Werte – unsichtbare Phänomene
Ist das ein Wert oder kann das weg?

Wert kommt von wertvoll. Doch wird man das Gefühl nicht los, dass das Wertvolle von Werten vor allem in ihrer Undeutlichkeit liegt. So kann man mit Wert ramschen und handeln, dass sich die Ethikbalken biegen. Und? Es scheint niemanden so richtig zu interessieren. Also mal nachgefragt: Was sind Werte heute wert? Und: Welche Werte sind gemeint, wenn von ihnen gesprochen wird?

Vom Begriff zur Bedeutung

Werteverfall (Foto Arnold Illhardt)

Man hat das Gefühl, dass immer dann, wenn etwas aus dem Ruder gelaufen ist bzw. droht, aus dem Ruder zu laufen, tief in die Wertekiste gegriffen wird. In solchen Momenten tritt ein Politiker oder einflussreicher Mensch vor die Kamera und säuselt in die hingehaltenen Mikrofone mit Endzeit simulierendem Blick, dass wir uns wieder auf unsere Werte besinnen sollten. Oder vielleicht sagt er auch, dass wir uns in einer Wertegesellschaft befinden oder dass unsere christlichen Werte in Gefahr sind. Und bei dem Begriff Werte bekommt der Zuhörer schwitzige Hände, da es ein bedeutungsschwangerer, fast schon sakraler Begriff ist. Wert leitet sich von wertvoll ab und wenn etwas wertvoll ist, dann ist es auch wichtig. Es wäre schließlich ein Drama, wenn uns Wichtiges abhandenkäme. Selten allerdings wird in diesem Zusammenhang auch erwähnt, um welchen Wert es sich grade bei der jeweiligen Wertediskussion handelt. Genau das ist der Trick: Es klingt gewaltig, bei näherem Hinsehen ist es ein gut funktionierendes Täuschungsmanöver. Denn die Wertekiste vieler „Wertebeteurer“ ist schlicht und ergreifen … LEER! Aber alle wollen eine Wertegemeinschaft sein.

Ein paar Beispiele für möglicherweise aufrichtige, weniger aufrichtige und unaufrichtige Werte: Als 2012 der Europäischen Union der Friedensnobelpreis überreicht wurde, sprach der damalige EU-Kommissionspräsident Barroso davon, sich für Werte einzusetzen, „um die Welt zu einem besseren Platz für alle zu machen.“ (PA) Mit diesen Werten meinte er den Kampf für Frieden, Versöhnung, Demokratie, sowie Menschenrechte. Durchaus schöne Werte! In einem Interview, das die Deutsche Welle 2015 mit dem Künstler und früheren Präsidenten der Berliner Akademie der Künste Klaus Staeck führte, spricht Staeck über die Notwendigkeit, sich im Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation als Künstler einzumischen: „Wenn wir eine Wertegemeinschaft sein wollen, dann müssen wir uns auch an Werte erinnern. Und dazu gehört auch der Artikel 1 des Grundgesetzes („Die Würde des Menschen ist unantastbar“, Anm.d. Red.). Und dann sind wir (damit meint er die Künstler) ganz anders in der Pflicht!“ (DW) Wer Staeck kennt, nimmt ihm diese Werteerinnerung durchaus ab. 2019 mahnte Hans-Georg Maaßen, Mitglied der konservativen CDU-Werte(!!!)-Union und ehemaliger Verfassungsschutzpräsident in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: „Wir müssen nicht nach links schauen, wir müssen nicht auf die Grünen schielen, wir sind gegen den Öko-Populismus, sondern wir müssen uns auf unsere eigenen Werte und Positionen wieder besinnen.“ (DF) Und weil es so schön ist, noch ein Zitat aus dem frisch gekürten Wahlprogramm der AfD, das auf dem Parteitag im April 2021 in Dresden beschlossen wurde. Darin heißt es: „…eine humanitäre Aufnahme dürfe es nur für vom Bundestag ausgewählte, besonders schutzbedürftige Personen geben, „für deren Auswahl ein mit der deutschen Werte- und Gesellschaftsordnung vereinbarter kultureller und religiöser Hintergrund ein wichtiges Kriterium ist“. (TS)

