Was wir wissen, ist ein Tropfen; was wir nicht wissen, ein Ozean, soll Isaac Newton mal gesagt haben und der musste es schließlich wissen. Und so wirkt der Begriff „Wissen“ selbst letztendlich unscharf, wird aber als Mäntelchen zur Profilierung gerne genutzt. Der Versuch einer Annäherung, was Wissen sein kann, wie es entsteht und schlussendlich genutzt wird. Oder auch nicht!
Ich weiß, dass mir nichts angehört
Als der Gedanke, der ungestört
Aus meiner Seele will fließen,
Und jeder günstige Augenblick
Den mich ein liebendes Geschick
Von Grund aus lässt genießen.
(Goethe)
Einleitung – Wieso Wissen?
Zum Zeitpunkt der Textentstehung wütet in der Welt eine Pandemie. Der mit ihr unmittelbar zusammenhängende, wenn auch unscharfe Begriff Corona ist allgegenwärtig und bestimmt aktuell jede Nachricht, ob in der Tagesschau oder in einem wie auch immer gearteten Fachblatt einer Nischenthematik. Verfolgt man die Ausführungen der zurzeit angesagten Fachleute aus Medizin und Forschung nebst den Verantwortung tragenden Politikern und ergänzt diese Statements um die Meinung der Kritiker und Laien, so lässt sich das so entstandene Gesamtwissen auf den allgemeinen Nenner runterbrechen: Man weiß nichts Genaues oder besser Endgültiges über die tatsächlichen Gefahren und Auswirkungen des Virus, da es sich um eine neue Situation handelt, die sich nur zum Teil mit bestehenden Erfahrungen erklären lässt und für die noch nicht bestimmbar ist, wie sie weiter verläuft. In einem Beitrag in den sozialen Medien, dessen Quelle mir nicht mehr bekannt ist, wurde dieser status quo mit dem Betreten einer Eisfläche verglichen: Wenn man nicht weiß, ob das Eis hält, sollte man es tunlichst nicht betreten. Was allerdings gleichzeitig zu der Frage führt: Wer kann bestimmen, ob das Eis hält und – noch wichtiger – auch die Verantwortung dafür übernehmen? Und was sind die Ermessenskriterien, die das Wissen um die Haltbarkeit der Eisfläche stützen können? Sollte man sich bei diesem Spezialwissen auf sein Bauchgefühl, seine Erfahrungen aus früheren Wintern oder auf die Entscheidung des örtlichen Ordnungsamts oder Bürgermeisters stützen?
Die kritische Beobachtung dieser Situation mit dem als gefährlich und bisher unberechenbar beschriebenen Virus begann meine Neugierde zu wecken, mehr darüber zu erfahren, was Wissen ist, wie es entsteht, wodurch es beeinflusst wird, wie Menschen damit umgehen und wozu Wissen führen kann. Vor allem aber interessiert natürlich auch die Frage: Wann weiß ich, ob sich ein Wissen der Realität annähert oder nicht; ob es falsch oder richtig ist. Mir geht es nicht darum, die aktuellen Entscheidungen zur Coronakrise infrage zu stellen, sondern vielmehr zu eruieren, wie sich Wissen um eine komplexe Angelegenheit zusammensetzt. Allgemein gesagt: Es hilft nicht allein, über Wissen oder Know-How zu verfügen, sondern auch darum, wie man Wissen integrieren, also mit anderen Wissenseinheiten kombinieren kann.
Bereits diese ersten Ausführungen werfen die Frage auf, ob jemand über das Wissen schreiben sollte, der selbst nicht so genau weiß, was Wissen überhaupt ist. Ich befinde mich da allerdings in sehr guter Gesellschaft, denn meine Recherchen, auch wenn sie nicht abschließend und umfassend waren, erbrachten das beruhigende Ergebnis, dass es bisher nur unbefriedigend geklärt zu sein scheint, was Wissen nun haargenau ist. Als ich vor Jahrzehnten Psychologie studierte, war die Auseinandersetzung mit dem Thema Wissen, seinem Erwerb, seiner Speicherung, aber auch den beeinflussenden Faktoren Bestandteil der kognitiven Psychologie. Ein Anfang des Wissens über das Wissen – immerhin. Spätestens die eine oder andere Stippvisite bei den Philosophen erbrachte die ernüchternde Einsicht, diese Diskussion scheint ein Fass ohne Boden zu sein. Oder, wie es so schön heißt: Es wurde bereits alles dazu gesagt. Nur eben noch nicht von mir!
Was ist Wissen?
Bereits bei der Sichtung diverser Definitionen in philosophischen oder kognitionspsychologischen Fachbüchern oder Lexika ist die Beute unvollständig, um eine zufriedenstellende Beschreibung abzugeben, für die man nicht zwingend vorher genannte Professionen studiert haben muss. Ganz brauchbar wäre: „Wissen zeichnet sich sowohl durch einen hohen Grad an subjektiver Überzeugung aus als auch durch die Verfügbarkeit einer nachprüfbaren Begründung, die die Wahrheit des Gewussten garantiert. Wissen ist der Inbegriff der Erkenntnis (MKL).“ Ich hoffe, der Begriff der Wahrheit wurde vom Leser beflissentlich übersehen, da seine Nennung in der Regel eine nicht enden wollende Diskussion entfacht, denn auch dieses Thema ist wohl bis heute nicht endgültig geklärt. Und damit ist es mit der Wahrheit wie mit dem Wissen: Es scheint sie bzw. es zu geben, aber es fehlt der große Definitionsknaller, bei dem sich alle zurücklehnen und „Heureka“ rufen. By the way, die Lexikonversion zum Thema Wissen geht noch weiter: „Erfolgt die Begründung methodisch, so spricht man von wissenschaftlichem Wissen.“ Dazu ein Beispiel: Vermutlich weiß man inzwischen ziemlich genau, dass reines (!) Wasser bei 0 Grad gefriert, allerdings ist es offenbar möglich, die Flüssigkeit so runterzukühlen, ohne dass sie erstarrt. Also auch nichts, worauf man sich verlassen kann. Die Quelle stammt übrigens aus wikipedia, doch dazu später. Bezüglich der Nachprüfbarkeit von Wissen heißt es in einem weiteren philosophischen Nachschlagwerk: „Zum Wissen gehört wesentlich die Evidenz, die nicht nur ein Hinsehen auf etwas, sondern immer auch ein Einsehen der Begründung ist, von der her allein das Erkannte sein wirkliches Sein und das Erkennen die sichere Wahrheit hat (HW).“
Ob wir der Wahrheit schlussendlich näher gekommen sind, oder ob wir, wie so oft, Täuschungen erlegen sind, hat auch den Psychoanalytiker und Philosophen Erich Fromm beschäftigt. So beschreibt er, „…dass die meisten Menschen halb wachen und halb träumen und nicht gewahr sind, dass das meiste dessen, was sie für wahr und selbstverständlichen halten, Illusionen sind, die durch den suggestiven Einfluss des gesellschaftlichen Umfelds hervorgerufen werden, in dem sie leben. Wissen beginnt demnach mit der Zerstörung von Täuschungen, mit der „Ent-Täuschung“. Wissen bedeutet, durch die Oberfläche zu den Wurzeln und damit zu den Ursachen vorzudringen, die Realität und ihrer Nacktheit „sehen“. Wissen bedeutet nicht, im Besitz von Wahrheiten zu sein, sondern durch die Oberfläche zu dringen und kritisch und tätig nach immer größerer Annäherung an die Wahrheit zu streben (Wortlaut EF).
