Wird Covid-19 die Welt verändern?
Gedanken zu Beginn der Pandemie über die Lage nach ihrem Ende

Bild von mohamed Hassan auf Pixabay https://pixabay.com/de/photos/virus-schutz-coronavirus-frau-4931227/
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Die Covid-19-Krise ist ein Lehrstück über menschliche Beziehungen, den Umgang mit der Klimakrise und unser Gesundheits- und Wirtschaftssystem.

Vielleicht ist das Überraschendste an der derzeitigen Pandemie, die laut ‚Ärzte ohne Grenzen‘ bereits über 100 Länder erreicht hat, dass sie nicht schon viel früher passierte – durch welchen Erreger auch immer. Schon seit mindestens 30 Jahren hat die neoliberal gesteuerte Globalisierung die Bedingungen dafür geschaffen, Krankheitserreger über den ganzen Globus zu verbreiten.

Ich will mich weder denen in Deutschland anschließen, die die Covid-19-Krise bereits als Katastrophe empfinden, noch denen, die mutig erwarten, dass ihr Ende auf jeden Fall in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft eine Wende zum Guten einleiten wird. Es wäre klug, die Chancen und Risiken realistisch zu betrachten und daraus Schritte zum Handeln abzuleiten.

Covid-19? Glück gehabt!

Als ein Ergebnis der Pandemie wird den Meisten heute bereits klar sein, dass sie nicht die letzte gewesen sein dürfte. Dabei haben wir trotz der schwerwiegenden Folgen Glück gehabt. Hätte sich nicht das verhältnismäßig ‚harmlose‘ Covid-19 aus China verbreitet, sondern das Ebola-Virus aus Afrika, wären die Konsequenzen im unvorbereiteten Europa völlig anders gewesen. Nach den furchtbaren Ebola-Epidemien 2014-2016 und 2018-2020 gibt es seit 2016 zwar einen recht wirksamen vorbeugenden Impfstoff, aber noch kein zugelassenes Behandlungsmittel für Infizierte. Die Todesrate bei Infizierten lag laut der Weltgesundheitsorganisation bei bis zu 90, im Durchschnitt bei 50%. Wie lange hätte es gedauert, bis entdeckt worden wäre, dass Reisende, die aus Afrika zurückkommen, das Virus verbreitet hätten, und wie lange, bis Impfstoffe für hunderte von Millionen Europäern zur Verfügung gestanden hätten und angewendet worden wären?

Wenn wir die Covid-19-Pandemie also als heilsame Überraschung begreifen, drängen sich Fragen danach auf, was wir daraus lernen.

Werden menschliche Beziehungen enger und zugewandter?

Werden nach dem Ende der strikten Ausgangsbeschränkungen vor allem die Zahl der Schwangerschaften zugenommen haben oder die der Trennungen und Scheidungen? Das auf allen Sendern verbreitete „Wir stehen zusammen“, „Niemand wird im Stich gelassen“ und „You never walk alone“ will nicht recht überzeugen, Regierungen werden an ihren Taten gemessen werden.

Bild von Shutterbug75 auf Pixabay https://pixabay.com/de/photos/stimme-vereinbarung-asiatische-1238964/
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Einerseits entsteht sicher ein Gemeinschaftsgefühl zwischen Menschen, die Kranken die Medikamente nach Hause bringen, vielleicht sogar Freundschaften zwischen jungen Leuten von ‚Fridays for Future‘ und Alten, die von ihnen mit Lebensmitteln versorgt werden oder zwischen Nachbarn, die auf den Balkonen gemeinsam dem Gesundheitspersonal applaudieren oder Musik machen. Da gibt es viel Wärme und Zusammenhalt. Andererseits drückt das „Ich zuerst“ der Hamsterkäufer*innen nicht gerade Gemeinschaftssinn und Rücksichtnahme auf Andere aus.

Wenn sich die Annahme bestätigt, dass unter den Bedingungen von engen städtischen Wohnungen ohne Garten und Balkon die körperliche und psychische Gewalt gegen Frauen und Kinder deutlich zunehmen wird, könnte dies zumindest eine positive Auswirkung haben: Die Mittelstreichungen für Jugendhilfe und psychosoziale Betreuung könnten gestoppt werden und die Frauenhäuser in Deutschland könnten endlich mit ausreichenden finanziellen Mitteln rechnen. Ob das geschieht, wird von uns, der Gesellschaft, abhängen.

