Krisen im Kopf
Seuchen und ihre ausgeblendeten Blickwinkel

Was man tut, beginnt mit Planung, meist im Kopf. So auch das, was gegen Seuchen getan wird. Gerade Epidemien sind ein Grund zu bedenken, was sich in Zeiten der Seuche im Kopf festgesetzt hat. Ein Blick in Gegenwart  und Geschichte.

Immer wenn eine Epidemie durchs Land zieht, sei es SARS, Vogelgrippe, Ebola oder jetzt Corona, ärgert es mich, dass wir (inklusive Politiker) nichts gelernt haben, nichts gelernt aus dem, was Seuchen bei uns Menschen ausgelöst haben. Kaum ist die Seuche da, schon verfallen wir in die alten Muster. Uns ist, als hätte es noch nie eine Seuche gegeben. Deswegen kann auch Vergangenes wichtig sein.

Bert Brecht schrieb in dem Gedicht „der Zweifler“ an die, die zu wissen vorgeben:

„Ist es auch angeknüpft an Vorhandenes? Sind die Sätze, die

Vor euch gesagt sind, benutzt, wenigstens widerlegt? Ist alles belegbar?

Durch Erfahrung? Durch welche? …“

Was haben wir aus Seuchen gelernt oder, wie es im Titel heißt: was haben wir im Kopf, damit die Seuche nicht zur Katastrophe wird?

In unserer BZ erschien als witziger Beitrag zur  Corona-Krise im März dieses Jahres eine Glosse des Dirigenten vom Freiburger Jazzchor und seinen weltweiten Auftritten. Bertrand Gröger berichtete über den Ausverkauf von  Mundschutzmasken in  China, von Klopapier in Deutschland, in den USA kauft man gegen 10% mehr Pistolen als früher, in Frankreich hamstert man Rotwein und Kondome. Während wir Deutschen betrübt auf dem Klo sitzen, hätten wir gern Rotwein und Kondome wie bei den Franzosen.

Aktuelle Therapiemaßnahmen sollen nicht  kritisiert werden. In ARTE hörte ich, dass in Frankreich und Italien (sehr hohe Infektionsraten von Corona) die Verkaufszahlen von Albert Camus‘ DIE PEST rapide zunehmen. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Pest und Corona. Aber wie kommt die Bedrohung bei uns an und was macht das mit uns?

Es geht nicht um eine Therapie-Strategie gegen Seuchen, sondern um das, was in unserem Kopf los ist. Ideen über Seuchen machen einige zu Wilden, erschießen Plünderer, tragen Masken, zeigen Menschen an, die sich nicht an die Regeln halten usw. Einige fürchten, dass die Errungenschaften des Fortschritts ausgehen wie Klopapier & Co. Wieder andere tun das, was besonders wichtig ist (wenn auch nicht Heilung auslöst): Genießen und Kontakt pflegen. Mensch bleiben, auch in der Krise. Denken wir an die Buchbesprechung über Boccacio und sein Buch gegen die Leere in Pestzeiten.

Neil Armstrong, der 1969 auf dem Mond landete, sagte den Medien: „Ein Riesenschritt für die Menschheit …“, o.k., aber wohin geht die Menschheit mit Riesenschritten? Im Falle von Seuchen, mit Riesenschritten hin zu Atemschutzmasken, Pistolen, Klopapier … oder doch hin zu dem, was die Menschen glücklicher macht? Können wir das wagen?

Hier eine unvollständige Graphik:

Meine Graphik zeigt eine begrenzte Auswahl der Epi- und Pandemien im Laufe der Geschichte. Ich stütze mich auf den Medizinhistoriker K.H. Leven und auf Google für das 21. Jahrhundert. Auswahlkriterien sind: Infektionen in Europa mit Ausnahme der Kriegsepidemien  Ruhr und Fleckfieber. Ebola wird nicht genannt, weil es „nur“ in westafrikanischen Ländern epidemisch war. Ebenso MERS, das in arabischen Ländern sehr häufig vorkam. (Übrigens, MERS wurde von einem Virus vom Corona-Typ ausgelöst.)

Was haben wir im Kopf? Hier ein paar Momente

  1. „Rieselnde Angst“

Dieser Ausdruck stammt vom Wirtschaftssoziologen H. Bude. Gemeint ist die rieselnde Angst vor den eigenen Fehlern, die ein jeder macht: Eltern, die ihre Kinder nicht wirklich schützen können. Menschen, die Missbrauch und Gewalt gegen die schwächeren Mitglieder der Familie einsetzen. Zu Risikogruppen zu gehören und nicht genügend Schutz zu bekommen. (Meist jüngere) Menschen, die ihr gerade gegründetes Geschäft kaputt gehen sehen. Wer Corona bekämpfen will, muss mit der Angst leben. Wie geht das? Was macht die Angst mit mir? Und was machen wir mit der Angst?