Damit steht das Wissen in einer Art Gegensatz zum bloßen Meinen und Annehmen, „…welche bezweifelt werden und auch irrig sein können (HP).“ Kant benannte in diesem Zusammenhang ein dreistufiges Modell: „Das Fürwahrhalten … hat folgende drei Stufen: Meinen, Glauben und Wissen (IK) “. Ein flüchtiger Blick in unser gesellschaftliches Drumherum und man findet statt Wissen eher ein verhuschtes Dranvorbeidenken und schlimmstenfalls Raten. Die meisten Quizsendungen im Fernsehen haben daher auch nichts mit Wissen, sondern lediglich mit Raten zu tun und basieren somit oftmals nur auf einem Zufall. Nicht umsonst hat man bei den vermeintlichen Wissensanflügen in sozialen Medien den Eindruck, von einer Rategesellschaft umgeben zu sein: Wissen wird solange zurechtgebogen, bis der Anschein einer Eindrittelstimmigkeit entsteht. Schlussendlich ist es aber nichts anderes als maskierte Unwissenheit. Immerhin hätten wir damit die beiden Pole Wissen und Unwissenheit markiert, die für die weitere Ausführung nicht unwichtig sind.
Denken und seine Speicherung als Wissen gründet zudem in der Urteilskraft des Menschen. Urteilen – so befand auch Hannah Arendt – schließt den Irrtum mit ein. „Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen. (TM)“ Das Vermögen, etwas zu beurteilen oder sich ein Urteil zu bilden, schließt Fähigkeit und Können ein. Natürlich kann man zu Allem etwas sagen und sich entsprechend ein Urteil bilden, nur stellt sich schlussendlich die Frage, inwieweit die eigene Beurteilung auch einer Überprüfbarkeit standhält. Wenn also z.B. während der Corona-Krise von einigen Gegnern der staatlich beschlossenen Regeln das Tragen eines Mundschutzes als Maulkorb bezeichnet wurde, so ist diese Aussage insofern frei von überprüfbarem Urteilsvermögen, da ein Sprechen auch mit Mundschutz möglich ist, sich gesellschaftskritische Menschen (so wie ich) auch mit Maske das Selbstdenken nicht nehmen lassen und dieser Virenschutz ja auch nur im engen Kontakt getragen werden soll und nicht ständig.
Während es bestimmte Aussagen gibt, die unumstößlich sind (Hunde haben normalerweise vier Beaine), so sollte Wissen immer wieder auf seine aktuelle Richtigkeit überprüft werden. Das macht es auch oftmals schwierig, philosophische Sätze, die vor Jahrhunderten entstanden sind, 1 zu 1 auf die Jetztzeit anzuwenden. So zitiert Erich Fromm Meister Eckhart´s Standpunkte, „dass man sein Wissen nicht als einen Besitz ansehen soll, der einem ein Gefühl der Sicherheit und Identität verleiht; man sollte von seinem Wissen nicht „erfüllt“ sein, man sollte sich nicht daran festklammern, nicht danach begehren. Wissen sollte nicht die Eigenart eines Dogmas annehmen, das uns versklavt (EF).“ Mit diesem Gedanken im Hinterkopf macht es nachdenklich, wie wenig die überprüfte Aktualisierung von Wissen vor allem in komplexen Bereichen wie z.B. der Politik gültig ist. Wo wir grade bei Wissen sind: Wäre nicht einer Komplettüberholung des Schulsystems vonnöten?
Wissenserwerb
Um persönliches Wissen zu erlangen, befinden wir Menschen uns – mehr oder weniger motiviert – in einem lebenslangen Lernprozess, der mit der ersten Lernerfahrung in der Wiege beginnt und – sollte unser Gehirn mitspielen – selbst in hochbetagten Jahren nicht zum Stillstand kommt. Natürlich kommt in den ersten Jahrzehnten der Schule eine wichtige Rolle beim Wissenserwerb zu, allerdings muss ich gestehen, dass mir beim Gedanken an meine Grundschul- und Gymnasialzeit eher interaktionelle, anstatt wissensaffine Aspekte einfallen. Wissen erlangen bedeutet immer auch, den jungen Menschen zum Selbstdenken zu ermutigen und ihm Strategien an die Hand zu geben, um seinen Wissenshorizont auszubauen. So kritisierte Erich Fromm schon vor Jahrzehnten: „Unser Bildungssystem ist im allgemeinen bemüht, Menschen mit Wissen als Besitz auszustatten, entsprechend etwa dem Eigentum oder dem sozialen Prestige, über das sie vermutlich im späteren Leben verfügen werden. Das Minimalwissen, das sie erhalten, ist die Informationsmenge, die sie brauchen, um in ihrer Arbeit zu funktionieren. Zusätzlich erhält jeder noch ein größeres oder kleineres Paket „Luxuswissen“ zur Hebung seines Selbstwertgefühls und entsprechend seinem voraussichtlich sozialen Prestige. Die Schulen sind die Fabriken, in denen diese Wissenspakete produziert werden (EF)“. Der Philosoph und Theologe Ivan Illich vermutete hinter dem Schulsystem einen heimlichen Lehrplan (hidden curriculum), der vor allem Leistungskonkurrenz und Normkonformität statt Wissen vermittelt (BP).
