Freistaat Christiania
Mehr Bunt geht nicht

Der Freistaat Christiania in Kopenhagen … für die einen ein rotes Tuch, für die anderen ein Sehnsuchtsort. Ein (Erfahrungs-) Bericht über eine gelebte, aber fragile Utopie im Staate Dänemark.

 

Fruchtbarer Boden

Eingang nach Christiania (Foto Arnold Illhardt)
Eingang nach Christiania (Foto Arnold Illhardt)

Es muss Ende der 70er Jahre gewesen sein, als ich das erste Mal vom Freistaat Christiania in Kopenhagen hörte. Mund-zu-Mund-Propaganda: Jemand hatte von jemand gehört, der einen kennt, der dort schon mal war. Heute würde man augenblicklich seine google-App im Smartphone bemühen, um erste Recherchen zu betreiben. Damals fuhr ich nach Münster, um im einschlägigen linken Buchladen meines Vertrauens fündig zu werden. Das Buch verschlang ich, war fasziniert von der Idee eines Freistaates und gelobte mir selbst, irgendwann zu meinem Sehnsuchtsort Christiania zu reisen. Die Einlösung sollte gut 40 Jahre dauern.

In einem der zahlreichen Dokumentarfilme über den Freistaat Christiania ist die Rede davon, dass die ersten Bewohner die Nase voll von der Welt der „faschistischen Erwachsenen“ hatten und nach einem Gegenentwurf gierten. Mir ging es damals nicht anders: Die Welt, in der ich heranwuchs, war eine einzige langweilige Einbahnstraße. Es war immer die Rede von Geist und Körper als wichtige Elemente für ein erfülltes Leben. Doch wo waren Fantasie und Visionen? Mark Edwards (1), ein Kenner der fragilen Utopie Christiania schrieb in seinem Buch über den bunten Stadtteil: „Christiania unterscheidet sich von allen anderen Gemeinschaften, die ich kenne, weil die Menschen, die dort leben, keiner besonderen Lehre oder Religion folgen. Christiania entwickelte sich ohne eine Ideologie.“

Graffiti in Christiania (Foto Arnold Illhardt)
Graffiti in Christiania (Foto Arnold Illhardt)

Noch neulich, als ich einem alten Freund von meinem Besuch im Freistaat in Dänemark erzählte, erinnerte er mich an meine Vision als junger Mann, in den damals noch militarisierten Münsteraner Kasernen eine Art Christiania zu gründen. Er hatte an meinen Vorsatz wenigstens ansatzweise geglaubt, doch blieben meine Gründerqualitäten ungenutzt. Die Idee verließ mich allerdings nie. Christiania ist für mich ein Sehnsuchtsort geblieben. Bis heute. Mich begeisterten die Plätze in meiner Nähe, in denen es Ansätze für ein freiheitliches Leben gab oder immer noch gibt, ich reiste nach Monte Verità bei Ascona, um die Geschichte der damaligen Aussteiger auf dem Berg der Wahrheit zu studieren und ließ mich durch die Künstlerkolonie Worpswede oder Bloomsbury Group (Südengland) inspirieren. In den großen europäischen Städten, die ich besuchte, waren es immer die kreativen, alternativen und andersartigen Stadtteile, die mich fesselten und inspirierten. Eine Fußgängerzone in einer x-beliebigen Stadt ist vor allem eins: Symbol für menschliche Tristesse.

 

Recherchen

Häuserzeile in Christiania (Foto Arnold Illhardt)
Häuserzeile in Christiania (Foto Arnold Illhardt)

Christiania? Nie gehört! Das ist die Antwort der meisten Zeitgenossen, mit denen ich über meine Erfahrungen mit der dänischen Micronation gesprochen habe. Bei denen, für die die „Stadt in der Stadt“ ein Begriff ist, gibt es genau zwei Lager: Die Befürworter und die Gegner, wobei letztere noch zu unterteilen wären in Unwissende, Skeptiker und Hardcoregegner. Und damit ist im Grunde bereits das ganze Phänomen Christianias umschrieben: Ein bis heute andauernder Konflikt zwischen diesen Gruppen. Die Geschichte der Freetown ist zwar komplex, doch trotzdem schnell erzählt.

 

1971 wurde ein ca. 34 ha großes, leerstehendes Kasernengelände in Kopenhagen von Menschen besetzt, die hier ein großes Experiment des Zusammenlebens wagen wollten. Das Kriegsministerium hatte keine Idee für eine weitere Verwendung, da das Gelände aufgrund des rasanten Wachstums der dänischen Hauptstadt plötzlich mittendrin lag. Dass ein ehemaliger Verteidigungsminister später zum Fürsprecher der neuen Bewohner wurde, ist nur eine der vielen Kapriolen, die im Zusammenhang mit dem Ministaat zu berichten sind.

