Es werden immer öfter Berichte von Menschen veröffentlicht, die beinahe gestorben wären, also dem Tod sehr nahe waren, aber zurückgeholt wurden. Deren Erlebnisse elektrisieren. Einerseits klingt das wie der Beweis für eine andere Welt, andererseits haben wir Zweifel. Wie deuten wir das?
Das Problem
Der amerikanische Psychiater Raymund Moody war der erste, der von solchen Erlebnissen berichtete. Heute gehen derartige Berichte, gestützt auf Studien, in die 10.000e. Eine von Moodys Geschichten überraschte: Ein GI wurde getötet. Im Lazarett wurde alles getan, um den Soldat zurückzuholen. Aber seine „Seele“ schwebte bereits über dem Lazarett und wunderte sich, was da alles getan wurde und warum die nicht endlich Schluss machen. Es war doch so schön da oben. Die „Seele“ wurde, als das Lazarettteam doch Erfolg hatte, in den verwundeten Körper und die Schmerzen zurückgeholt. Der GI erzählte später haarklein, was im Lazarett medizinisch getan wurde, als ob er dabei gewesen wäre oder aber aus der Ferne alles ganz genau mitbekommen hätte. Auch später war die Angst vor dem Tod weg, weil er den Tod als ungeheuer angenehm empfand.
Erlebnisse dieser Art haben meist folgende Szenerie.
- Licht am Ende des Tunnels
- Begegnung mit einem Wesen, das als Gott empfunden wurde
- Friede und Zufriedenheit im Jenseits
- Kontakt mit schönen Menschen und schöner Umwelt
- Den Körper verlassen und im Raum schweben
Eine Diskussion wurde losgetreten. Es scheint, als ob es tatsächlich ein Jenseits gäbe. Jemand lebt nicht mehr, Wiederbelebungsversuche erscheinen erfolglos. In diesem Zustand jenseits des Lebens erlebt man Glück, auch wenn traditionelle, vor allem christliche und islamische Erwartungen, auch unglückliche Zustände in Betracht ziehen.
Dem entgegensteht eine Deutung, die nicht vom Zustand „Tod“ ausgeht, sondern vom Nahtoderleben, einem Zustand zwischen Lebendig- und Tot-sein. Die wichtigste Erklärung ist die folgende: Wenn Sauerstoffzufuhr des Gehirns aufhört, schaltet das Gehirn in eine Art Energiesparmodus. Ein „Neuronengewitter“ kann die Folge sein. Das passiert im Kleinhirn, dem Teil des Gehirns, das die Menschen in ihrer Entwicklung von den Primaten übernommen haben. Im Kleinhirn findet die Koordination der Bewegungen statt. Danach erst entwickelte sich das Großhirn. Nervenverbindungen im Kleinhirn (siehe nebenstehendes Bild) spielen verrückt. Ist das Licht am Ende des Tunnels das Licht des Jenseits oder eher eine Art Tunnelblick?
Was sagen uns solche Berichte?
Die Bilder, die da produziert werden, sind ein Nest von versteckten Erfahrungen. Keiner der Berichte, die ich gelesen habe, steht jenseits der diesseitigen Erlebnisse. Nahtoderlebnisse sind kein Foto des Jenseits. In diesem Zusammenhang kommen uns viele Fragen,
- Prägen kulturelle (inklusive religiöser) Erfahrungen die Ausgestaltung der Nahtod-Szene?
- Woher kommen die Metaphern „Licht“, „glückliches Ende“, Beziehung und „Schweben“?
- Sind die Umstände des Sterbeprozesses (Dahinsiechen bis Tod durch Unfall) vergleichbar?
Was mich beunruhigt ist folgendes:
- Fragen sind besser als Antworten
Viele Fragen haben sich uns gestellt, es gibt jedoch keine einzige Antwort, die wirklich überzeugt. Was wirklich hilft, sind die Fragen, die eine eindeutige Antwort untergraben. Deswegen schließe ich klipp und klare Dogmen aus.
Eigentlich hätte ich es wissen müssen. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich der Querzeit zuliebe die sehr linke Zeitschrift „K…“ abonniert. Sie zu lesen war ein Graus. Kaum überlegte ich, ob die Frage passte, kam schon die Antwort, felsenfest, absolut sicher, ähnlich wie das, was der Pfarrer predigt. Diskussion nicht erwünscht. Der Altpapst Benedikt XVI. schrieb vor Jahren: Auschwitz habe ihm unlösbare Glaubensfragen hinterlassen. Wie wahr! Jetzt hat der liebe Gott ihm offensichtlich den Sinn von Auschwitz zugeflüstert. Unbeantwortbare Fragen lässt er nicht mehr zu. Altersweisheit oder Altersdemenz?