Es wird hoffentlich nicht Wenige geben, die die unerwartete Ruhe zu schätzen wissen und für Entspannung nutzen, die es genießen, für ein paar Wochen aus dem Hamsterrad auszusteigen, die spüren, dass man auch ohne den täglichen Konsum ganz gut lebt, die den ewigen „Zwang zum Wachstum“ infrage stellen, sie sich fragen, ob die Ökonomisierung all unserer Lebensbereiche Sinn macht. Ob dies aber unsere Haltung zum Leben und zum Arbeiten auf Dauer infrage stellt, hängt von mehreren Faktoren ab, u. a. davon, wie lange die Ausgangsbeschränkungen anhalten und mit welchen finanziellen Konsequenzen sie verbunden sind.

Bild von Sathish kumar Periyasamy auf Pixabay https://pixabay.com/de/photos/schutzengel-arzt-gesundheit-engel-2704181/
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Plötzlich werden Kassierer*innen im Supermarkt, Krankenschwestern und -pfleger, Altenpfleger*innen und Beschäftigte in der Logistik anerkennend als „systemrelevant“ bezeichnet. Schön, das bietet ihnen eine Chance, dass sie in Zukunft auch „systemrelevant“ bezahlt und ihre Arbeitsbedingungen verbessert werden. Viele Beschäftigte werden jetzt merken, wozu sie Gewerkschaften brauchen, wenn diese, wie die IG Metall z. B., eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes durch die Unternehmen und zusätzliche bezahlte freie Tage für Kinderbetreuung durchsetzen.

In Zukunft könnte bei vielen Menschen das Vertrauen in recherchierte Fakten, Argumente und Wissenschaft wieder wachsen, wenn sich die ungezählten Falschmeldungen und Spekulationen, mit denen verantwortungslose Wichtigtuer, Gutgläubige und Erregte über soziale Medien Verwirrung und Panik schüren, immer wieder als heiße Luft entpuppen.

Lehrstück für den Umgang mit der Klimakrise?

Man staunt, wie Regierungen in kürzester Zeit nie gekannte, weitreichende Maßnahmen beschließen und umsetzen – wenn auch in China, Italien, USA, Italien und anderswo mit wochenlanger Verzögerung. Der die ganze Menschheit bedrohende Klimawandel hat keinerlei vergleichbare Regierungsaktivität hervorgerufen.

Bild von Hermann Traub auf Pixabay https://pixabay.com/de/photos/hochwasser-schild-untergang-wasser-392707/
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Bis heute haben 25 Weltklimakonferenzen nichts daran geändert, dass Wirtschaftsinteressen Vorrang haben vor der Bewohnbarkeit unseres Planeten. Unvorstellbare Summen werden zur Zeit mobilisiert, um die Folgen der Covid-19-Epidemie abzufedern – während bisher nichts Vergleichbares für die Klimakrise zur Verfügung stand, weil „die Folgen für die Wirtschaft“ angeblich zu einschneidend gewesen wären, weil die sog. Schuldenbremse dies leider unmöglich machte, wegen der 20.000 Arbeitsplätze im Braunkohletagebau, usw., usf. Was also wird in Bezug auf den Klimawandel geschehen, wenn wir die Pandemie hinter uns haben? Entweder hat die Gesellschaft das „geht doch“ gelernt und verlangt zwingend, dass jetzt endlich auch ernsthaft in der Klimakrise gehandelt wird. Oder Millionen Kurzarbeiter, Arbeitslose, kleine Unternehmer und Selbständige sind froh, dass jetzt erst mal wieder der Rubel rollt und lehnen sich aufatmend zurück. Ist es wahrscheinlich, dass die Bundesregierung von selbst und entgegen ihrer bisherigen verantwortungslos zögerlichen Haltung, die nicht einmal die eigenen Ziele einhält, eine tatkräftige Wende einleitet im Kampf gegen den Klimawandel? Ich fürchte, ohne entschiedenen Druck aus der Gesellschaft wird die Antwort „Nein“ lauten. Im

„Interesse der Wirtschaft“ wird der Finanzminister wahrscheinlich sagen, dass man sich nach den hohen Ausgaben wegen der Covid-19-Epedemie weitere Ausgaben leider nicht leisten könne – obwohl er wegen der sog. Minus-Zinsen noch Geld herausbekommt, wenn er Schulden aufnimmt.

Gesundheitssysteme nicht mehr auf Gewinn und Verlust gebürstet?

