Krieg um Palästina
Das Unmögliche tun

Bild von hosny salah auf Pixabay https://pixabay.com/de/photos/gaza-streifen-palästina-3829414/
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Hinter der an- und abschwellenden Aufmerksamkeit für die Kriege um Palästina/Israel wird das entscheidende Kernproblem in den Medien wenig behandelt, das die Lösung des gordischen Knotens so unlösbar erscheinen lässt. Ich habe zu dieser Frage vor elf Jahren einen Text verfasst, der immer noch zutreffend ist, weil er sich mit Grund und Ursache des Konfliktes befasst, in den wir selbst historisch verwickelt sind, und von dem die Lösung abhängt. Im Folgenden also diese Betrachtung vom August 2010:

Das Unmögliche tun!

Bild von DEZALB auf Pixabay  https://pixabay.com/de/photos/israel-palästina-wand-klagelieder-3387065/
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Der politische Streit ist überflüssig, ob der Zionismus, die Schaffung einer staatlichen Heimstatt für alle Juden in Palästina, politisch gut zu heißen sei oder nicht. Es kann doch nicht überraschen, dass in der Epoche des ‚nationalen Erwachens‘ im 19. Jahrhundert der jüdische Teil der europäischen Bevölkerung nach 1000 Jahren Qual, Demütigung und Mord eine Lösung für sich zu suchen begann. Eine Diskussion über Unvermeidbares in Kategorien von ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ zu führen, macht daher wenig Sinn. Im übrigen wäre es zynisch, wenn ‚wir‘, die nichtjüdische Mehrheitsbevölkerung, die den Juden 1000 Jahre lang kein Zuhause in Europa gegeben hat, anschließend verurteilten und verweigerten, dass diese sich aus Gründen von Selbstschutz und Würde selbst eines schaffen. (Allerdings wäre es nützlich für die Lösung des Nahost-Konfliktes, wenn in der palästinensisch-arabischen Welt eine öffentliche Diskussion über diese Zusammenhänge stattfände.)

Nicht nur für die Betroffenen stellt sich jedoch die Frage, ob die von Europa ausgespuckten Juden das Recht für sich in Anspruch nehmen durften, Palästina zu besiedeln. Wenn der Standpunkt „Wir haben früher schon hier gelebt“ oder „Das Land ist uns von Gott versprochen“ Geltung hätte, dürften heutige Deutsche Anspruch auf Teile ihrer Nachbarländer erheben und Serben den Kosovo-Albanern erklären, sie müssten gehen. Niemand kann nach 2000, 500 oder 100 Jahren kommen und sagen: Unsere Vorfahren waren mal hier, jetzt sind ‚wir‘ wieder da, und Ihr verschwindet besser. Auch nicht, wenn man glaubt, man sei das auserwählte Volk Gottes, und deshalb gälten für einen Sonderregeln. (Sorry, liebe Ultra-Orthodoxe: Wer den Krieg nicht will, kann auf Erden nur gleiches Recht für alle gelten lassen.)

Bild von hosny salah auf Pixabay https://pixabay.com/de/photos/gaza-streifen-palästina-3829393/
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Es gibt also ein Dilemma. Dass Juden irgendwann begannen, eine staatliche Lösung für sich selbst zu suchen, war angesichts der fortgesetzten Verbrechen an ihnen kaum zu vermeiden und nicht zu verurteilen. Dass sie aber Gebiete besiedelten, wo bereits Andere lebten, die damit – zumindest ab einer bestimmten Entwicklung der Einwanderung – nicht einverstanden waren, kann man aus prinzipiellen Gründen nicht für rechtens halten. (Dabei ist mir durchaus bewusst, dass die moralische Attitüde des Nichtbetroffenen recht bequem ist.) Die historische Chance wäre gewesen – und historische Tragik ist deren Versäumnis – Einvernehmen mit den Palästinensern über die Schaffung eines Staates zu erzielen, der die Rechte und Interessen ‚beider Seiten‘ hätte befriedigen können. Vermutlich müssen sich in dieser Hinsicht vor allem die linken europäischen Juden Vorwürfe machen, die ein neues Israel als Modell für eine Gesellschaft der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit postulierten. Heute jedenfalls existiert Israel als „jüdischer Staat“, der einerseits immer mit der Bedrohung, ausgelöscht zu werden, lebte und andererseits sein Staatsgebiet ausdehnte und bis heute fremde Gebiete besetzt hält. (Könnten wir uns übrigens mit einer Definition Deutschlands als ‚christlicher Staat‘ abfinden?)

Bild von Nick115 auf Pixabay https://pixabay.com/de/photos/israel-jerusalem-jüdische-palästina-4426387/
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Was nun? Das Existenzrecht Israels bestreiten? Wie man auch immer zur Einwanderung im 19. und 20. Jahrhundert steht – heute leben Juden immer noch und wieder seit Generationen in Palästina/Israel, ebenso wie ihre Nachbarn. Wollte ihnen jemand sagen: „Ihr seid erst vor 150, 100, 50 Jahren – und ‚zu Unrecht‘ – gekommen, also müsst Ihr gehen“? Unmöglich! Nicht zuletzt, weil dies in vielen Teilen der Welt Nachahmer fände und weitere Kriege unvermeidlich machte.