Gerne erinnere ich mich an meine Frau Mutter, die mich zu Grundschulzeiten gerne Besuchern als belesener Junge präsentierte. Zu diesem Zweck nannte sie ein bestimmtes Thema und ich lief wie ein abgerichteter Jagdhund los, um aus meinem schon damals stetig anwachsenden Bücherfundus den entsprechenden Wälzer, in dem ihr Thema beschrieben wurde, herauszusuchen, und mich dann im Beifall des Publikums zu sonnen. Meine Mutter nannte dieses Zirkusstückchen: Wissen heißt: Wissen wo´s steht. Ich brauchte viele Jahre, um zu verstehen, wie unsinnig die Aussage war. Bestände unser Wissen nur darin, die Quellen des Inhalts zu wissen und stolz auf die vielen Tausend Exemplare der Privatbibliothek zu verweisen, so handelt es sich hierbei um ein eher verschwommenes Quasiwissen. Wissen bedeutet nicht, Dinge rezitieren zu können, sondern sie durchdacht zu haben, wobei die Betonung auf „durch“ liegt. Wissen ohne Bewusstheit,ohne eine tiefe Durchdringung ist – wie Nietzsche es ausdrückt – „Wissen um ein Wissen (FN)“ oder – um auch noch Kant mitaufzuführen – „ist alles nur Spiel der Einbildung ohne die mindeste Beziehung auf Wahrheit (IK)“. Ziemlich sicher entsteht ein gutes Wissen durch „konzentriertes Sehen (EF),“ womit zweifelsohne deutlich wird: Wissen muss bewegt werden, sonst verblasst es in einer unhinterfragten Denkstarre und damit zur Bedeutungslosigkeit.
Ganz unrecht hatte allerdings meine Mutter nicht: Es nützt zwar nichts zu wissen, wo etwas steht, dennoch erscheint mir das Lesen und in jungen Jahren das Vorlesen ein wichtiger Zugang zum Wissenserwerb zu sein. Ich mache die Erfahrung, dass meine jugendlichen Patienten, die Lesen als Freizeitbeschäftigung angeben, tatsächlich oftmals auch die eher reflektiert denkenden Menschen sind. Lesen, wenn es sich nicht grade um billige Trivialliteratur zum Zeitvertreib handelt (wie kann man nur seine Zeit vertreiben??), schafft Vernetzungen zu unterschiedlichen Themen. „Die Aneignung von Wissen und Begriffen gleicht in vielen Bereichen einem Schreiten über Stufen; das Erreichen höherer Stufen setzt das Einnehmen niedrigerer Stufen voraus. … Neues Wissen wird umso leichter erworben und behalten, je mehr es auf bestehendem Wissen aufbauen kann (SS).“
Wie ich an Wissen gelange, wurde mir erst in meinen universitären Zeiten deutlich, da ich hier vor allem auf den Prozess des Selbstlernens in höchstmöglicher Eigenorganisation angewiesen war; tatsächlich eine Erkenntnis, die mir zu Schulzeiten nie bewusst gemacht worden war und daher auch zunächst nicht bewusst wurde.
Die einfachste, vor allem zeitgemäße Möglichkeit, sich als bisher Unwissender Kenntnisse zu einem bestimmten Thema zuzulegen, ist es, Informationen über das Internet abzurufen. Dazu sind allerdings einige Grundvoraussetzungen wichtig: Man muss Internetrecherchen beherrschen, man muss in der Lage sein, unterschiedliche oder gar gegensätzliche Aspekte oder Informationen zunächst einmal wertfrei zusammenzuführen und sich stets bewusst sein, dass die digitalen Fundstücke nicht neutral sind, sondern von den jeweiligen Suchmaschinen per Algorithmus so zugeschnitten wurden, um so auf meine Suchgewohnheiten zuzutreffen. Und da das Internet gelernt hat, oberflächliche Wissensbereicherungen abzudecken, sind die Ergebnisse ernüchternd. „Im Internet werden alle Informationen tendenziell gleichwertig, verlieren das qualitative Gefälle, das eigentlich zwischen ihnen besteht. Die unvorstellbare Daten- und Informationsflut, die alles Wissen der Welt von einem beliebigen Smartphone aus abrufbar macht, führt keineswegs in die Wissensgesellschaft, sondern allenfalls in die Wissenkonsumgesellschaft (HW).“ Bei wissenschaftlichen Recherchen gelange ich immer wieder an die Grenzen des Internets, da die hier aufbereiteten Informationen z.T. unzureichend, irreführend oder sogar verfälscht sind.
Ich verfüge glücklicherweise über eine sehr umfangreiche Bibliothek aus Totholz-Büchern – zudem nach Bereichen sortiert -, in denen ich gezielt das suchen konnte, was ich finden wollte. Damit – auch das sei angemerkt – ist meine Recherche zum Thema Wissen bereits nicht mehr wertfrei, da die in den zahlreichen Regalen stehenden Bücher dort nicht nach einem Zufallsprinzip und unabhängig von meiner bevorzugten Denkrichtung stehen. Somit – frei nach Kant – habe ich mein Fürwahrhalten bloß als Erscheinung meines eigenen Gemüts vor Augen (IK). Ergebnis: Wissen scheint seltenst wertfrei zu sein, sondern folgt individuellen Grundbedingungen. Gibt es überhaupt ein neutrales oder kodifiziertes Wissen, das von allen Denkrichtungen unisono eine Akzeptanz erfährt? Bedarf es nicht vielmehr einer Einteilung in ein subjektives und objektiv zureichendes „Fürwahrhalten“? Vermutlich gab es das früher; heute wollen alle mitreden und sei es nur, um – wie es bei uns Kindern früher hieß – „Erster Sosager ohne Widerrede“ zu sein. Nichts ist schrecklicher als in der bereits zitierten Coronakrise auf facebook & Co von selbst ernannten und zum Teil unterbelichteten Experten tagtäglich beglückt zu werden.
