Telgte. Der Schreibtisch sieht nach Arbeit aus, überall Accessoires, Erinnerungsstücke, die kleine runde Uhr tickt, grimmig glotzt ein Plastikleguan in den Raum, lediglich das Töpfchen für die Pinsel müsste mit Wasser gefüllt werden und man meint, jeden Moment könnte Brigitte Lange-Helms mit ihrem Rollstuhl, auf den sie seit 45 Jahren angewiesen war, um die Ecke biegen, um ihre Arbeit an einem ihrer filigranen Werke aufzunehmen. Alles an ihrem Arbeitsbereich ist so eingerichtet, dass sie es im Sitzen erreichen kann. Konnte!
Am 15. Dezember 2014 ist die Telgter Künstlerin mit 74 Jahren nach einer langen Krankheit verstorben. Die Qualen ihrer mehr und mehr zunehmenden Lähmung haben irgendwann ihren zeitlebens starken Lebenswillen gebrochen. Und damit auch zum Schluss die Quellen versiegen lassen, aus denen sie ihre unermüdliche Schaffenskraft zog.
Ich sitze im Wohnzimmer der verstorbenen Künstlerin, mir gegenüber ihr Mann Herbert Lange, selbst Grafiker, und Michel M., Sohn und ebenfalls Künstler. Leider bin ich Brigitte Lange-Helms im Leben nicht begegnet, auch ihren Kunstwerken nicht. So gut wie nicht: Bei einer Gemeinschaftsausstellung im Telgter Kornbrennerei-Museum kurz vor ihrem Tod stehe ich lange vor einigen Exponaten, exakt gemalte, mythologische und zum Träumen einladende Bilder. Zur Vorbereitung auf mein Interview mit Ehemann und Sohn habe ich Kataloge durchblättert, Bilder studiert und Texte gesichtet. Und je mehr ich mich mit den Tusche- und Bleistiftzeichnungen, Holz- und Linolschnitten, Farbstiftzeichnungen, Aquarellen, Monotypien, Federzeichnungen, Schabetechniken und Miniaturmalereien beschäftige, desto mehr tauche ich darin ein. Die Anmerkung eines Kommentators, Brigitte Lange-Helms verführe zum Träumen, bewahrheitet sich. Mich überfällt beinah ein schlechtes Gewissen, Licht in diese geheimnisvolle Malerei bringen zu wollen.
Die 1940 in Münster geborene Brigitte Lange-Helms absolviert zunächst eine kaufmännische Lehre in Soest und studiert danach visuelle Kommunikation und Design an der Fachhochschule Münster. Hier lernt sie auch ihren späteren Ehemann kennen, der als Grafiker und Werbeleiter tätig und u.a. für die Aufarbeitung des Goldenen Buches in Telgte verantwortlich war. Man hatte anfangs öfter miteinander zu tun, beschreibt Herbert Lange die Anfänge der jahrzehntelangen Beziehung und „dann passierte plötzlich was!“ Seit ihrem schweren Unfall ist Brigitte Lange-Helms gelähmt und sitzt im Rollstuhl. 1993 erwirbt die Familie ein behindertengerechtes Haus in Telgte.
So war ich – so bin ich – so bleibe ich! Diese ausdrucksstarken Worte untermalen ein Foto von der Künstlerin in einem Katalog zu ihren Bildern. Darauf schaut mich eine überaus attraktive, damals noch dunkelhaarige, selbstbewusste Frau an, mit lebendigen, offenen Augen, die viel gesehen haben und sich viel eingeprägt haben. Sicherlich hat ihre Behinderung dazu geführt, ihr Leben umzustellen, Hilfe annehmen zu müssen, doch ließ sie sich in ihren Einstellungen, in ihrem Lebenssinn und ihren Lebenswerten nie beirren oder umpolen, beschreibt sie ihr Ehemann nicht ohne eine gewissen Stolz in der Stimme. Und dennoch macht sie auf ihren Reisen, aber auch im ganz normalen Alltag viele negative Erfahrungen mit ihrer Behinderung. Eines ihrer Bilder zeigt ein affenähnliches schwarzes Wesen mit Sonnenbrille, das in einem Rollstuhl sitzt und den Titel „Zoologisches Exemplar“ trägt. Durchaus fühlte sie sich beglotzt, ausgegrenzt und erlebte vor allem immer wieder die eigenen Landsleuten als wenig rücksichtsvoll und einfühlsam.
Die Bilder von Brigitte Lange-Helms verbinden in der Wahrnehmung des Betrachters Wirklichkeit und Fantasie. Ihre Bilder tragen z.B. Titel wie „Gehörnter Vogel“, „Mylonitischer Krieger“, „Hexenflug“ oder „Schmetterlingstänzer“. Die Fantasiefiguren, Hexen, Dämonen, Geister oder Seejungfrauen entspringen einer geheimnisvollen Mythologie, kommen aus mystischen Welten, Religionen, aber auch der unmittelbaren Umwelt. Sie balancieren zwischen Abstraktion und Figürlichkeit, tragen dabei z.T. theologische wie anthropologische Botschaften. Dieses Pendeln zwischen realen und fiktiven Welten war für die Künstlerin, wie Michel M. betont, nie ein Widerspruch, sondern „…es waren nur zwei Sichtweisen von dem, was wir Realität nennen“. Diese verschiedenen Sichtweisen zeigten sich in unterschiedlichen Techniken und Darstellungsformen, in einer „künstlerischen Vielseitigkeit ohne modische Macken“, wie es in ihrem Katalog heißt. Dennoch ist immer ihr ganz eigener, unverkennbarer Stil zu erkennen.