Bei der Pest gab es, wie es scheint, wenigstens Trost durch Religion, bekannt sind heute jedoch auch ihre Entgleisungen: Verfolgung der Juden, Verunglimpfung der Moral-Verächter usw. Das Muster ist in Afrikanischen Ländern vergleichbar geblieben und sogar noch bei AIDS in Deutschland: als Strafe für moralisches Fehlverhalten. Und eh man sich versieht, ist Religion genau das Gegenteil von dem, was sie sein sollte.

Bei SARS blieb die Angst über, die jeden Kontakt überschwemmte. Es gab wenig Erklärung, aber viel Angst, die alle und v.a. die globalisierte Welt bedrohte.

Bezeichnend ist die mittel- und althochdeutsche Herkunft des Wortes „Trost“, das „innere Festigkeit“ bedeutet. Trost beruht nicht auf Verleugnung der Gefahr, sondern auf Transparenz und Umgehen-Können mit ihr. Dieses Umgehen mit Gefahr bedeutet aber auch: sie nicht zum alles beherrschenden Thema zu machen. Es gibt noch viele andere Themen, die wichtig sind, aber nichts mit der Seuche zu tun haben. Wir können auch Projekte planen, Dinge tun, die bisher nicht so interessant schienen usw. Und schon rieselt die Angst nicht durch alle  Poren unserer Existenz.

  1. Seuche gibt Gemeinsamkeit zum Abschuss frei

Wörtlich bedeutet Solidarität soviel wie füreinander einstehen (franz. Herkunft) und bekam große Bedeutung (nicht nur) in der Arbeiterbewegung. Seltsam, wie Seuchen diese Art des Füreinander Einstehens zerstört. In Venedig erfand man schon 1374 die Quarantäne (quaranta giorni, 40 Tage), um Schiffe mit Pestverdacht draußen vor dem Hafen festzusetzen und ihre Besatzung nicht in die Stadt zu lassen. Am Oberrhein – Freiburg z.B. wurde im 16. Jh. 12mal heimgesucht – wurde zwischen Basel, Straßburg und Freiburg eine Vereinbarung geschlossen, die Handelswege in jener schlimmen Zeit bei Pestverdacht zu schließen. Der Vertrag wurde aber nicht eingehalten, die Wirtschaftsinteressen waren stärker.

Springen wir zum nächsten Höhepunkt der Seuchengeschichte und dem Garaus der Gemeinsamkeit, zur Choleraepidemie 1892 in Hamburg mit den 16.956 Infizierten (= 2,6% der Gesamtbevölkerung) und seinen 8.605 Toten. Damals wie heute war klar, dass „eine Epidemie dieses Ausmaßes vermeidbar gewesen wäre“ (Leven). Die marode Kanalisation und das verdreckte Wasser konnte durch eine von einem englischen Ingenieur erfundene Sandfilteranlage des Elbwassers gereinigt werden. In Altona, das zu Preußen gehörte, wurden keine Infektionen verzeichnet. Aber das Sandfilter war für die Verantwortlichen in Hamburg zu teuer.

Kommen wir zur Gegenwart. In der Coronakrise spüren wir das Ende der Gemeinsamkeit. Die Ministerpräsidenten der Bundesländer zeigten uns, wie Solidarität geht. Lockerungen der Einschränkungen für Kitas, Schulen, Läden, für alle gerechte Lösungen, die in allen (!) Bundesländern gelten, wären überzeugend. Leben stehe an erster Stelle, sagen viele  Politiker, Schäuble zweifelt auch das schon an. Ist das Solidarität?

  1. Zwei Seiten der Information

Es gab Zeiten, in denen Information kaum eine Rolle spielte. Wichtig war eher das „on dit“ von Leuten, die herumkamen. Die meisten Betroffenen kamen aus armen Schichten.

Information ist ein Moment der neusten Zeit. In einem Vortrag von einem Chefredakteur hörte ich den Satz, der vielen seiner Autoren aus der Seele sprach: Ich lasse mir durch Fakten doch nicht meine Story kaputt machen. Autoren zitieren Experten, deren Antworten so verkürzt werden, dass sie zu den Fragen der Autoren passen. Und schon werden Stories weitergegeben, die als Information rüberkommen.