Man kann gar nicht genug wissen. Oder besser doch?
Man stelle sich vor, es gäbe einen Menschen, der alles Wissen dieser Welt – oder begrenzen wir es auf diese Erde – in sich vereinigte. Also ein Allwissender. Versetze ich mich in seine oder ihre Position, so wird mir reichlich plümerant zumute. Der gerne unüberlegt geäußerte Satz, man könne gar nicht genug wissen, stößt bei dieser Vision an seine Grenzen. Das dachte sich wohl auch Nietzsche, als er meinte: Ich will, ein für alle Mal, vieles nicht wissen. – Die Weisheit zieht auch der Erkenntnis Grenzen (FN).“ Und weiter: „Wer tief in die Welt gesehen hat, errät wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein (FN).“ Wäre ich also tatsächlich ein Allwissender, so würde es mich vermutlich in den Wahnsinn treiben, mitanzuschauen und vor allem zu DURCHschauen, wie viel um mich herum und das in sehr komplexen Wissensbereichen bar jeglicher Vernunft und Wissen beschlossen und verkündet wird. Man muss nicht einmal allwissend sein, um festzustellen, wie viele Institutionen oder öffentliche Personen an meinem Kenntnisreichtum als Allwissender keinerlei Interesse hätten. Gerne wird die westliche Welt und somit auch Deutschland als Wissensgesellschaft dargestellt, doch würde es ein rein wissensbasiertes Handeln geben, würden Kriege, Klimakatastrophen und vielleicht auch Pandemien der Vergangenheit angehören. Diesbezüglich wurden immer wieder von Wissenschaftlern Warnungen ausgesprochen, aber sie verhallten und verhallten immer noch in den Nebeln einer auschließlich dem Profits dienlichen Sache.
Der „gesunde“ Menschenverstand
Bei dem gesunden Menschenverstand handelt es sich um eine gern bediente Floskel, die tagtäglich zigmal in den sozialen Medien auftaucht und hier vor allem als Untermauerung eines Statements herhalten muss. Tatsächlich schlummert hinter dieser Botschaft: Ich liege mit meiner Meinung richtig, da sie zum einen gesund ist und ich mich vorher meines Verstandes bedient habe. Dabei ist wohl kaum etwas so schwammig wie besagte Quasiwissensbasis. „Unsere bewussten Motivationen, Ideen und Überzeugungen sind eine Mischung aus falschen Informationen, Vorurteilen, irrationalen Leidenschaften, Rationalisierungen und Voreingenommenheit, in der einige Brocken Wahrheit schwimmen, die uns die (freilich falsche) Gewissheit geben, dass die ganze Mischung real und wahr sei. Unser Denkprozess ist bestrebt, diesen ganzen Pfuhl voller Illusionen nach den Gesetzen der Logik und Plausibilität zu organisieren (EF).“ So Fromm, so wahr. Mein gesunder Menschenverstand hat mich z.B. zum Vegetarier werden lassen, da ich bei allem Wissen um Aufzucht, Haltung, Medikamentierung, Transport oder Schlachtung von Tieren aus Gründen des gesunden Menschenverstands den Verzehr von totem Fleisch nicht mehr verantworten kann, ihn sogar ekelerregend empfinde. Diesbezüglich wird sich mein Billigwürstchen grillender Nachbar sicherlich eines anderen Menschenverstands bedienen und ihn für gesund halten.
Wissenspakete
Wissen ist nicht einfach nur die Anhäufung von abrufbaren Informationen, sondern baut auf verschachtelten und vernetzten Prinzipien auf. Die Kognitionspsychologie spricht von Wissenspaketen, wie sie auch Zimbardo in seinem bekannten Lehrbuch der Psychologie (PZ) beschreibt. Hier unterteilt er die Organisation der Informationen und damit unserm Wissen in unterschiedliche Strukturen:
- Schemata, die die Bedeutungs- und Verarbeitungsgrundlage des menschlichen Informationsverarbeitungssystems umschreiben und aus einem Netz wechselseitiger Beziehung zwischen seinen Bestandteilen besteht (Restaurants haben grundsätzlich immer eine ausgehängte Speisekarte am Eingang);
- Scripts, die all das enthalten, was uns über eine komplexe Sequenz von innerhalb eines zeitlich begrenzten Rahmens auftretenden, untereinander in Beziehung stehenden Ereignissen bekannt ist (in einer Kirche sollte man den Hut abnehmen und die Klappe halten);
- Attribuierungen, die uns eine rationale Auffassungen darüber anbieten, wie wir zu Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen gelangen (die Klimakatastrophe ist eine Erfindung der GRÜNEN);
- Heuristische Beurteilungsstrategien, die man sich als kognitive Instrumente, nichtformalisierte kognitive Strategien oder Faustregeln vorstellen kann und die damit als nützliche Entscheidungshilfen dienen können, ohne weiter hinterfragt zu werden (Milch ist gesund);
- Inferenzstrategien helfen uns die passenden Daten zu finden und diejenigen zu verwerfen oder gar nicht erst bewusst wahrzunehmen, die die eigene Hypothese nicht bestätigen. Damit lassen sich hervorragend Vorurteile zimmern. (Pandemien gab´s schon immer, also kann diese gar nicht so schlimm sein!)