In allen vier, eher willkürlich ausgewählten Beispielen, geht es um die Themen Werte, Wertesystem oder Wertordnung, Begriffe, die in der Regel identisch benutzt werden. In diesem Zusammenhang sei auch noch das Wort Norm erwähnt; die Unterschiede sind geringfügig und zudem fließend:

„Werte (im Sinne von Wertvorstellungen) sind eher soziokulturell geprägt. Eine Norm bestimmt ein obligatorisches bzw. gefordertes Maß und wird meist auf Dinge oder den Körper von Individuen angewendet (EDW).“

Bereits hier stellt sich die spannende Frage, ob José Manuel Durão Barroso, Klaus Staeck, Hans-Georg Maaßen und x-beliebige Politiker der AfD wohl dasselbe unter den von ihnen angemahnten Werten verstehen. Zumindest zwischen Klaus Staeck und den rechtsnationalen Politikern der faschistisch ausgerichteten Partei der AfD dürften Welten liegen und vermutlich – Achtung: Wortspiel – auch Werte!

Werte und Normen: Wie Tiefseefische

Werte als Gewicht (Foto Arnold Illhardt)

Wenn von Werten geredet wird, ist nicht immer ganz klar, was jetzt eigentlich grade gemeint ist: Regeln, Bräuche, Konventionen, Etiketten, Normen, Tugenden oder gar: Mode? Ein bisschen erinnert mich das an Tiefseefische, die auch kaum jemand zu Gesicht bekommt. Mein sehr geschätzter Psychologieprofessor Manfred Sader, bei dem ich auch meine Diplomarbeit geschrieben habe, hat dies in seinem Buch „Die Psychologie der Gruppe“ ganz treffend aufgearbeitet. Normen – und dies gilt genauso für Werte – sind in der Regel nicht explizit und für alle sichtbar ausformuliert. Sie sind „zumeist unthematisch, undiskutiert und werden als nicht bezweifelbare Selbstverständlichkeiten erlebt.“ Und weiter: Es „…sind lediglich phänomenale Sachverhalte, sie sind nirgendwo objektiviert oder schriftlich festgehalten (MS).“

 In Gesprächen, vor allem in tiefschürfenderen fällt mir immer wieder mal auf, dass man über zweierlei Dinge spricht, ohne dies über eine lange Zeit des Redens zu merken. Bei Werten scheint mir das nicht viel anders zu sein, da ja, wie oben angemerkt, kein allgemeingültiger Konsens bezüglich der Werte besteht. Das führt zu sehr wichtigen Feststellungen, was die individuellen Werte anbetrifft:

 Mit Werten werden jeweils sehr unterschiedliche Inhalte assoziiert.

Es scheint keine umfassenden, allgemeingültigen Werte zu geben.

Werte haben einen deutlich inflationären Charakter.

Ist von Werten die Rede, bleibt die dahinterstehende Bedeutung zumeist nur sehr schemenhaft thematisiert. Und…

Wenn jemand von Werten schwadroniert, heißt das noch lange nicht, dass diese auch für ihn und sie selbst Gültigkeit besitzen.

Werte, so scheint es, haben eine Art „So-als-ob-Funktion“, die man gerne einsetzt oder sogar mit ihr zu glänzen versucht, die aber, bohrt man in die Tiefe, keine bindende und vor allem klare Struktur besitzen.

Der französische Philosoph André Comte-Sponville be- und umschreibt in seinem Buch „Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben“ (ACS), das er als kleines Brevier der Tugenden und Werte bezeichnet, folgende Aspekte als Werte und Tugenden:

Höflichkeit, Treue, Klugheit, Mäßigung, Mut, Gerechtigkeit, Großherzigkeit, Mitleid, Barmherzigkeit, Dankbarkeit, Demut, Einfachheit, Toleranz, Reinheit, Sanftmut, Aufrichtigkeit, Humor, Liebe, Eros, Philia (im weiteren Sinne freundschaftliche Beziehung) und Agape (bedingungslose und unauflösliche Liebe).