Zurück zum Thema: Entweder: Nahtoderlebnisse sind Hirnprobleme („Neuronengewitter“). Oder: Sie geben Realität wieder. Dieses Entweder-oder trifft genau daneben. Warum? Realität ist nie mit Entweder-oder zu beschreiben, à la entweder sei sie dieses oder jenes. Und wenn es beides ist? Was jemand erfahren hat, ihm Sinn gibt, sein Weiterleben oder Tot-sein bedeutsam macht, ist wichtig. In einer Zeit, in der man über so etwas nicht nachdenkt, wird Nachdenken nachgeholt.
Nahtoderlebnisse sind keine Art Geographie des Jenseits, eher ein Impuls für ein Leben ohne Angst.
- Die dunkle Seite der Wissenschaftsgläubigkeit
In dem Artikel von Jan Schwenkenbecher „Am Ende Licht“ (Süddeutsche Zeitung vom 2./3.11. 2019) las ich einen wichtigen Satz:
Eines der wichtigsten Gesetze der Wissenschaft lautet: Etwas gilt als bewiesen, wenn es zu jeder Zeit nachgestellt werden kann und die gleichen Ergebnisse produziert. Genau das ist aber in der Frage „Nahtod“ nicht möglich. Höchstens als Witz: BILD sprach zuerst mit dem Toten.
Aber im Ernst. Das Aufregendste ist die Wahrnehmungsfähigkeit bei Menschen, die als tot gelten. Etwa bei dem GI von Moody und vielen anderen wird sehr genau berichtet, was bei der Reanimation vorgenommen wurde. Das Reanimationsteam berichtete deren Schritte genau – richtig, sie sind aber genau festgelegt. Also ist der Bericht des Teams nicht aufregend. Die Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen ist größer, als die Gehirnfunktion erlaubt.
Vorsicht mit der Wissenschaftsgläubigkeit. John C. Eccles und K. Popper regten mit ihrem Buch „Das Ich und sein Gehirn“ die Wissenschaftswelt auf. Hat das Ich ein Gehirn und besteht es nur aus dem Kopf und was darin ist? Woher kommt die Einzigartigkeit des Kopfes und seines Gehirns? Ist das Ich im Kopf? Mich hat das nicht überzeugt.
- Wissen contra Glauben?
Seit dem 19. Jahrhundert wurden Glaube und Wissen Gegensätze. Wenn ich die Zeitung gelesen habe, sage ich vielleicht zu meiner Frau: Ich glaube, Trump schafft die Wahl nicht. Sie zurück: Wer weiß? Das ist doch Kaffeesatzleserei.
Und jetzt kommt der Philosoph. Wir sind heute sicher, dass Wissen und Glauben zwei unterschiedliche Arten des Begreifens sind. Glauben, so scheint es, geht in Richtung Mystik, Wissen basiert auf Tatsachen. O.K. Wohin tendiert dann der Nahtod?
Bleiben wir bei der Realität des Nahtods: Je professioneller die Medizin wird, desto mehr klaffen Wissen und Glauben auseinander. Vergleichen wir das mit einem Fernsehgerät: Es zu zerlegen, weil man darin Marietta Slomka (Heute Journal im ZDF) entdecken will, ist Unsinn. So beim Nahtod und dem Neuronengewitter.
Fait für die Praxis: Kein Entweder-oder. Nahtoderlebnisse darf man nicht unter Wissen (inklusive Wissenschaft) oder Gauben (bzw. Mystik) abbuchen, sie sind beides.
- Was wir suchen …
Wir suchen etwas anderes als Wissenschaft und ihre Analysen. Leider kann ich nicht beweisen, wie das mit dem Nahtod früher war. Tod war seit dem hohen Mittelalter ein vielfach belegtes Problem, aber vom Nahtod habe ich nie etwas gelesen. Wenn es heute ca.12.000 Berichte gibt, suchen wir etwas. Aber was?
- Der Zustand nach dem Tod ist Glaubenssache. Wenn man Nahtodberichte liest, kann man davon überzeugt sein, ohne zu glauben? Eher nicht. Mich überzeugen sie nicht, aber sie machen mich hellhörig.
- Nahtod als Hoffnungsträger? Der Nahtod stärkt mir die Hoffnung, dass Angst verschwindet. Dazu braucht man keine Beweise.
- Beziehung spielt mit. Entsetzen dessen, den man liebt, über die Todesnachricht, oder – ganz allgemein – der Frieden zwischen dem, der gestorben ist, und denen, mit denen man zusammen ist, erzeugen Ruhe.
- Kultur prägt die Szene. Metaphern wie „Licht“, „grüne Wiese“, „der gütige Gott“ und „Zufriedenheit“ (= Seelenfrieden) stammen aus uns bekannten Kulturen.
Nahtoderlebnisse beweisen nichts, aber sie weisen auf etwas hin: darauf nämlich, dass wir viel zu wenig über das nachdenken, was uns zu denken gibt. Auf das, was unser Leben und unser Ende bedeutsam macht.
Danke für die medizinische Kontrolle des Aufsatzes durch Dr. Lukas Westermann.