Man darf vermuten, dass sich die neoliberale Gesundheitspolitik nicht wie bisher ungebremst fortsetzen wird. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, die nur an Kosten und Einnahmen gemessen wurde, die zu Schließungen und Privatisierung von Krankenhäusern führte, die den drängendem Personalmangel in den Pflegestationen verursachte, die erlaubte und förderte, dass Privatunternehmen an Gesundheit von Menschen Geld verdienen, ist für alle sichtbar an ihre Grenzen gestoßen – nicht nur in Deutschland, sondern in allen EU-Ländern und den Ländern der Südhalbkugel, wo sog. „Strukturanpassungsprogramme“ des Internationalen Währungsfonds die Regierungen zwingen, in rücksichtsloser Weise an der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung zu sparen.

Wenn Menschen sterben, weil es nicht genügend Versorgung für den Notfall gibt, muss sich etwas ändern. Wenn es unter Normalbedingungen schon zu lange dauert,

Bild von freestocks-photos auf Pixabay https://pixabay.com/de/photos/menschen-stadt-menge-gruppe-linie-2943111/
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bis man Behandlungstermine bekommt, brauchen wir mehr Ärzte und Pflegepersonal, ausreichend Krankenhausbetten und Vorratshaltung an notwendigen Medikamenten und Ausrüstung. Dafür muss das notwendige Geld zur Verfügung stehen. Da es aus der großen Zahl der Geringverdiener ebenso wenig herauszupressen ist wie aus den steuerlich hochbelasteten Menschen mit mittlerem Einkommen, bietet sich die Chance, die Steuerflucht und -vermeidung der großen Unternehmen, der Reichen und der Superreichen endlich ernsthaft auf die Tagesordnung zu setzen. Die Bundesregierung stand dabei bisher auf der Bremse, wir aber müssen verlangen, jetzt endlich die notwendigen Schritte gegen Steuerbetrug, Steuerparadiese und alle anderen Steuertricks zu unternehmen.

Von einer demokratisch gewählten Regierung darf erwartet werden, dass sie nicht länger tatenlos zusieht, wenn Pharmaunternehmen zum Zwecke der Gewinnmaximierung Medikamente und andere lebenswichtige Güter unter fragwürdigen Produktionsbedingungen in Billiglohnländern herstellen lassen, Güter, die dann wg „alternativloser Sachzwänge“ nicht zur Verfügung stehen, wenn sie gebraucht werden.

Der „freie Markt“ wird es schon richten?

Wir werden vermutlich nicht erleben, dass die Wirtschaftsliberalen ihren Glaubenssatz aufgeben, aber viele Menschen werden den sog. „freien Markt“ in Zukunft kritischer sehen. Zur Zeit ist niemand in Sicht, der gutheißen würde, wenn der Staat den Ausgang der Krise einfach dem Markt überließe. Natürlich ist es gut und richtig, dass kleinen Unternehmen und Selbständigen mit Steuergeldern unter die Arme gegriffen wird.

Wie steht es um die Millionen Kurzarbeiter und Arbeitslosen, mit denen die Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen? Soweit ersichtlich, beschließt die Bundesregierung Maßnahmen, die Zahlungsverpflichtungen wie Miete und Kredite immerhin aufschieben können. Aber unter dem Strich wird es dabei bleiben, dass die meisten, die kein Kapital besitzen außer ihrer Arbeitskraft, mit 60% – 67% ihres bisherigen Einkommens auskommen müssen. Die Preise dagegen sinken nicht und die Rechnungen warten.