Auch wenn ich bei einigen Nennungen wie Demut, Barmherzigkeit und Reinheit Pickel bekomme, da sie „katholisiert“ und damit aufgrund der im Katholizismus anzutreffenden Doppelmoral verbrannte Erde bedeuten, lässt sich dennoch über den ein oder anderen Wert trefflich streiten, ob man ihn nicht in ein allgemeingültiges Wertesystem übernehmen könnte. Joseph Hanimann merkt in einer Buchkritik in der FAZ (s. Bucheinband) an, dass eine mögliche Wertekrise „nicht im Zerfall moralischer Werte, sondern in deren Verwechslung mit den politischen Werten“ liegt. Das erscheint mir interessant festzuhalten, denn wenn ein x-beliebiger Politiker von Werteverfall spricht, denkt der Hörer häufig an oben genannte individuelle Werte. Und zwar ungeprüft; aber was meinte der Politiker mit Werteverfall wirklich? Hat schon mal jemand bemerkt, dass in der Regel die Werte nicht benannt werden?

Auch der Begriff Tugend wird gerne in der Wertediskussion aus dem Ärmel gezaubert, obschon dies zweierlei paar Schuhe sind, die aber vermutlich im gleichen Regal im Schuhladen stehen. Von Tugenden sprechen wir eher bei ausgeprägten Fähigkeiten, über die ein Mensch verfügt und die wir als besonders lobenswert und damit für wertvoll einschätzen. Tugend bedeutet auch Tauglichkeit oder Vorzüglichkeit. So spricht der deutsche Philosoph und Psychiater Karl Jaspers von den Tugenden der wissenschaftlichen Forschung. Hier nennt er

„…Sachlichkeit, Hingabe an den Gegenstand, besonnenes Abwägen, Aufsuchen der entgegengesetzten Möglichkeiten, Selbstkritik, Vorsicht im endgültigen Behaupten, das Prüfen der Grenzen und der Art der Geltung unserer Behauptungen, das Hören auf Gründe, das Verstehen sowie das Mitdenken auf dem Standpunkt eines jeden anderen.“ (WP)

Ich wünschte, diese Tugenden würden zu allgemeingültigen Werten, politisch, wie gesellschaftlich oder persönlich. Da wäre uns in vielerlei Hinsicht auf dem Weg zu mehr Gemeinschaft und Demokratie bereits geholfen.

Eigene Wertesysteme und ihre Entstehung

leuchtende Werte (Foto Arnold Illhardt)

Die Sozialisation und damit die Erziehung, frühe Vorbilder, kulturelle, sowie religiöse Einbettungen, Medien oder familiären Narrative tragen zur Ausprägung eines eigenen Wertesystems bei. Dabei ist es allerdings nicht nur maßgeblich, dass Werte als abstrakte Vorgaben genutzt werden, sondern auch von denen, die diese weitergeben, authentisch vorgelebt werden. Wird mir beispielsweise gesagt, dass Ehrlichkeit ein hoher Wert sei, mein Vater oder meine Mutter es aber beim Fremdgehen mit einer anderen Person selbst mit der Ehrlichkeit nicht so genau nehmen, zersetzt sich ein solcher Wert in etwas Dahergesagtes. Der ursprüngliche Wert wird damit – wertlos. Ein solcher Prozess geschieht in der Politik alltäglich: Korruption, Machtmissbrauch und Lobbykratie sind keine Aspekte, mit denen vermeintliche Werte wie Ehrlichkeit oder Aufrichtigkeit entsprochen wird. Werte werden zur Farce.