Der Psychologe George E. Kelly formulierte in den 50er Jahren seine Theorie der persönlichen Konstrukte. Nach Kelly sind Konstrukte dafür da, „…Ereignisse in der Vorstellung zu replizieren, also ihre Wiederholungen vorauszusehen, und durch Bestätigung oder Verwerfung unser Weltbild zu verfertigen, eben „Realität“ zu konstruieren (WS).“ Die Art und Weise, wie Menschen ihre Konstrukte entwerfen, ist natürlich abhängig von Intelligenz, Erfahrungshorizont oder der Motivation, komplexes Wissen zu analysieren, hängt aber auch – folgt man Kelly – davon ab, wie durchlässig solche inneren Entwürfe der Realität sind. „Ein Konstrukt ist durchlässig, wenn es neu wahrgenommene Elemente in seinen Kontext aufnimmt. Es ist durchlässig, wenn es Elemente ihrer Neuartigkeit ausschließt (BF).“
Halbwissen
Ein wichtiger Teil meiner Tätigkeit als klinischer Psychologe ist die Edukation, worunter man psychologische, pädagogische und medizinische Maßnahmen versteht, die z.B. Patienten mit einer chronischen Erkrankung befähigen sollen, ihre Erkrankung und deren Therapie in umfassender Weise zu verstehen, sie zu bewältigen, um damit in ihrer Selbstwirksamkeit bestärkt zu werden. Viele Betroffene, aber auch Angehörige verfügen mit der Zeit über ein enormes Hintergrundwissen und so habe ich sogar Laien kennengelernt, die aus sehr spezieller und hochkomplizierter Fachliteratur zitieren konnten. Mit der Zeit wurde die Beschäftigung mit diesem komplexen Wissen zu einem Teil der Krankheitsbewältigung, um sich als gut informierter Patient besser auf den gesamten Behandlungsprozess und damit auch auf z.B. medikamentös fremdbestimmte Prozesse einlassen zu können.
Bei aller Anerkennung für das spezialisierte Studium der eigenen Erkrankung handelt es sich bei dem so angereicherten Fachwissen jedoch letztendlich immer um ein Halbwissen, was allerdings häufig und gerne ausgeblendet wird. Vollständiges Fachwissen zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass seine Anwendung evidenzbasiert ist bzw. sein sollte, d.h. „auf der Basis empirisch zusammengetragener und bewerteter wissenschaftlicher Erkenntisse … (Duden)“ erfolgt. Somit kommt beim Halbwissen häufig zum Tragen, dass von einer Erfahrung oder wenigen einzelnen Erfahrungen auf ein Gesamt geschlossen wird, während der Experte diesbezüglich auf ein breites, vielfältiges und diverses Wissen zurückgreifen kann.Ich ergänze: Er sollte darauf zurgreifen können!
Blendwissen
Dem Leser wird aufgefallen sein, dass ich mich in diesen Ausführungen auf Namen beziehe, die zumindest in gewissen Bildungskreisen eine hohe Anerkennung genießen: Kant, Fromm oder Nietzsche. Meine Anleihen aus dem Wissen dieser Persönlichkeiten könnten den Eindruck erwecken, recht beschlagen auf dem Gebiet des Wissens zu sein. Wer sich auf solche Helden des Denkens beruft, kann ganz so blöd nicht sein. Allerdings gebe ich zu bedenken, weder Kant noch Nietzsche vollständig gelesen zu haben, wohl aber größtenteils Erich Fromm. Bin ich somit ein Blender? Solange man Informationen von wissenden Persönlichkeiten nicht aus dem Zusammenhang reißt, ist gedankliches Fremdgehen sicherlich legitim, zumal auch besagte Männer das Rad nicht selbst erfunden haben. Schließlich folgt Wissen je nach Thema immer einem immensen Verknüpfungsprozess von Bewusstseinsinhalten (SS). Apropos Nietzsche: Der nämlich meint: „Die gewöhnlichste Form des Wissens ist die ohne Bewusstheit. Bewusstheit ist Wissen um ein Wissen…(FN)“
Es ist beeindruckend, welchen Einfluss die Nennung von Titeln, Denkgrößen oder Fakultäten hat. Auch in der besagten Coronakrise ist es offensichtlich unabdingbar, sich bei der Verkündigung von bestimmten medizinischen Inhalten oder Erkenntnissen auf ein bestimmtes Institut zu beziehen, das einen gewissen Anerkennungsrang besitzt. So schrieb die Leserin Christina de Havilland in der Tageszeitung die TAZ: „Man hat das Gefühl, die Zahl der Chef-Virologen und Chef-Epidemiologen hat mittlerweile sogar noch die der Fußballtrainer übertroffen. Dabei sind sich nicht einmal die Wissenschaftler einig.“ Auch in den Privatunterhaltungen fällt oft der Satz „das hat auch dieser Professor Dingsbums“ gesagt, womit der Wahrheitsgehalt der eigenen Aussage unterstrichen werden soll. Ein Professor irrt nicht! „Wenn ich meine Ansichten weitergebe, muss ich kritisch reflektieren, wie diese Ansichten entstanden sind, inwieweit ich sie hinterfragt habe, und wichtiger noch, ob ich auch andere Ansichten zulassen kann (EF).“ Bei so mancher Party lernte ich Personen kennen, die mit Blendwissen zu beeindrucken versuchten. Bei Aussagen a la „wie ja schon Aristoteles sagte“ ist für mich zumeist der Moment gekommen, eine zweite Runde am Buffet einzulegen.
Pionierwissen
Als ich vor knapp 25 Jahren meine heutige Tätigkeit als Psychotherapeut in einer großen Klinik antrat, hatte ich zwar einen sehr guten universitären Abschluss in der Tasche, besaß aber kaum Wissen über die neue Beschäftigung = Krankheitsbewältigung bei chronisch kranken Kindern und Jugendlichen. Kombiniert mit meiner früheren Profession als examinierter Krankenpfleger konnte ich zwar auf einen gewissen Fundus aufbauen und diesen mit der neuen Aufgabe verknüpfen, aber es gab damals bis auf ein paar an der Praxis vorbei verfasste wissenschaftliche Verschriftlichungen wenig Handlungsanleitung. Was nützt einem fremdes Wissen, wenn es nicht anwendbar ist? Leider schwafeln viele wissenschaftliche Veröffentlichungen absolut an jeglicher Praxisorientierung vorbei.