Natürlich war die Besetzung illegal, weswegen man versuchte, mit Polizeigewalt die Christianiter zu verjagen. Nur dumm, dass es in Kopenhagen viele Fürsprecher gab, die diese Großkommune so unsympathisch doch nicht fanden, schließlich kümmerte man sich dort um vom Leben geschasste Menschen, um all die sozialen Verlierer, die vom Staate selbst mit nicht sonderlich viel Fürsorge bedacht wurden. Und auch die Anwohner arrangierten sich mit dem bunten Völkchen – vorerst.

Streetart in Christiania (Foto Arnold Illhardt)
Streetart in Christiania (Foto Arnold Illhardt)

Immer mehr Künstler, Hippies, Aussteiger und Querdenker landeten in Christiania. Es entstanden Häuser mit einer phantasievollen Architektur, Cafés, Werkstätten, Läden, ein Schwulenhaus, sowie große Räume für Veranstaltungen oder aber die zahlreichen Versammlungen, in denen im Sinne einer absoluten Demokratie Entscheidungen in endlosen Diskussionen getroffen wurden und immer noch werden. Einen Bürgermeister gibt es nicht, eh sinnfreie Parteien auch nicht, alle sind Abgeordnete; Läden oder Fabriken haben keinen Chef, sondern werden grundsätzlich im Kollektiv geführt, es gibt sogar einen Nationalfeiertag und alles Geld wird zusammengelegt, um so das Privateigentum abzuschaffen. Auch eine Polizei ist für die Belange der Bewohner selbst nicht notwendig; man regelt Probleme selbst. Die „größte Bühne Dänemarks“ wurde zu einem Traum und Vorbild einer ganzen Generation, heißt es in einem Filmbeitrag. Ich zweifele allerdings an dem Wort „ganzen“.

Der Gedanke hinter Christiania gilt als anarchistisch und es wird gerne ausgeblendet, dass Anarchie erst einmal nichts anderes bedeutet, als Ordnung ohne Macht. Also kein Chaos, wie libertäre Prozesse immer wieder assoziiert werden? „In jeder Organisation, ob groß oder klein, muss eine gewisse Ordnung und Klarheit herrschen. Wenn die Dinge in Unordnung geraten, lässt sich nichts erreichen. Doch ist Ordnung als solche statisch und unbelebt, also sind viel Bewegungsfreiheit sowie Möglichkeiten nötig, die einmal errichtete Ordnung zu durchbrechen, das nie Getane, von den Hütern der Ordnung nie Geahnte zu tun und auf diese Weise etwas Neues, Unvorhergesehenes und Unvorhersehbares, etwas Schöpferisches zu tun.“

Straßenzeile in Christiania (Foto Arnold Illhardt)
Straßenzeile in Christiania (Foto Arnold Illhardt)

Und das soll funktionieren, fragen erregt bis erbost die Gegner, die sich gar nicht vorstellen möchten, dass es funktionieren könnte. Gesellschaftliche Prozesse, egal ob im Kleinen oder im Großen, funktionieren immer nach einer bestimmten Prämisse: Es gibt die, die Macht ausüben wollen, und diejenigen, die sie vermeintlich brauchen oder ertragen müssen. Je konservativer eine Partei oder die Denkrichtung von Gruppierungen oder Einzelnen, desto mehr spielt die Ausübung, Akzeptanz oder gar Verherrlichung von Macht eine Rolle. Es ist somit nicht verwunderlich, dass das machtfreie und damit anarchistische Leben im Freistaat Christiania unter dem Wahlspruch „Frieden, Liebe und Harmonie“ vor allem den Rechten (und davon gibt es viele im Staate Dänemark) ein Dorn im Auge ist. Würde Anarchie funktionieren, wäre ihr ganzes Weltbild auf den Kopf gestellt. Die Konservativen und Rechten wollten „Normalisierung“ – gleichförmige Menschen statt Vielfalt. Der Stadtstaat sollte kein Symbol für Toleranz und Offenheit werden. Die kognitive Einfältigkeit mancher Zeitgenossen ist unermesslich!