Interessant in der Arbeit mit kleinen Kindern ist die Feststellung, dass sie häufig sehr einfache Wertvorstellungen haben, die sie auch innerhalb einer Gruppe im Kindergarten, Schule oder im Freizeitbereich kommunizieren. So erzählte mir mal ein Mädchen von der goldenen Regel, die in ihrer Schule existiere: Verhalte dich immer so, wie du selbst behandelt werden möchtest. In meiner Tätigkeit als Kinder- und Jugendpsychotherapeut berichten die Kleinen oft von sehr lobenswerten Einstellungen, wie z.B., dass alle Menschen gleich seien, dass man kein Lebewesen und somit auch keine Tiere quälen dürfe oder dass Gewalt etwas Schlechtes sei. Bei der Einschulung meiner Enkelin beobachtete ich einen kleinen Jungen, der mir gleich auffiel, da er in einem Tarnanzug erschien; sein Vater trug – welch ein Zufall – ein T-Shirt mit dem Aufdruck eines hochaggressiven Computerspiels. Als die Kinder nach der allerersten „Unterrichts“stunde in die allererste Pause liefen, begann der kleine Junge, mit anderen Jungs direkt Kampfspiele durchzuführen, bei denen er unter Einsatz von zischenden und explodierenden Geräuschen simulierte, wie er seinen Feind auf grausame Arte vernichtete. Zum Schluss stellte er sein Bein auf das am Boden liegende Opfer und gab den Gnadenschuss. Ein paar Mädchen stellten sich um den „Krieger“ und kritisierten sein Verhalten, was den Jungen allerdings wenig zu beeindrucken schien. Das erinnerte mich an einen Satz von Robert Jungk: „Aber diese bei Kindern noch weitgehend vorhandene Gabe des originellen, von Norm und Routine abweichenden Denkens wird nicht gehegt und gepflegt, sondern im Anpassungsprozess an die „Regeln“ der Erwachsenenwelt und zum Absterben gebracht. (RJ)“ Eine Feststellung, die ich nur zu gut bestätigen kann, auch wenn die Sätze vor fast 50 Jahren geschrieben wurden.

Unter Entwicklungsaufgaben im Jugendalter werden kulturell und gesellschaftlich vorgegebene Erwartungen und Anforderungen verstanden, die an Personen dieser Altersgruppe gestellt werden. Eine dieser Aufgaben ist auch das Zu-eigen-machen eines Norm- und Wertesystems (Havighorst) oder ethischer Prinzipien. Die Heranwachsenden sollen lernen, dass jedem Wert (= allgemeine Zielorientierung für das Handeln) eine Norm (= konkrete Handlungsvorschrift) gegenübersteht. Dem Wert „Solidarität“ stände somit die Norm „Du sollst Menschen in Not beistehen!“ gegenüber. Doch wie erfahren Jugendlichen ihre Entwicklungsaufgaben und weiter gefasst: Wer erklärt ihnen, was verbindliche Werte sind? In meiner Tätigkeit als Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche mache ich alltäglich die Erfahrung, dass die wenigsten jungen Leute jemals von Entwicklungsaufgaben gehört haben; allenfalls Schüler, die Pädagogik als Fach belegt haben. Ist die Vermittlung von Werten somit ein zufälliger Vorgang?

Mit einer Gruppe von Jugendlichen zwischen 15 und 19 Jahren führte ich ein Verfahren durch, in dem ich zum einen die Entwicklungsaufgaben vorstellte, zum anderen aber auch eine Diskussion über Werte entfachte. Folgende Aspekte wurden von den jungen Leuten als eigene Werte zusammengetragen: Ehrlichkeit, Gesundheit, Familie, Mitgefühl, Bildung, Selbstakzeptanz, Menschenliebe, Lebensfreude, Freunde, Selbstbewusstsein, Eigenständigkeit, Verantwortlichkeit, Loyalität und Gerechtigkeit. Wer ist eigentlich dafür verantwortlich, dass aus diesen sehr ehrbaren Nennungen auf Dauer Funktionalität, Egoismus oder Rassismus werden?

Werte als Orientierungsrahmen

Natur als Wert (Foto Arnold Illhardt)

Obschon oftmals ungeklärt bleibt, um welche Werte oder Normen es grade geht, stellen sie einen Orientierungsrahmen dar, mit dem man versucht, die Komplexität des Lebens halbwegs unbeschadet zu durchschlingern. Und da der Mensch, wie der Philosoph und Psychoanalytiker Erich Fromm es sogar in buchfassender Breite formulierte, Furcht vor der Freiheit hat, würde der Verlust von Werten zu Unsicherheit, aber auch – wie doof – zu Selbstverantwortung führen. Wenn also jemand sagt, dass unsere Werte grade den Bach runtergehen, dann zuckt man zusammen, aber selten sieht man jemanden den Finger höflich heben und fragen: „Ääääh, ich hätte da mal eine Frage: Um welche Werte geht´s denn da eigentlich?“

