorzunehmen. Und hier stellen sich die Fragen:
- Warum müssen wir Menschen eigentlich 24/7 informiert sein?
- Waren die Zeiten wirklich so mies, als wir abends die Tagesschau geschaut und am Wochenende eine Wochenzeitschrift gelesen haben?
Da ich diese Zeiten aufgrund meines Alters persönlich kennengelernt habe, hier die Antwort: Ich sehe keinen großen Unterschied. Im Gegenteil! Der demonstrative Bullshit, der über Kurznachrichtensender gestreut wird, hat keinerlei Informationsfunktion. Er dient lediglich der Unterhaltung und wenn ich ständig Unterhaltung benötige, sollte ich mir über ganz andere Aspekte meiner Lebensgestaltung Gedanken machen. In unserem Gespräch, mit dem ich diesen Artikel eröffnet habe, kamen wir unter anderem zu dem Schluss, dass uns die dadurch vergeigte Lebenszeit zu schade ist und dass wir am Ende des Tages tatsächlich merken, dafür andere wesentlich wichtigere Punkte vernachlässigt haben.
Komme ich klar zu dem Ergebnis, zu viel Zeit mit digitalem Kram zu verbringen und dass es mir gesundheitlich schadet, sollte individuell analysiert werden, wie erste Änderungen gesetzt werden können. Helfen könnte dabei:
- Überlegen, wozu brauche ich die Nachrichten?
- Ein bestimmtes Zeitfenster einrichten, in dem man Nachrichten schaut. EIN Zeitfenster reicht!
- Bestimmte Kurznachrichtenportale auf dem Handy oder sonstwo canceln.
- Auf dem Handy die Einrichtung „digitales Wohlbefinden“ anklicken, wodurch zeitliche Begrenzungen eingesetzt werden.
Zeitgleich zu dem hier beschriebenen digitalen Nutzungsverhalten entdeckte ich in einem freien Bücherregal das Buch „Die Kunst des digitalen Lebens“ von Rolf Dobelli (Piper Verlag GmbH, München 2019). Man könnte es einen natürlichen Zufallsalgorithmus nennen (was natürlich in Kombination Quatsch ist). Meine Frau und ich lasen das Buch übrigens zeitgleich und diskutierten die Inhalte abends. Dobelli plädiert für das Experiment, den digitalen Konsum komplett und rigoros abzubrechen, was wir auch getan haben (dazu später). Es ist ein überaus empfehlenswertes Buch und als Strategie zur Medienreduktion bestens geeignet. Der Autor weist darin noch auf einen weiteren, bislang nicht berücksichtigten Punkt hin:
„Alle Informationen, die in ihren Kompetenzkreis passen, sind wertvoll. Alle, die außerhalb ihres Kompetenzkreises liegen, ignorieren Sie besser. Sie verschwenden damit Zeit und schaden ihrer Konzentration.“
Mit Kompetenzkreis meint Dobelli Bereiche, die mit dem eigenen Fachwissen oder der Sachverständigkeit zusammenhängen. So macht es natürlich Sinn, mich als Psychologe über neuere Entwicklungen, aber auch benachbarte Gebiete (Medizin, Philosophie etc.) zu informieren, aber ob ich nun unbedingt auch betriebswirtschaftliche oder finanztechnische Dinge wissen muss, sei in Frage gestellt. Ich sollte beachten, dass ich es vermutlich diesbezüglich nie zu wahrem Expertentum bringen werde, auch wenn sich das einige Leute einbilden und noch schlimmer – nach außen auch so präsentieren. Jeder kennt vielleicht eine Person, die jede Party dadurch sprengen kann, indem er oder sie auf unerträgliche Weise monologisiert und das vermeintliche Wissen auf Dauerspule runterleiert.

Wir haben in der letzten Zeit oft mit nahestehenden Personen über dieses Thema diskutiert und häufig kam der Einwand, dass es unverantwortlich sei, sich nicht zu informieren. Man sollte schon wissen, was in Gaza passiert, wie Trump die USA in eine antidemokratische Diktatur zerlegt oder was die Schliche der AfD sind, ihre Einfallslosigkeit zu kaschieren. Daher sei betont, dass es nicht darum geht, sich gar nicht zu informieren, sondern vielmehr um das WIE. Der Fokus der Information sollte in die Tiefe, nicht in die Breite gehen. Weder die örtliche Tageszeitung, noch (schon mal gar nicht) die BILD-Zeitung mit ihren Onlineportalen sorgen für eine umfassende Berichterstattung. Es ist ein Journalismus, der hier etwas kratzt und dort etwas aufdeckt, aber sich nicht intensiv mit dem Thema befasst. Und intensiv bedeutet:
- Verschiedene Sichtweisen einzunehmen,
- Zusammenhänge und Hintergründe zu analysieren,
- auf gut belegten Quellen aufzubauen und diese auch zu belegen
- und fachlich sehr spezielle Bereiche verständlich darzustellen.