Bei Corona lässt sich die Weitergabe von Information gut verfolgen, die mehr und mehr zur  Überfütterung wird. Über Corona berichteten Tagesschau, Extras im Anschluss, Heute Journal, Anne Will, Maybrit Illner, Hart aber fair u.a. über die Pandemie. Wer versteht die Information? Wenige, nur dass sie von Experten stammt. Bei SARS, der Schweine- und Vogelgrippe sowie Ebola war das ganz ähnlich.

Information ist das Zauberwort der Gegenwart. Übertreibung führt zur Desinformation.

  1. Allmacht der Biologie

Wir sind es gewohnt, menschliche Phänomene und Sachverhalte wie die bakteriellen und viralen Epidemien allein durch biologische Tatsachen, Theorien und Modelle zu erklären. Wenn ein Virus in die genetischen Strukturen des Körpers eingreift, geht es um privates und soziales Leben. Aber wo z.B. bleiben Soziologie, Psychologie u.a.? Wir nennen den Umgang mit Theorien der Seuchen „Biologismus“ oder „biologische Reduktion“.

Wusstet ihr z.B., dass Stress Spuren in unserem Gen-Code hinterlassen kann? Oder etwas präziser: Stress, Umweltprobleme, Dichte des Zusammenlebens, Mangel an Ernährung und Flüssigkeitszufuhr, reduzierter Schlaf usw., was man in der alten Medizin für therapeutisch entscheidend hielt und in der modernen Medizin als Epigenetik bezeichnet.  Halten wir fest: Etwas mit rein biologischen Maßstäben zu erklären, geht an unserem Erklärungsbedarf vorbei.

Gegenwärtig spricht man vom  „Deutungsmonopol der naturwissenschaftlichen Medizin“ (Leven). Was gilt als zuverlässig und was als Scharlatanerie? Und wer entscheidet das?

  1. Behandlung in Zeiten der Not

Gerade in Zeiten der Seuche muss man Entscheidungen treffen, die den einen Vorteile bringen, anderen dagegen schlimme Schäden zufügen, manchmal sogar den Tod. Fliehen oder helfen, fragten sich viele Ärzte in Pestzeiten. Mundschutzmasken – gehen wir ans andere Ende der Seuchen – sind in Zeiten von Corona knapp. Wem gibt man sie und wem nicht?

Triage, ein französischer Ausdruck (deutsch: Auswahl), wurde von den Generälen Napoleons erfunden, um einer Vielzahl von Verwundeten gerecht zu werden. Dieser Ausdruck und Teile des Konzepts wurden in die Medizin übertragen. Drei Situationsformen sind in der Medizin denkbar:

  • Massenanfall von Behandlungsbedürftigen
  • Knappheit von Medikamenten und Medizinprodukten
  • Knappheit von Behandlungspersonal

Triage ist immer ein Notbehelf. In welchen Schritten funktioniert sie?

Die Schwachstellen der Triage sind zahlreich, besonders in Seuchenfällen. Denken wir an folgende Situationen:

  • Eine gute Lagesichtung ist das A und O der Katastrophenhilfe. Frage ist z.B. wer die Sichtung übernimmt, welche Ziele dieser Stab verfolgt, welche Kompetenzen er hat usw.
  • Wie weit geht die Reduzierung der Behandlung? Gibt es ausreichende Schmerzbekämpfung?
  • Wer wird behandelt? Mit welchen Mitteln? Wer wird dem Sterben überlassen? Gibt es Sterbebegleiter? Sind die Entscheidungen fair und transparent?
  • Welche Art der Therapie wird an welches Behandlungsteam abgetreten? Ist das andere Team eine Ersatzlösung, gleich gut oder sogar besser? Und warum?

Verheerend, wenn wir uns über dieses Verfahren vorher keine Gedanken gemacht haben.

  1. Panik – Alarm der Überforderung

Dass große Angst Panik auslösen kann, ist ein Gemeinplatz. Aber warum macht Angst manchmal Panik und manchmal nicht? Sie ist eine Reaktion auf eine Bedrohung. Was ist sie aber mehr als nur Angst? Mehr als Angst ist, Bedrohung als ausweglose Situation wie durch einen Tunnel verengt wahrzunehmen.