Somit war ich eine Art Pionier, der sich mit den Elementen Fleiß, Versuch und Irrtum, Intuition, jahrzehntelange Erfahrungskumulation und ständigem Hinterfragen und Revidieren ein Fachwissen erarbeiten konnte, das heute sogar in übergeordneten und bundesweiten Gremien Einfluss findet. Bin ich somit ein Wissender oder doch nur ein teilwissender Fachidiot? Besitzt dieses Wissen eine überprüfbare Objektivität oder ist sie durch „subjektseitige Konstruktionen (FB)“ bedingt? „Grundsätzlich ist wohl kein Lernen denkbar, das ein vollständiges Neulernen wäre. Immer ist schon ein Wissensbestand vorhanden, der anlässlich neuer Erfahrungen ergänzt und verändert wird (SS).“ Es hilft nicht allein, über Wissen oder Know-How zu verfügen, sondern auch darum, wie man Wissen integrieren, also mit anderen Wissenseinheiten kombinieren kann. Dann kann aus Pionierwissen eine solide Arbeitsbasis entstehen. Und selbst nach 25 Jahren stelle ich durchaus fest, micht wissenstechnisch auf dem Holzweg befunden zu haben.
Verschwörungsglauben – Vereinfachung von Halbwissen
Vor allem bei sehr komplexen Themen wie z.B. im politischen oder wirtschaftlichen Bereich wird es selbst für diesbezüglich gut bewanderte Laien schwierig, Hintergründe und Zusammenhänge zu verstehen. Die politische Sprache ist dermaßen verschwurbelt, dass der Eindruck einer Absichtlichkeit entsteht, unverständlich bleiben zu wollen (was bereits einen Verschwörungsglauben, da schlecht überprüfbar, darstellt!). Interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang, mit welcher leicht verständlichen Sprechweise die Politiker während der Corona- Pandemie ihre Statements unter das Volk brachten, während sie ansonsten Techniken des Drumherum- und Dranvorbeiredens bedienen. In der Regel ist es für die Menschen wichtig, sich zwar z.T. unhinterfragt regieren zu lassen, dann aber doch verstehen zu wollen, wie und womit man regiert wird. Je komplexer und unverständlicher solche thematischen Zusammenhänge sind, umso eher sind Personen geneigt, einfache Erklärungen unreflektiert zu übernehmen, auch wenn sie noch so abstrus und vor allem nicht belegbar sind. Kompaktes Denken, das bei komplexen Themen notwendig wäre, wird auf einfaches Kurzdenken heruntergebrochen und damit dermaßen vereinfacht, dass das Ergebnis schlussendlich keinerlei Bezug mehr zur Realität besitzt. So wird z.B. wissenschaftlich schon lange thematisiert, dass es eine Pandemie wie Corona geben könnte. Bill Gates hat diesen Gedanken vor ein paar Jahren in einem Video aufgegriffen, da er und seine Frau die WHO bezüglich der weltweiten Impfungen finanziell unterstützen. Nun wird Gates von Anhängern des ungeprüften Denkens verdächtigt, diese Krise geplant zu haben, um daran zu verdienen. „Am Anfang jeder Verschwörungstheorie steht das Misstrauen zwischen zwei gesellschaftlichen Gruppen. Dieses Misstrauen steigert sich zu einem Verschwörungsglauben, der davon ausgeht, dass sich eine Gruppe gegen eine andere Gruppe verschworen hat, um ihr zu schaden (SK).“ Ich würde allerdings empfehlen, den Wortteil “Theorie” durch Glauben zu ersetzen, da eine Theorie ein “System wissenschaftlich begründeter Aussagen (Wikipedia)” bezeichnet und es sich bei den zum Teil abstrusen Denkvorgängen nicht um einen wissenschaftlichen, sondern geglaubten Vorgang im Sinne einer eigenen Überzeugung handelt.
Nach den bisherigen Überlegungen handelt es sich beim Verschwörungsglauben somit nicht um Wissen, sondern um die willentliche Vereinfachung von unübersichtlichen Inhalten mit unüberprüften und von einer allgemeinen Unmissverständlichkeit abweichenden Mitteln. Auch hier handelt es sich oftmals um reines Blendwissen; zudem wurden die Märchen von vermeintlich profilierten Persönlichkeiten übernommen, die entweder mit der Thematik normalerweise gar nichts zu tun haben, dafür aber berühmt sind, oder sich mangels wissenschaftlicher Reputation über fragwürdige Kanäle oder Veröffentlichungen Ansehen erschlichen haben.
Eine sehr schlüssige Umschreibung, wie man seriöses Wissen erkennen und von Verschwörungsdenken trennen kann, veröffentlichte das WDR Wissenschaftsmagazin Quarks. Danach sind Hinweise auf die Seriosität von Wissensquellen:
Tonalität: Wissen wird neutral vermittelt, nicht emotional aufgeladen.
Inhalt: Thema wird von mehreren Seiten beleuchtet, inklusive Unsicherheiten. Und nicht als absolute Wahrheit dargestellt.
Quelle: Argumente basieren auf wissenschaftlichen Literaturstellen. Nicht auf Meinungen.
Experte: Veröffentlicht regelmäßig zum Thema auf begutachteten Fachzeitschriften. Nicht auf youtube.
Die Handlungsanweisung ist fürs Erste ganz brauchbar, lässt sich aber hinterfragen und auch bei anerkannten Experten nur halbherzig anwenden. Der größte Teil politischer Ergüsse würde damit ins Feld der Unseriosität abdriften. OK, das war soeben emotional aufgeladen!
Expertenwissen
Zumeist basierend auf einer umfassenden Ausbildung oder einem Studium setzt sich ein Expertenwissen vor allem aus viel Erfahrung und Sachkundigkeit zusammen. Vor geraumer Zeit kam ich mit einem Arzt ins Gespräch, der zu der eher seltenen vorkommenden sprechenden Zunft gehörte und daher trotz mangelnder Zeit mit mir über die Kunst der Medizin philosophierte. Ich werde seine Aussage nicht vergessen, dass es schon einer mindestens zwanzigjährigen (er nannte tatsächlich diese Zahl) Erfahrung bedürfe, um sich als Wissender oder Experte in seiner Branche betiteln zu dürfen. Zudem setzte er nach, dass das Wissen nur noch halb so viel Wert hätte, würde man damit hausieren gehen. Womit Neunmalkluge als Halbwissende enttarnt wären. An dieses Gespräch musste ich in Hinblick auf mein 25jähriges Berufsjubiläum als Psychologe (zuvor hatte ich noch einen anderen Beruf) zurückdenken. War ich ein in meinem Bereich Experte? Sicherlich, da ich für einen sehr speziellen Aufgabenbereich zuständig bin und weit über die Klinik hinaus über einen sehr breiten Erfahrungsschatz verfüge. Dennoch begegnen mir immer wieder Momente, die zu neuen Einsichten führen und das Wissen vermehren oder wodurch gewisse Themen bezüglich ihrer Richtung in Frage gestellt werden. Wissen braucht also Erfahrung und sollte stets hinterfragt werden können. Mit in Stein gemeißeltem Wissen lässt sich kein Blumentopf gewinnen. In einer schnelllebigen Zeit, in der wir heute leben, ist es mit dem Wissen wie mit dem neuen PC: Kaum hat man ihn aus dem Laden getragen, setzt bei ihm der Prozess der Entaktualisierung ein.