Die Inspiration für diese Mythologie in ihren Bildern stammte z.T. aus der Literatur. Schon in jungen Jahren war ihr Interesse an Märchen, Sagen, Lyrik und religiösen Texten sehr ausgeprägt. Auch von der Kritik, dass vor allem Märchen psychoanalytisch als bedenklich galten, ließ sie sich nicht abhalten, die Symbolik in ihre fantastische Malerei einfließen zu lassen. Viele innere Bilder, die sie in ihren Werken umsetzte, brachte sie von ihren Reisen mit, die sie trotz ihrer Behinderung auch alleine unternahm. Vor allem eine längere Tour mit ihrem Mann nach Indien, womit sie sich einen großen Traum erfüllte, inspirierte sie stark. Allerdings fand sich ihr Faible für die indische Mythologie schon im Vorfeld in Werken wieder. Vater und Sohn waren sich einig, dass der Hintergrund für die Motivation zu dieser langen und auch beschwerlichen Reise in der Faszination des Orients und der unbekannten Ferne lag. Es waren hier vor allem Miniaturen altindischer Künstler der Mogulzeit die sie fesselten und sich schon vor Indien in ihren Bildern wiederfanden.
Neben der Literatur und den Reiseerlebnissen war die Religion eine weitere Quelle für ihre Kreativität. Brigitte Lange-Helms war eine religiöse Frau „aus dem Tiefsten her“, wie es ihr Mann umschreibt. Sie war weniger ein frommer, als vielmehr ein spiritueller Mensch. Ihre große Verehrung, sowie Dankbarkeit galt Schwester Euthymia, deren Grab in Münster sie so manches Mal besuchte. Durch diese Heilige hatte sie sehr viel Halt und Beistand in schwierigen gesundheitlichen Lebenssituationen gefunden.
Trotz all ihrer Träumereien und Fantasien aus mythologischen und wirklichen Welten, sowie der Verwendung einer Symbolik, die häufig in der Vergangenheit zu verorten ist, war die Künstlerin ein sehr gegenwartsbezogener Mensch. Sicherlich war sie keine Utopistin, wie Michel M. anmerkt. Sie war sehr interessiert an dem, was um sie herum passierte und mischte sich vor allem dann ein, wenn es um Ungerechtigkeiten ging. Es war für sie unerträglich, wie sich Teile der Menschheit zerfleischten. Ihren Protest drückte sie z.B. in einer Krippe aus, in der die Figuren als Demonstranten dargestellt sind: „Die Heilige Familie …demonstriert und verlangt Frieden von allen Menschen auf der Erde. Es könnte sonst bald das Ende kommen. Darum hört doch endlich auf!!!“ kommentierte sie diese Szene. In anderen Bildern nahm sie kritisch Stellung zu entsetzlichen Missständen wie z.B. der Verstümmelung von Mädchen und Jungen durch rituelle Beschneidungen. Vor allem die Emanzipation der Frau war ihr ein großes Anliegen. Der humanistische Grundgedanke, die Idee einer friedlichen Welt zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Gedankengebäude. Vielleicht waren ihre Bilder als eine Art visuelle Heilkunst für den jeweiligen Betrachter gedacht.
Brigitte Lange-Helms ist nicht nur eine Bildererzählerin, sondern auch jemand, der zeitlebens als sehr redefreudig galt und der selbst dann der Gesprächsstoff nicht ausging, wenn sie – wie z.B. in Indien – der Landessprache nicht mächtig war, erinnert sich ihr Ehemann schmunzelnd. Neben der bildnerischen und gesprochenen Sprache fließt ihr Erzähldrang in das von ihr illustrierte und geschriebene Märchenbuch „Pele Snak“ ein, in dem es um Geschichten „nicht nur für Kinder“ geht.
In dem Werk-Katalog von Brigitte Lange-Helms wird ihr Leben als eine Art Zyklus des Wanderns und Suchens beschrieben. Ich frage meine beiden Gesprächspartner, ob die Künstlerin gefunden hat, was sie gesucht hat. Herr Lange zuckt ein wenig mit den Schultern. Er weiß es nicht genau, denn dieser Prozess war selbst in schlimmen Momenten Lebenssinn und Energie ihrer Tatkraft. Auf dem Totenzettel findet sich ein Spruch von Tagore, einem bengalischen Dichter, Philosoph, Maler und Musiker: Sterben ist das Auslöschen der Lampe im Morgenlicht, nicht das Auslöschen der Sonne. Man hat das Gefühl, die Sonne scheint immer noch über dem Haus von Brigitte Lange-Helms und es bleibt zu hoffen, dass ihre Bilder irgendwann eine würdevolle Unterbringung finden, wo sich die Idee des Träumens und Suchens auf den Betrachten übertragen und er „im Kleinen das Große erkennen“ (ein typischer Signierungstext von BLH) kann. Denn wenn Brigitte Lange-Helms eins nicht gewollt hat, dann dass das menschliche Suchen irgendwann eine Ende findet.
Die gesamte Bildergarie der Kulturvisite (Fotoquelle: Archiv Michel M.):