Bild von Pete Linforth auf Pixabay https://pixabay.com/de/photos/geschäftsfrau-geschäft-professional-4295619/
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Und die mittelgroßen bis großen Unternehmen? Vermutlich darf man davon ausgehen, dass sich die Erfahrungen aus der Banken- und Finanzkrise 2007-2010 wiederholen werden. Damals haben die Banken ihre horrenden Schulden an den Staat weitergereicht. Das nannte man dann Bankenrettung und Staatsverschuldung, für die den Steuerzahlern Sparprogramme aufgebürdet wurden. Solange alles gut läuft, stecken große Unternehmen ihre Gewinne – die durchaus € 1.000 Millionen im Monat ausmachen können – in die eigene Tasche, bzw. in die ihrer Aktionäre. In Krisenzeiten wird der Staat dann schon mal Miteigentümer an Unternehmen und zieht sich wieder zurück, wenn die Gewinne sprudeln. Ich zweifle nicht, dass die Lobbyisten derjenigen, die schon mehr als genug besitzen, dafür sorgen werden, dass nach der Krise alles wieder so sein wird wie zuvor. Wir haben alle einmal gelernt, dass der Unternehmer mehr verdienen müsse als seine Beschäftigten, denn er trage ja das „unternehmerische Risiko“. Gilt das auch für große Unternehmen, wenn die Steuerzahler sie im Notfall durch die Krise tragen, wenn große Energiekonzerne wie kürzlich mit Milliarden entschädigt werden für „entgangene Gewinnerwartungen“? Müsste man nicht verlangen dürfen, dass Kapitaleigentümer auch ihre privaten Immobilien beleihen oder verkaufen, dass große Aktienbesitzer jetzt ihre Gewinne der Vergangenheit einsetzen ohne nach dem Staat zu rufen? Wir werden sehen, wie die Hilfen des Staates am Ende verteilt worden sein werden.

Eine Chance für die Rechten?

Die AFD, das politische Bräunungsstudio Deutschlands, will planvoll und entschlossen an die Macht. Zu diesem Zweck bemühen sich AFD-Politiker, Einheimische gegen irgendwann Zugewanderte aufzuhetzen. Da bietet sich an, Abschottung zu fordern und Flüchtlinge nicht als Menschen in Not, sondern als Träger von Krankheitserregern zu bezeichnen. Wenn Menschen sich bei finanzieller Unterstützung zu kurz gekommen fühlen, werden scheinheilige Vertreter des „kleinen Mannes“ nicht versäumen zu fragen, ob Bürger mit nicht-deutschem Namen bekommen, was andere nicht haben.

Wen trifft es am härtesten?

Ein Ausblick auf die Zeit nach der Pandemie darf einen wichtigen Teil, vielleicht den wichtigsten, nicht auslassen. Wie wird Covid-19 das Schicksal der Millionen bestimmen, die in Flüchtlingslagern und den Elendsvierteln in den südlichen Ländern des Globus festsitzen?

Bild von Thomas G. auf Pixabay https://pixabay.com/de/photos/saigon-slums-asien-vietnam-53144/
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Viele sind gesundheitlich geschwächt, leben dicht gedrängt unter erbärmlichen hygienischen Verhältnissen und haben keine Chance, auch nur auf den Virus getestet zu werden. Und wenn sie getestet würden, gäbe es keine Gesundheitsversorgung, die diesen Namen verdient, geschweige denn Intensivstationen mit Beatmungsgeräten. Wenn Krankheit und Tod in den betroffenen Ländern schweigend hingenommen werden sollten, werden wir vermutlich nicht einmal davon erfahren. Es wäre jedoch auch möglich, dass es zu Panik und gewaltsamen Protesten unter denen kommt, die nichts zu verlieren haben. Aufruhr ist die Sprache derer, deren Worte nicht gehört werden, gesprochen und verstanden unter allen Völkern – und allzu oft das Einzige, was Regierungen zum Zuhören zwingt.

Wenn in diesem oder nächsten Jahr ein Impfstoff oder wirksame Behandlungsmethoden gegen das Virus gefunden sein sollten, werden die reichen Länder den armen diese Mittel kostenlos zur Verfügung stellen? Wenn die Medikamente von privaten Konzernen hergestellt werden, werden diese daran gut verdienen – warum sollte sich daran etwas ändern?

So oder so, die Pandemie wird die armen Länder wirtschaftlich auf lange Sicht noch ärmer machen. Die Rohstoffpreise sind auf breiter Front gefallen, Kapital wird abgezogen, die Wirtschaftskrise in den wohlhabenden Ländern wird sich in den armen Ländern doppelt auswirken. Sie werden Kredite brauchen, für die die Banken hohe Zinsen verlangen und die an die Bedingung geknüpft werden, noch striktere Sparprogramme bei Sozialprogrammen und in öffentlichen Diensten wie der Gesundheitsversorgung durchzusetzen. Beim Verkauf von Waffen allerdings wird es keine Probleme geben.

In den internationalen Wirtschaftsbeziehungen wird Covid-19 nichts zum Guten wenden, im Gegenteil. Wenn westliche Politiker die Ursachen für Flüchtlingsbewegungen ernsthaft bekämpfen wollen – hier haben sie erneut Gelegenheit zu handeln!

Kontakt: juergen.buxbaum[@]querzeit.org