Ähnlich sieht es auch die Psychologie der persönlichen Konstrukte, wie sie von dem US-amerikanischen Psychologen George A. Kelly formuliert wurde. So lassen sich „individualtypische Aspekte des Selbstkonzepts (Selbstbild) und der sozialen Wahrnehmung einzelner Menschen“ (TPK) ausmachen. Solche Aspekte werden in einem sogenannten Konstrukt zusammengefasst, das mehr oder eben weniger offen für Überarbeitungen sein kann. Man kann sich ein solches Konstrukt wie eine persönliche Landkarte vorstellen, die jeder Person ein Sich-zurecht-finden ermöglicht. Und genauso, wie es innere Landkarten gibt, wie wir uns als Mann oder Frau wahrnehmen oder wie wir politische Überzeugungen in unser Denken einbauen, gibt es auch Konstrukte, die unsere Werte widerspiegeln. Wie oben beschrieben, setzen sich solche Werte-Konstrukte aus zahlreichen Bausteinen zusammen. Es lässt sich in der Psychotherapie häufig beobachten, dass solche Denkmuster selten bis nie hinterfragt werden und somit trotz mehrfacher Widerlegung als falsch oder inzwischen überholt unser Denken und Handeln beeinflussen. Beispiel: In meiner streng katholisch orientierten Erziehung bekam ich die Werte übertragen, den Menschen zu achten, in Frieden zu leben und somit auch keine Gewalt anzuwenden. Als ich den Kriegsdienst verweigern wollte, musste ich mir auch von meinen Eltern anhören, dass es meine Aufgabe und Pflicht als Bürger dieses Staates sei, im Falle eines Falles auf Feinde zu schießen. Plötzlich standen sich zwei Werte gegenüber: Gewaltfreiheit und Vaterlandsliebe. Ich entschied mich für ersteren. Was nutzt mir Vaterlandsliebe, wenn mich offenbar das Vaterland nicht liebhat und mich als Kanonenfutter schreddert, um die überirdisch dämliche Kriegslust von machtgeilen Autokraten zu bedienen? Werte, ihr könnt mich mal – kreuzweise!

An diesem Einzelbeispiel lässt sich erkennen, dass es sich bei Werten um

a) individuelle Wertschätzungen handelt, die von jedem anders wahrgenommen werden, die wiederum

b) in einen gesellschaftlichen Gesamtwertekontext einfließen, der letztendlich durch zahlreiche Faktoren wie Kultur, aktuellen Zeitgeist, Bräuchen, Medien und sogar Mode beeinflusst werden.

Und c): dieser gesellschaftliche Wertekanon prägt wiederum die individuelle Wertvorstellung, wodurch eine Art Kreislauf gegeben ist.

Fazit: Werte sind keine in Stein gegossenen Gesetze, sondern fließende Systeme. Und genau das ist vermutlich der Grund, warum so viele Menschen Probleme haben, Veränderungen nachzukommen. Ein „früher war das auch so“ ist inzwischen komplett inkompatibel mit „wir leben im Hier und Heute; da ist es anders“. Das erzeugt Angst, Unsicherheit und Abwehr. Dass wir zurzeit so viele Menschen erleben, die mit absolut verschlossenen und somit „unrenovierbaren“ Konstrukten durch die Gegend laufen, an Verschwörungsfantasien glauben und autoritativen Politikern auf dem Leim gehen, ist vermutlich dieser Werteverwirrung geschuldet. Bei wenig gefestigten Personen ziehen Konfusionen oftmals ein mentales Verriegeln nach sich: Man verbarrikadiert sich in einem althergebrachten Konstrukt (war schon immer so, und kann daher nicht schlecht sein) und versucht Neues oder Anderes mit zum Teil abstrusen Erklärungen abzuwiegeln.

Das As im Ärmel: Christliche Werte

christliche Werte (Foto Arnold Illhardt)

Werte erinnern mich oft an ein Kartenspiel. Plötzlich donnert jemand ein As auf den Tisch und der Rest der Spielercommunity verfällt ob der eigenen Luschen in der Hand in Schockstarre. As ist Trumpf! Wenn nichts mehr geht, besinnen sich viele Politiker darauf, die Christliche-Werte-Karte aus dem Ärmel zu ziehen. Ist dann noch von christlicher Wertegemeinschaft die Rede, ist auch noch Herz-Bube ausgespielt. Dabei wird es vor allem dann interessant, wenn die Politiker selbst mit dem Christentum außer steuerlich eingetragener Religionszugehörigkeit nix am Hut haben. Tatsächlich – trotz katholischer Vergangenheit – musste ich googlen, was christliche Werte nun genau bedeuten und entdeckte:

Ehrfurcht vor dem Leben

Respekt und Toleranz gegenüber anderen

Fähigkeit zum guten Handeln (MNK)

Im Einzelnen verbergen sich dahinter Nächstenliebe, Feindesliebe, die 10 Gebote und die 7 Gebote der Barmherzigkeit. Wer sich auskennt, denkt natürlich: Alle Achtung, da ist ja alles aufgeboten, was Rang und Wert hat. Nun sind ja die 10 Gebote nicht das schlechteste, weil stehlen, morden und lügen komplett wertfreie Vorgänge sind. Allerdings sollte meiner Meinung nach nur dann von christlichen Werten die Rede sein, wenn sie als Maß ALLER Dinge für ALLE Mitglieder des religiösen Systems eine Rolle spielen. All die Missbrauchfälle der nahen und fernen Vergangenheit, Machtspiele, Ausgrenzung von Frauen, das Spiel mit der Angst oder Finanzskandale nicht nur im Vatikan sind weder christliche, noch sonstige Werte, sondern Regelübertretungen, kriminelle Handlungen oder gar Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Vermutlich wurde dafür die Beichte erfunden! Der überwiegende Teil der christlichen Werte würde bei strikten Anwendungen auf Personen in verantwortungsvollen Posten zur sofortigen Suspendierung selbiger führen.

Wie mit diesen Begriffen gespielt und gepokert wird, sieht man beim C im Namen der CDU. Da ist das Christliche zum Teil nicht einmal mehr in homöopathischen Dosen nachweisbar. Auf Facebook wurde eine Zeitlang ein Comic geteilt, auf dem Jesus Christus zu sehen ist, wie er das C vom Schriftzug CSU an einer Hauswand entfernt und sich damit aus dem Staub macht. Auf die Frage, was das soll, antwortet die Jesusfigur einsilbig: Urheberrechtsverletzung! Beim Nachdenken über den Hintergrund der lustigen Bildergeschichte vergeht einem das Lachen. Immer wieder werden MinisterInnen zum Rücktritt aufgefordert, weil sie sich mit Plagiaten ihre Dissertation erschlichen haben. Mit Recht – auch das ist Urheberrechtsverletzung! Doch nie habe ich in realita mitbekommen, dass die Parteien mit dem großen C im Namen gerichtlich angemahnt wurden, weil sie sich mit fremden Federn schmückten. Doch bleibt die Frage zurück, ob mit christlichen Werten, die die beiden C-Parteien für sich verbuchen, tatsächlich obige Aspekte gemeint sind, die gerne unter der Kurzformel „Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit“ (CDU 2017) subsummiert werden. Forscht man tiefer in den Kellergewölben der Analogchristen, dann entdeckt man mehr oder weniger überraschend, dass mit christlichen Werten der Konservatismus der Partei umschrieben wird. Würden die christlichen Werte mit Namen benannt, also z.B. Gewaltlosigkeit, Nächsten- oder Menschenliebe heißen, wäre allein beim grassierenden Militarismus der Partei, die ohne Skrupel Lieferungen von mörderischen Waffensystemen in autoritative Länder und damit das Leid von Zigtausend Menschen zulässt, bereits jegliche vermeintliche Christlichkeit mit Füßen getreten. Vermutlich lässt man deswegen von Priestern Panzer segnen, dann hat das Morden wenigstens etwas Geweihtes. Nachdem man bei der CDU beschloss, bunter und auch weiblicher zu werden, entschieden sich viele Strammkonservative zur Abkehr von der CDU und Hinkehr zur AfD. Auch dort ist gerne die Rede von christlichen Werten. Doch hinter den Kulissen des demokratischen und konservativen Überbaus verbergen sich bei beiden Parteien bis hin in die SPD ein aggressives Wirtschaftsmodell, Militarismus, Umweltzerstörung, Tierleid, Elitedenken, Autoritarismus usw. Nun mag man sich streiten, was davon christlich – bitte nicht verwechseln mit katholisch – ist!