Da fallen mir einige Biographien ein. Aus der frühen Zeit der Republik imponierte mir Rosa Luxemburg (1871-1919), eine einflussreiche Vertreterin der Arbeiterbewegung. Ihre Inhaftierung mit der eventuellen Hinrichtung machte ihr Angst, führte aber nicht zur Panik. Beeindruckend war ihr Vertrauen in die soziale Gerechtigkeit. Sie hatte allen Grund, Angst zu haben und panisch zu reagieren. Aber nichts da. Ihre Kraft der politischen Analyse, das Vertrauen in die soziale Umschichtung und die Fortentwicklung der Politik schützten sie vor dem Abgleiten in Panik.

Panik ist mehr als  Angst. Wer Angst nicht mehr bewältigen kann, entgleitet in Überforderung und Panik. Vertrauen in die Zukunft hilft einzig und allein gegen Überforderung.

  1. Denk-Askese und Rassismus
Krise im Kopf (Dreiklang bei Bad Krozingen - Foto Arnold Illhardt)
Krise im Kopf (Dreiklang bei Bad Krozingen – Foto Arnold Illhardt)

In allen Seuchen konnte man beobachten, dass eine Sicht der Dinge ohne Beobachtungen auskommt, die sich auf vernünftige Beweise oder wenigstens Faktenüberprüfung stützt. Immer wieder gibt es bei Seuchen Menschen, die auf Denken verzichten. Hier einige – bei weitem nicht alle – Beispiele aus der Geschichte der Epidemien:

Die Lepra etwa wurde oft als göttliche Strafe für Sünden verstanden. So hielt man die Kranken für moralisch minderwertig. Die Infizierten lebten außerhalb der Städte in sog. Gutleutehäuser und bekamen sogar eigene Gutleutkapellen. Sie mussten mit Klappern oder anderen Signalen auf Wegen von Dorf zu Dorf die Gesunden warnen.

Die Pest wurde ähnlich wie die Lepra als Strafe verstanden. Schlimm wurden erste rassistische Etikettierungen vorgenommen: Judenhass war sehr verbreitet, Juden galten als Brunnenvergifter und Betrüger, jüdische Ärzte z.B. verrieten die göttliche Therapieordnung und durften „Normalbürger“ nicht behandeln.

Die Syphilis löste die seltsamste Art des Rassismus aus. Bald sah man in der Rückkehr des Columbus von der Amerikaentdeckung 1594 – das war die verbreitetste Infektionstheorie – den Beginn der Syphilis. Die Matrosen des Columbus infizierten sich beim Geschlechtsverkehr mit Indianerinnen. Syphilis nannten die Italiener die spanische Krankheit, die Franzosen die italienische Krankheit, die Deutschen die französische Krankheit, die Polen die deutsche Krankheit usw. Schuldig waren immer die anderen.

Eine interessante Deutung war, dass TBC, von Reichen gern romantisiert, von anderen hochmütig als „Proletarierseuche“ verstanden wurde. Eine Infektion war nicht einfach eine Erkrankung, sondern ein sozial wirksames An-den-Rand-Geschoben-Werden der Erkrankten. Die Ärmeren konnten sich weder einen guten (Armen-)Arzt, ausgewogene Ernährung, Ruhe in der Sonne oder gar Sanatorien leisten. Es war erst der Berliner Arzt Virchow, der vor der Erfindung der Antibiotika, soziale Änderungen einführen wollte.

Besonders schlimm waren die Auswirkungen der Spanischen Grippe, jener Pandemie mit ungeheuer vielen Toten. Seuchenüblich waren Verschwörungstheoretiker, Vertreter des Antisemitismus, Verdacht gegen Außenseiter usw. Verschärft wurde das Aufkommen der Abschottung, Rückzug ins Eigene. Nationalismus und Populismus wurden groß geschrieben. Manche linke Historiker meinen sogar, dass der NS-Faschismus in der spanischen Grippe geboren wurde. Immerhin kam diese Pandemie in 3 Wellen. Diese Entwicklung ist m.E. nicht nachvollziehbar. Nichts desto trotz bringt jede Seuche einen starken Trend zu Schuldzuweisungen und Besserwisserei auch ohne Fakten.

Bei Corona kehren wir wieder zur mittelalterlichen Pest zurück: wieder stellen wir Antisemitismus fest. Neu ist der Verdacht gegen Asiaten als Herde und Virenschleudern.

Apropos, sind Seuchen Zufall? Der bayrische Satiriker Karl Valentin schrieb, dass „jede Epoche die Epidemie hat, die sie verdient.“ Sind wir eine Epoche, die sich nicht auf Seuchen eingestellt hat? Auch nicht auf unser kollektives Gedächtnis?