Dobelli spricht in diesem Zusammenhang auch von „Erklärungspublizistik“. Weil genau dies von einem ernsthaften Journalismus betrieben wird, haben vor allem rechte Medien und selbsternannte Nachrichtenverkünder ein Problem: Sie können mit dieser Wahrhaftigkeit nicht mithalten und wollen mit einfachen Lösungen und Darstellungen punkten – auch wenn sie komplett falsch oder erlogen sind. Wenn man sich umfassend informieren möchte, dann sollte dies über ernsthafte Portale laufen, wobei ich hier keine Empfehlungen vorgeben möchte. Was die Situation der Informationsweitergabe betrifft, stieß ich neulich in dem wunderbaren Buch „Fabian – Die Geschichte eines Moralisten“ von Erich Kästner auf einen Satz, der mich mehr als nachdenklich machte, auch wenn er mich inzwischen nicht mehr verwundert. In der Handlung beobachtet der Protagonist Fabian, wie der Journalist Münzer Nachrichten verfälscht. Darauf angesprochen, antwortet Münzer:
„Glauben Sie mir, mein Lieber, was wir hinzudichten, ist nicht so schlimm wie das, was wir weglassen.“
Und etwas weiter:
„Man beeinflusst die öffentliche Meinung mit Meldungen wirksamer als durch Artikel, aber am wirksamsten dadurch, dass man weder das eine noch das andere bringt. Die bequemste öffentliche Meinung ist noch immer die öffentliche Meinungslosigkeit.“
Vielleicht ist das der Grund warum CDU und AfD neuerdings darüber nachdenken und dies zum Teil schon aktiv handhaben, wie man kritischen Journalismus, also wahrhaftigen und demokratiezugewandten Journalismus überwachen, einschränken oder möglichst ausMERZen kann. Übrigens schrieb Kästner obige Texte 1931!
Und noch eine Anmerkung: Immer wieder werden wir mit schrecklichen Nachrichten konfrontiert: Überschwemmungen, Amokläufe, Überfälle oder brutale Gewalttaten. Natürlich sind die News schrecklich und menschenverachtend, aber kein Opfer hat etwas davon, wenn wir minütlich Nachrichten dazu abrufen, die nebenbei noch – je nach Alter – Treppenlifter, Computerspiele für Sadisten oder Zahnversicherungen verkaufen wollen. Allein daran erkennt man schon die mangelnde Ernsthaftigkeit solcher Meldungen. Viel hilfreicher – vor allem für potentielle Opfer – wäre es bestimmte Hilfsorganisationen mit Spenden zu unterstützen, da hier um ein Vielfaches besser eingeschätzt werden kann, wo gerade was wie helfen kann.
Und wie ist unser Nachrichtenverzicht ausgegangen?
Nach der Lektüre von Dobellis „Die Kunst des digitalen Lebens“ haben wir eine ganze Weile erfolgreich eine Nachrichtenpause umgesetzt. Wir haben Aktivitäten auf Facebook eingestellt, Nachrichten-Apps auf dem Handy gelöscht und uns gegenseitig daran erinnert, nach dem Essen nicht mal eben sinnlos herumzusurfen, um doch wieder auf News-Portalen zu landen. Und auch auf der Toilette, als stilles Örtchen besonders für Handyaktivitäten geeignet, haben wir mit Entsagung, was das Lesen von News betrifft, geglänzt und stattdessen wieder ein Buch dort positioniert (so lese ich seit langem mal wieder Tucholsky – sehr amüsant!). Aber – was wir leider eingestehen müssen: Wir wurden ein wenig rückfällig, was ganz klar auch den Suchtfaktor von Bullshit-News hervorhebt. Und das ist ungemein bedrohlich. Wir arbeiten daran, schließlich macht jeder Fehler. Aber je mehr wir uns mit der Materie beschäftigen, um so mehr wird uns die Idiotie vor Augen geführt. Und ich muss ganz ehrlich gestehen: Ich schäme mich für mein gelegentliches Unvermögen, diesem Blödsinn zu entsagen.
Enden möchte ich mit einem Zitat von Dobelli:
„Die News-Industrie ist der Blinddarm einer Gesellschaft – permanent entzündet, aber ohne Funktion. Am besten, man schneidet ihn weg.“
Und zum guten Schluss: Ja, man ist ein Demokrat oder eine Demokratin, wenn man auf News verzichtet. Sogar ein guter bzw. eine gute! Eine demokratische Gesinnung zeigt sich nicht dadurch, dass man schwachsinnigen und wahrheitsverstümmelten Pseudojournalismus liest, sondern dass man sich kritisch-reflektiert informiert.
Quellenverzeichnis
(JGL) James Gleick: Die Information. Redline-Verlag, München 2011
(ROJ) In „WirnennendasdemonstrativenBullshit“ – taz.de
(YNH) Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. Verlag C.H. Beck oHG, München 2018