Von Werteverfall und -umpolung

Besitzen als Wert (Foto Arnold Illhardt)

Ich weiß nicht, wie es dem Leser geht, aber bei dem Ausdruck Werte fallen mir gleich jede Menge – wie ich finde – löbliche Aspekte ein. Doch würde man mich auf der Straße interviewen, müsste ich überlegen und würde vielleicht die ein oder andere nette Sache hervorstammeln. Als ich irgendwann auf das Manifest der Konvivialisten stieß, in dem französische Intellektuelle ein anderes, menschlicheres Zusammenleben propagierten, fand ich mich in den dort zusammengetragenen Werten deutlich wieder: Gewaltlosigkeit, Kooperation, maßvoller Umgang mit den Ressourcen, Abkehr vom Wachstumsdenken, ein schonender Umgang mit der Natur, Freiheit, einfacher Wohlstand, Gleichberechtigung, Selbstbegrenzung, Wertschätzung der verschiedenen „Gaben“, Anerkennung einer gemeinsamen Menschheit, Einkommensbeschränkungen, eine Kultur des Gebens, Netzwerkdenken usw. Ich bin mir ziemlich sicher, dass der überwiegende Teil z.B. deutscher Politiker diese Werte beim Klagen über den Werteverfall NICHT meint!

In seinem Buch „Der Jahrtausendmensch“ spricht der Autor und Zukunftsforscher Robert Jungk von der Umpolung der gesellschaftlichen Werte. Das war 1973! Diese Umpolung als langfristigen Trend beschreibt er wie folgt:

Von der Abschließung zur Offenheit

Von der Eroberung zur Erweiterung

Vom Erzeugen zum Erleben

Vom Leistungszwang zur freien Entfaltung

Von hart zu weich

Von starr zu beweglich

Von zweckbestimmt zu spielerisch

Von todbringend zu lebensfördernd.

Darüber hinaus sieht er Werte im Anstieg, wie da wären: Gemeinschaftsgefühl, menschheitsorientierte Haltungen, Persönlichkeitswerte und – rechte, Bemühen um Gruppenzugehörigkeit, Wohlfahrt der Gesamtgesellschaft, gerechte Ordnung und Dienst für die Öffentlichkeit, ästhetische Werte (z.B. Schönheit der Umwelt etc.). Viele dieser Werte waren Inhalte von zahlreichen Demonstrationen, an denen ich teilgenommen habe und von denen ich überzeugt war, damit eine Kehrtwende in Richtung Menschlichkeit erreichen zu können. Man wünschte sich, die Zukunftsvisionen Jungk´s und meine Anlässe zum Demonstrieren hätten sich inzwischen erübrigt, doch ist aktuell eine ganze Bande von Reaktionären damit beschäftigt, das Rad zurückzudrehen bzw. Sand ins Getriebe zu werfen. Der aktuell zu beobachtende Rechtsruck in Europa, aber auch die zielorientierte Denkweise zahlreicher Konservativer ist nicht ein Zeichen von Werteerhalt, sondern ganz im Gegenteil: Unter dem Vorwand des Erhaltens und Schützens unter dem Deckmäntelchen einer vermeintlichen Demokratie wird ein zweckbestimmtes Wertsystem geschaffen, das vor allem der Reglementierung, Ausnutzung, Profilierung weniger, Kapitalisierung der gesamten Lebensbereiche und Fügigmachung unter ein autoritatives System dient. Wenn ein Politiker von Werteverfall schwafelt, ist nicht selten damit gemeint, dass ihm oder ihr Zucht und Ordnung fehlt, dass zu viel Freiheit „herrscht“ und das jeder macht, was er will.

Aus all diesen Überlegungen, vor allem aber aus geschichtlichen, philosophischen oder soziologischen Erkenntnissen heraus, wurde z.B. die „Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten“ (Universal Declaration of Human Responsibilities“ verfasst.

In neunzehn Artikeln wird menschenfreundliches Handeln genauer behandelt. So gehört es zu den grundlegenden Richtlinien, sich friedlich zu verhalten, andere Menschen freundlich und verständnisvoll zu behandeln und hilfsbereit zu sein … Kein Mensch, kein Staat, keine Organisation, keine soziale Gruppe und kein staatlicher Apparat stehen über den Dingen oder jenseits von Gut und Böse. Jeder Einzelne ist seinem Gewissen unterworfen, trägt die Folgen seines Handelns und soll sich im Geist der Brüderlichkeit verhalten. Dies verbietet das Kriegführen, die Gewalt und den Terrorismus, schließt allerdings die Selbstverteidigung im Falle eines Angriffs nicht aus (EDM).“

Es wäre immerhin schon mal ein Anfang, wenn daraus nicht nur eine allgemeine Erklärung, sondern auch eine allgemeine und vor allem rechtmäßige Richtlinie würde.

