Der Telgter Weinstand
oder: Trinken für den Frieden auf der Welt

Anfang der 80er wurde der Weinstand zur Kultstätte der jährlichen Kirmes in Telgte. Hier trifft man sich, quatscht über alte Zeiten in Telgte und tut bei jedem Schluck Wein etwas Gutes. Wo gibt´s das schon? Hier die Geschichte – unverblümt und ungeschönt.

 

Weinstand Telgte (Foto A. Illhardt)
Weinstand Telgte (Foto A. Illhardt)

Plinius der Ältere, der auch schon mal die Kaiser Vespasian und Titus auf deren Feldzüge nach Germanien begleitete, kam irgendwann mal nach reichlichem Verzehr der goldenen Traube auf den Spruch: in vino veritias. Sogar der letzte Depp kriegt diese lateinischen Worte auf die Kette, was sich nach mehreren Gläsern Wein in etwa wie iwiiinooväitass anhört, aber selbst im betrunkensten Zustand noch ungemein geistreich und nach verkapptem Altlateiner klingt.

Dass im Wein die Wahrheit liegt, exportierte uns Telgtern sogar ein bisschen Rhein an die Ems. Herbert Pohlkamp brachte diese Idee nämlich von einer Weintour (Weintour hat nix mit Weinen zu tun!) mit. Er war überzeugt: Telgte braucht einen Weinstand. Gut, dass er nicht auf dem Münchner Oktoberfest war! Und als damals noch junger Pfadfinder galt auch für ihn: Jeden Tag ´ne gute Tat. Und so entstand Anfang der 70er Jahre der erste Weinstand, der auf der legendären Kirmes, auch als Mariä-Geburtsmarkt bekannt, sein anfängliches Nischendasein fristen sollte. Wein in Telgte, dachten sich damals die immer schon etwas grobmaschigen Telgter, ist der Beginn von Sodom und Gomorrah, weswegen früher niemand den knuffigen Stand so richtig lieb hatte. Übrigens war das Weinstandkonzept stets so konzipiert, dass der Erlös für einen guten Zweck gespendet wurde. So konnte man sich also geziemend das Jack vollsaufen und immer sagen: Prost, auf die armen Soundso oder den Weltfrieden, womit jedes Glas in gewisser Weise sinnstiftend war.

Irgendwann, Anfang der 80er, waren die Bretter nicht mehr ganz ausschankfrisch, so dass von der Telgter Pfadfindergruppe Condor (jedenfalls von Überresten davon), ein neuer zusammengeschraubt wurde. Auch ich trage etwas Verantwortung für ein paar Schrauben im Gebälk. Der Stand bekam sogar einen Boden, weil es nach einer durchzechten Kirmes innendrin aussah, als wenn ne Horde Büffel dort gewütet hätte.

Eines Tages wurde zu Kirmeszeiten ein Mann tot in den Fluten der Ems geborgen. Natürlich war das Gezeter groß und alle Telgter zeigten mit ihren Fingern, ja auf wen wohl, auf die Weinstandbetreiber. Da die Pfadfinder damals als alternative Brotbeutelträger und rudimentäre Bombenleger galten, sah man den Weinstand als ausgemachten Sündenpfuhl. Es verwundert mich noch heute, dass damals nicht Altprobst Fleuth eingegriffen hat, der seinerzeit schon die “Raupe” verboten hatte, befürchtete er doch, dass unter dem verschlossenen Verdeck zuviel unkeusches Zeug getrieben würde. Was mal wieder belegt, wie wenig Praxisverstand die Geistlichen diesbezüglich haben. Geknutscht und gefummelt wurde eher hinter der Raupe; bei der Fliegkraft ist doch kein vernünftiger Zungenkuss möglich! Der Mann in der Ems soll übrigens voller Bier gewesen sein, was natürlich niemand so wirklich hören wollte! Wie sagte schon Franz Beckenbauer: Der Grund war nicht die Ursache, sondern der Auslöser!

Gegen Ende der Ausschankzeit ging man mit einem Tablett Wein zum Autoscooter und während die Betreiber sich das Gesöff hinter die Binden gossen, gönnten sich die Pfadfinder ein paar unentgeltliche Runden, was mit dem vorher verkonsumierten Wein besser als jede andere zu der Zeit verfügbare Droge kam. Schlimm war nur und ist noch immer: die Orgel in unmittelbarer Nähe. Wie oft wurde überlegt, dem Gejaller mit diversen Sabotagen ein Ende zu bereiten oder gar Wein in die Orgelpfeifen zu gießen. Wenn die wenigsten mal Nothing else matter dudelten oder ein paar mehr Grooves draufpackten!

Kirmeserotik Telgte (foto A. Illhardt)
Kirmeserotik Telgte (Foto A. Illhardt)

 

Weinstand hieß immer schon: Treffen in Telgte. Obschon die Kirmes insgesamt spannend wie eine Sendung mit Hansi Hinteseer ist, kommen jedes Jahr Heerscharen von jungen, älteren und nie alternden Weinfans in die Emsstadt, um hier dem mittelprächtigen Weingeist kräftig zu frönen, bevor man sich bei Tante Änne (Zum Wilden Mann) endgültig die Lichter ausschießt. Übrigens hat der Weinstand nicht nur Freunde! Gerade die Bierstände fürchten die Konkurrenz, weswegen man den Weinstand schon ein paar Mal ordnungsamtmäßig schließen wollte. Da scheint wohl eine gewisse Vetternwirtschaft zu existieren. Aber mal ehrlich: gibt es so schöne Geschichten von Bierständen auf der Kirmes?

Ende der 80er kam dann das endgültige  Aus für den sympathischen Stand. Die Pfadfinder, bislang Betreiber der Schänke, lösten sich auf. Die kleinen blauäugigen Monster bastelten lieber an ihrer Karriere als PC-Junkie (“unser Kevin kann jetzt schon Stufe 3″), als – wie uncool – bei den Pfadfindern Spaß zu haben. Und so gab es 89 keinen Weinstand, dafür aber Gedächtniskreuze und eine Kondolenzliste. Natürlich wurden die Kreuze aus Pietätsgründen direkt entsorgt. Mit Kreuzen ist man in Telgte etwas pingelig. Nur auf den Anschreibdeckeln in den Telgter Kneipen sind sie weiterhin ausnahmsweise gestattet. Das mit der Pietät war in einer Wallfahrtstadt immer so ein Kreuz!

Maria sei Dank fand sich ein Jahr später ein illustres Grüppchen, gab sich den Namen “in vino veritas” und führte den alten Gedanken “Trinken für den Frieden in der Welt und in der Stadt” fort. Näheres findet man unter www.der-weinstand.de. Also: Nix wie hin da und wenn man sich durch die Zwanzigerreihen gekämpft und eines der Kultgläser ergattert hat, dann ist man angekommen: Am Weinstand von und zu Telgte.

Wie man den Weinstand findet? Immer der Orgel nach!