Daher ist es allein nicht ausreichend, sich als Experte – wie auch immer – qualifiziert zu haben (die Wege zum Expertentum sind unermesslich). Expertenwissen hat viel mit der von Aristotels beschriebenen Phronesis zu tun, also mit intellektuellen Tugenden. Phronesis bedeutet „…zu wissen, wann man welches Wissen anwenden kann. Das bedeutet, die lokalen Gegebenheiten, Umstände, Menschen und eben auch die Widersprüchlichkeit der menschlichen Existenz und der Erkenntnisse in die Überlegungen mit hereinzunehmen (GW-N).“ Auch wenn dies eher allgemeine Grundlagen des Wissens sind, sollten diese vor allem von einem Experten erwartet werden. Doch Fachwissen bedeutet keine Unfehlbarkeit; nur weil z.B. der Wissenschaftler einem bestimmten Institut angehört oder über Professorenweihen verfügt, heißt dies nicht, dass sein Wissen unumstößlich ist. Ich habe in meiner jahrzehntelangen Klinikzeit zahlreiche Medizinprofessoren erlebt, die ihre Entscheidungen eher aus Prestige- oder Machtgründen fällten, als das sie auf einer Wissenskumulation basierten.
Vor allem dann, wenn komplexes Wissen gefragt ist, neigt das System zur Störanfälligkeit. So las ich in einer Reportage von Tierschützern, dass Richter oftmals entgegen gängigen Rechts votierten, da sie eben von Tierschutz, vermutlich mal abgesehen von der Haltung des eigenen Jagdhunds, wenig Expertise besäßen. Zudem ist das Haltbarkeitsdatum von Expertenwissen wie bei jedem anderen Wissen auch endlich. Nicht umsonst gibt es z.B. im Mediziner – und Psychotherapeutenbereich eine Fortbildungspflicht.
Und noch ein Aspekt erscheint mir bei meinen Überlegungen zum Expertenwissen wichtig. So glauben z.B. Wissenschaftler oftmals „… fälschlicherweise, sie müssten sich legitimieren durch Verheißungen: Faszination und Erkenntnis reichen nicht mehr, sondern es müssen Versprechen in Aussicht gestellt werden wie „Damit heilen wir in zehn Jahren Parkinson (GW-A).“ Dies ist der Moment, Expertenwissen von Magie und Zauberei zu befreien. Das ist fürwahr ein ganz anderes Thema, wozu man eine ganz andere Form von Wissen benötigt.
Eine besondere Form des Expertenwissens ist das komplexe Wissensspektrum eines politischen Systems wie z.B. der Bundesregierung. Besonders zum einen aufgrund der Vielfältigkeit der Zuständigkeit und damit verbundenen weitreichenden Entscheidungen und besonders aufgrund der Fachfremdheit der meisten Politiker. Ein Leser kommentierte dies auf die Frage der Tageszeitung die TAZ „Brauchen Minister Sachverstand?“ (28.10.2008) wie folgt: „Minister haben so viel Sachverstand, wie sie für den leichtfertig-kompromissbereiten Vorgang der “demokratischen” Übertragung von Verantwortung durch Kreuzchen auf dem Blankoscheck brauchen – vernunftbegabte Bewußtseinsentwicklung wird dabei durch wettbewerbsorientierte Bildung zu Suppenkaspermentalität auf Sündenbocksuche von “Wer soll das bezahlen?” kompensiert.“ Man hätte das auch einfach ausdrücken können: Ja natürlich brauchen Minister Sachverstand! Nicht umsonst ist der Fremdschämcharakter bei manchen ministeriellen oder sonstwie dotierten Politexperten immens hoch. Ein Grund mit, warum mir bei dem politischen Krisenmanagement während der Corona-Epidemie oftmals aufgrund der mangelnden Expertise trotz des begleitenden Beraterstabs Angst und Bange war und noch ist. Wie soll man Politikern bei derartig komplexen Entscheidungen Vertrauen schenken, wenn man schon im normalen Politalltag an der demokratischen oder fachlichen Kompetenz zweifelt?
Weisheit
Weisheit, so Wikipedia, „…bezeichnet vorrangig ein tiefgehendes Verständnis von Zusammenhängen in Natur, Leben und Gesellschaft sowie die Fähigkeit, bei Problemen und Herausforderungen die jeweils schlüssigste und sinnvollste Handlungsweise zu identifizieren. Bei dem Gedanken an Menschen, die weise sind, assoziiere ich als erstes Einhörner, was vermutlich daran liegt, das mir nur wenige über den Weg gelaufen sind; sowohl Einhörner, als auch weise Menschen. Aber „wenige“ bedeutet dennoch, dass es einzelne Exemplare gab: Mein Psychologieprofessor und ein Chefarzt in einer Klinik, in der ich in meinem ersten Beruf als Krankenpfleger arbeitete. Beiden war gemein, dass sie über ein großes Wissen verfügten, dieses aber in einer Form präsentierten, die auf mich faszinierend und ansteckend wirkte. Sie brillierten nicht durch Autorität, sondern dadurch, dass sie über „…ihre Wissenschaft hinaus mit einer philosophisch übertragenen, metaphysischen Ebene Sinn vermitteln… (GW-H)“ konnten und ihre „… Wahrheit nicht über Menschlichkeit (GW-A)“ stellten. Ich glaube, die einzigen Weisen, die sich im wahren Leben auch so betiteln, sind die Wirtschaftsweisen, die regelmäßig ein Gutachten über den Zustand der deutschen Wirtschaft einlegen. Laut der Zeitschrift die WELT lagen die Ökonomen bei der Prognose kein einziges Mal richtig (GH). Die Autoren unterstreichen dies mit einem Satz von Friedrich Schiller: „Nichts Wahres lässt sich von der Zukunft wissen.“
Kollektives Wissen
In dem Buch „Die Information“ zitiert der Autor James Gleick den Philosophen McLuhan: „Heute haben wir unser zentrales Nervensystem in einer globalen Umarmung erweitert und schaffen, soweit unser Planet betroffen ist, Raum und Zeit ab. In rasantem Tempo nähern wir uns der Endphase der Verlängerung des Menschen – die technologische Simulation des Bewusstseins, wenn der kreative Prozess des Wissens kollektiv und gemeinschaftlich auf die Gesamtheit der Humangesellschaft ausgedehnt wird (JG).“ Wikipedia zeigt schon sehr lange, wie man gemeinschaftliches Wissen zusammentragen kann. Zwar wird dieses Wissensforum gerne in Wissenschaftskreisen als untaugliches Medium bezeichnet, der Wert des kollektiven Wissens dabei auch gerne verkannt. Es kocht halt jeder gern sein eigenes Süppchen auf dem Zweiflammenherd, anstatt wissenschaftlichen Konvivialismus zu leben.