Der Wert einer Wertedebatte

Wertvoll (Foto Arnold Illhardt)

Anlass für diesen Text gab mir meine übergroße Unzufriedenheit über das Taktieren von einflussreichen Personen wie z.B. Politikern mit dem Begriff des Wertes. Es wäre an der Zeit, jeden Werteschwafler an der Nase zu fassen und so lange zu schütteln, bis er seine Wertevorstellung von A bis Z transparent darstellt. Allerdings müsste diesem An-Der-Nase-Ziehen einzelner Personen ein Prozess vorangehen. Ähnlich wie in dem Manifest der Konvivialisten dargestellt, wäre es an der Zeit, ein offenes, allgemein verständliches, klar formuliertes und allgemeingültiges Wertesystem der Menschheit zuzuführen. Und da es in Deutschland mit Großbaustellen immer schwierig ist, könnte ja ein kleines Land mal anfangen, einen Wertekanon als verbindliches Allgemeingut experimentell zu leben. Neulich wies mich jemand darauf hin, dass es ja ein Grundgesetz gäbe, das ja auch die Werte klar formulieren würde. Ich musste mir das Schmunzeln verkneifen, was vor allem an dem Wörtchen „klar“ lag. Zudem erinnere ich mal an den ersten Artikel des Grundgesetztes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Ein super Gesetzesartikel! Allein aufgrund dieses Artikels hieße die Schlussfolgerung, die AfD und die komplette Wertverdreherschaft abzuschaffen. Fast jeder exkrementarische Auswurf eines der rechtsnationalen Parlamentarier ist menschenentwürdigend! Es merkt nur keiner. Oder will es nicht merken! Letzteres liegt vermutlich daran, dass es mit der Werteeinhaltung der meisten anderen Bundestagsabgeordneten ebenfalls nicht weit her ist. Lobbyismus, Steuerhinterziehung, Profilierungssucht, Alleingänge oder rassistische Äußerungen sind nicht sonderlich werteaffin.

Gäbe es einen solchen allgemein anerkannten Wertekanon, so wäre es weiterhin wichtig, diesen möglichst früh z.B. über Fächer wie Philosophie oder Ethikunterricht den jungen Menschen zu vermitteln und mit ihnen zu diskutieren. Das so etwas möglich ist, habe ich in meiner psychotherapeutischen Tätigkeit x-mal ausprobiert.

Jeder Partei und jeder Politiker müssten sich daran messen lassen, ob er gewillt ist, sich an diese Werte zu halten. Wenn nicht, dann tschüss, wenn ja, ist gut. Ich weiß, meine Welt ist bunt, offen und einfach strukturiert, doch genau das ist ein guter Anfang, um künftig zu wissen, um welche Werte es geht. Reduce to the max – auch wertemäßig.

Quellen

ACF:   André Comte-Sponville: Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben. Rororo, 1998

DF:     https://www.deutschlandfunk.de/werte-union-der-cdu-wir-muessen-uns-auf-unsere-werte-und.694.de.html?dram:article_id=451449

DW:    https://www.dw.com/de/klaus-staeck-wir-m%C3%BCssen-uns-an-werte-erinnern/a-18519852

EDM: https://dewiki.de/Lexikon/Allgemeine_Erklärung_der_Menschenpflichten

EDW: https://www.wertesysteme.de/werte-glossar/werte-und-normen

MS:     Manfred Sader: Psychologie der Gruppe. Juventa 91

PA:     https://www.proasyl.de/news/fuenf-jahre-friedensnobelpreis-die-eu-muss-sich-an-ihre-eigenen-werte-erinnern/

RJ:      Robert Jungk: Der Jahrtausendmensch. Rororo. 73

TPK:   https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/theorie-der-persoenlichen-konstrukte

TS:      https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/afd-parteitag-migration-corona-101.html

WP:    https://de.wikipedia.org/wiki/Tugend