Sollen die Rechnung also am Ende die Palästinenser bezahlen? Ebenso unmöglich! Ebenso erwartbar und unvermeidlich wie die Idee des Zionismus sind angesichts der Geschehnisse der letzten 100 Jahre die Trauer und die Enttäuschung, die Wut und der Hass auf Israel unter vielen Palästinensern und Arabern, für die sich die jüdische Besiedlung als Fortsetzung des Kolonialismus darstellt. Das heißt natürlich nicht, dass diejenigen, die in der Tat Opfer historischer Ereignisse wurden, Unschuldslämmer sind, die unsere unbedingte Unterstützung und Solidarität erwarten dürfen. Dabei geht es gar nicht nur um Unterdrückung, Unrecht, Korruption und Abwesenheit demokratischer Rechte in Ländern und Gebieten, die unter palästinensischer oder arabischer Verwaltung stehen. Es geht um eine Haltung von arabischen Gegnern Israels, die Erinnerungen an die Absichten der Nazis wecken. Attentäter greifen unter Berufung auf von Israel begangenem Unrecht nicht etwa militärische Einrichtungen des Staates Israel an, sondern töten Juden irgendwo auf der Welt. Fernsehsender in Israels Nachbarländern strahlen Hetzpropaganda aus, die der der Nazis ähnelt, und nicht wenige arabische Menschen und Organisationen predigen die Ausmerzung Israels (was wiederum israelischer Politik als Rechtfertigung dient und sie gelegentlich bis zu einem gewissen Grade verständlich macht.)

Es gibt keine klare Unterscheidung – weder historisch noch aktuell – zwischen den Guten und Bösen, zwischen den Nur-Opfern und Nur-Tätern, und eine Lösung wird nur sein, wenn sich beide Seiten in die Lage der Anderen versetzen und den schmerzhaften Kompromiss suchen. Weil beide eine solche Lösung nicht wollen, wird wohl Alles dort zum Teufel gehen. Könnten jüdische Israelis den Palästinensern erklären: „Europa hat uns ausgespuckt, es war nach 1000 Jahren nicht länger möglich, dort in Frieden und Würde zu leben. In unserer Not sind wir in Euer Land gekommen und haben es uns genommen. Wir bitten Euch, dass Ihr versteht und uns vergebt! Unseren Staat können und wollen wir nicht aufgeben, wohl jedoch die militärische Besetzung und unsere Siedlungen in allen Gebieten, die die UNO Euch für Euren eigenen Staat zugesprochen hat. Aber wir tun dies mit großer Angst! Bitte reicht uns Eure Hand, verzeiht uns, und zeigt uns, dass wir mit Euch – anders als mit den Europäern – ab jetzt in Frieden, Würde und Gleichheit leben können“? Wäre es denkbar, dass sie dies sagen? Unmöglich! Könnte der Schulunterricht in zwei neuen Nachbarländern auf der Basis derselben Geschichtsbücher stattfinden? Unmöglich! Und werden die Israelis eines Tages so frei sein, ihr Projekt des „jüdischen Staates“ aufgeben zu können? Unmöglich?

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Nachwort

Es gibt lediglich einen Punkt, der angesichts der Lage heute nicht mehr aktuell erscheinen mag, nämlich die Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung in Palästina/Israel.

Bild von 2427999 auf Pixabay https://pixabay.com/de/photos/palästina-israel-bethlehem-wand-3152810/na-israel-bethlehem-wand-3152810/
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Die völkerrechtswidrige israelische Annexion Ost-Jerusalems, die Zerstückelung des Westjordanlandes unter 54-jähriger israelischer Besatzung, die 650.000 israelischen Siedler in den besetzten Gebieten, die Ankündigung der israelischen Regierung, auch weite Teile des Westjordanlandes annektieren zu wollen, lässt nur noch einen Schluss zu: Die geplante Einstaatenlösung unter israelischen Bedingungen. Wenn dies jedoch geschieht, drängen sich folgende Konsequenzen auf: 1. Bürgerkrieg zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Bewohnern des vergrößerten Staatsgebietes, zwischen Menschen 1. und 2. Klasse mit extrem unterschiedlichen Rechten und sozialen Lebensbedingungen oder 2. erneute Vertreibung der Palästinenser, damit Israel laut Verfassung ein „Jüdischer Staat“ bleibt oder 3. Gewährung voller Staatsbürgerrechte für alle, auch für die heutigen muslimisch-arabischen Bewohner der besetzten Gebiete, was auf die Aufgabe des Konzeptes vom „Jüdischen Staat“ hinausliefe. So wie die Lage heute ist, wird man die ersten beiden Optionen für wahrscheinlicher halten müssen – aber die dritte, ist sie ganz und gar unmöglich?

Kommentare sind willkommen an  juergen.buxbaum@querzeit.org