In mehreren Leitlinienprozessen im medizinischen Bereich war und bin ich als psychotherapeutischer Experte beteiligt. „Die “Leitlinien” der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften sind systematisch entwickelte Hilfen für Ärzte zur Entscheidungsfindung in spezifischen Situationen. Sie beruhen auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren und sorgen für mehr Sicherheit in der Medizin…(AWMF).“ Man muss sich einen Kreis von zwei Dutzend Experten z.B. einer bestimmten Erkrankheitsform vorstellen, die Empfehlungen u.a. zu medikamentösen oder sonstigen Therapien aussprechen. Bis eine Empfehlung bezüglich eines bestimmten Medikaments formuliert wird, wozu im Vorfeld über Metastudien Untersuchungen zusammengetragen und ausgewertet werden, vergehen manchmal – so erlebt – Stunden. Das Ergebnis nennt sich lediglich Leitlinie, obschon es sowohl aktuelles, als auch auf jahrzehntelanger Erfahrung basierendes Wissen kumuliert. Zudem wird eine Leitlinie in regelmäßigen Abständen überarbeitet und aktualisiert. So funktioniert kollektives Wissen, was man sich für viele Bereiche, vor allem auch globale vorstellen und wünschen kann. „Die weise Gesellschaft müsste eine weise Weltgesellschaft sein (GW-N).“
Leider besitzen sogenannte Denkfabriken (auch think-tanks) einen zweifelhaften Status, da sie oftmals politisch missbraucht wurden/werden oder sich einseitig politisch anbiederten. Die dahinter steckende Idee, als Forscher- und Expertengruppe Wissen zusammenzutragen, dies auf neutrale Art auszuwerten und der Gemeinschaft anzubieten, hat für mich etwas sehr Faszinierendes und Zukunftweisendes. Wäre da nicht das Problem der Neutralität, die es vermutlich genauso wenig gibt wie Wahrheit oder absolutes Wissen.
Finale
„Es ist nicht die Menge an Wissen, die ein Gehirn ausmacht. Es ist nicht einmal die Verteilung von Wissen. Es ist die Vernetzung (JG).“ Wissen sollte kein Besitz oder Mittel zur Macht sein, sondern „… im Sinne von „ich weiß“ … Teil des produktiven Denkprozesses.“ (EF) Habe ich eigentlich schon Sokrates zitiert? Nein? Der soll gesagt haben: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Aber wenigstens das wusste er!
Literatur
Die Form der Quellenangabe wurde absichtlich mit Abkürzungen hinter dem Text gewählt, um eine direkte Zuordnung zu dem Autor/der Autorin zu vermeiden.
(AWMF) https://www.awmf.org/leitlinien.html
(BF) Don Bannister, Fay Fransella: Der Mensch als Forscher – Die Psychologie der persönlichen Konstrukte. Aschendorf, 1981
(BP) https://bildungspolitik2punkt0.wordpress.com/2010/01/05/
(EF) Erich Fromm: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Dtv, 1979
(FB) Franz Breuer: Wissenschaftstheorie für Psychologen. Aschendorff, 1989
(FN) Friedrich Nietzsche: Wie man wird, was man ist (Ermutigung zum kritschen Denken); Herausgegeben von Ursula Michels-Wenz, insel-Taschenbuch, 88
(GH) Von Martin Greive, Miriam Hollstein in die WELT vom 29.11.2014
(GW-A) Andrea Arz de Falco in: Wie weise ist die Wissenschaft. Geo Wissen Nr 29)
(GW-N) Helga Nowotny in: Wie weise ist die Wissenschaft. Geo Wissen Nr 29)
(GW-H) Helling in: Wie weise ist die Wissenschaft. Geo Wissen Nr 29)
(HW) Herders kleines philosophisches Wörterbuch. 1962
(HW) Harald Welzer: Selbst denken. S.Fischer Verlag, 2013
(IK) Immanuel Kant: Die drei Kritiken. Kröner-Verlag 1956)
(JG) James Gleick: Die Information. Redline, 2011
(MKL) Meyers Kleines Lexikon der Philosophie. Meyers Lexikonverlag, 1987
(PZ) p.G. Zimbado: Psychologie. Springer-Verlag, 1983
(SB) Sandra Bensch in: Trau´dich zu wissen. CNE.magazin – Certified Nursing Education. Thieme 1.2019
(SK) Sabine Kaufmann: Verschwörungstheorien. In: https://www.planet-wissen.de/gesellschaft/psychologie/verschwoerungstheorien/index.html
(SS) Schönpflug/Schönpflug: Psychologie. Urban & Schwarzenberg, 83
(TM) Tania Martini: Die Königin der Chuzpe. In der TAZ 9./10.5.2020
(WS) Werner Stangl, 2020 in https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PSYCHOTHERAPIE/Persoenliche-Konstrukte-Kelly.shtml