Skulpturenpark in Christiania (Foto Arnold Illhardt)
Skulpturenpark in Christiania (Foto Arnold Illhardt)

Der Journalist und Provokateur Jacob Ludvigsen beschrieb in einem Leitbild die Idee, die hinter Christiania steckt, folgendermaßen: „Das Ziel von Christiania ist das Erschaffen einer selbst-regierenden Gesellschaft, in der alle und jeder für sich für das Wohlergehen der gesamten Gemeinschaft verantwortlich ist. Unsere Gesellschaft soll ökonomisch selbsttragend sein, und als solche ist es unser Bestreben, unerschütterlich in unserer Überzeugung zu sein, dass psychologische und physische Armut verhindert werden kann.“ (Wikipedia)

Christiania lässt sich auf zwei Gruppierungen reduzieren: Diejenigen, die dort nach eigenen, im Grunde recht simplen Regeln z.B. keine Gewalt, leben wollen und dies auch erfolgreich praktizieren und diejenigen, die diese Lebensform ausnutzen, stören oder gar zerstören. So wie bei den G20-

Farbpracht in Christiania (Foto Arnold Illhardt)
Farbpracht in Christiania (Foto Arnold Illhardt)

Demonstrationen in Hamburg: Nicht die 76.000 Demonstranten, von denen der überwiegende Teil friedlich demonstrierte, sind wichtig, sondern das Aktionsbündnis Staat-Bürger-Machthaber-Polizei stürzt sich mit aggressiver Vehemenz gegen eine Alternativmeinung. Auch hier waren die Störer letztendlich willkommen! Auch in Christiania musste und muss man bis heute Gewalterfahrungen machen: Es gab eine gewaltbereite Rockerbande, die in ihrer ihnen eigenen Stumpfsinnigkeit durch Gewalttätigkeit glänzte und sogar vor Morden nicht zurückschreckte und es gab und gibt die Drogenszene. Da in Christiania der Konsum von Haschisch etc. legal war, siedelten sich hier immer mehr Händler an, die auch mit härteren Drogen dealten. Mord und Totschlag waren vorprogrammiert. Und genau das war ein gefundenes Fressen für die Kopenhagener und dänische Regierung: Christiania wurde auf diese Aspekte reduziert und immer wieder standen drohende Schließungen und damit verbunden Polizeieinsätze und Straßenschlachten auf der Tagesordnung.

 

Platz in Christiania (Foto Arnold Illhardt)
Platz in Christiania (Foto Arnold Illhardt)

Es fanden riesige Protestmärsche in Kopenhagen statt, mit denen gegen eine Schließung widersprochen wurde. Auch darüber hinaus gab es zahlreiche politische Aktionen, mit denen die Christianenser ihr gesellschaftspolitisches Denken nach außen tragen wollten. Sehr schön ein Happening von Hunderten Weihnachtsmännern, die durch kleine Aktionen darauf aufmerksam machen wollten, dass Weihnachten von Kapitalisten gestohlen worden war. Dass die Weihnachtsmänner von der Polizei zum Teil verhaftet wurden, wird bei vielen Kindern sicherlich nachhaltige Reaktionen ausgelöst haben! In einer in Dänemark sehr populären Fernsehsendung wurde eine Bürgerfamilie interviewt, die sich sehr negativ gegen das alternative Leben im Freistaat aussprach. Die Einstellung veränderte sich, als man diese Familie einlud, eine Weile mit den Bewohnern zusammenzuleben. Die anfängliche Ablehnung und Skepsis wandelte sich in Sympathie: Man tanzte und feierte zusammen und man begann zu verstehen, warum sich viele dort so wohl fühlten. Die Reportage über diese Erfahrung wurde auch im Fernsehen ausgestrahlt, was zum Umdenken bei vielen Skeptikern und Gegnern führte.

Haus in Christiania (Foto Arnold Illhardt)
Haus in Christiania (Foto Arnold Illhardt)

Der dänische Machtapparat ließ natürlich nicht locker. Immer wieder wurden Räumungsklagen ausgesprochen und auch sonst alle Register gezogen, die ein Staat so drauf hat, um Menschen einzuschüchtern. Die Christianienser zogen sich zurück, schlossen ihr Areal für eine Weile, um in Ruhe nachdenken und debattieren zu können. Die Schließung der „Grenzen“ fanden selbst konservative Politiker wiederum fies, weil so die zahlreichen Touristen ausblieben, die sich aus wirklichem Interesse oder aber als Voyeure für das bunte und so gänzlich andere Leben interessierten. Die inzwischen gut 600 Bewohner beschlossen, den Stadtteil zu kaufen, was dann auch geschah und u.a. über Volksaktien finanziert wird. Und hier kommen jetzt endlich auch die Miesepeter, Polstermöbelradikale und Gelegenheitslinke in den Genuss, ihren Senf abzugeben. Verrat! Kommerzialisierung! Kapitalismus! Es ist immer wichtig, einen Stein des Anstoßes zu haben, um die eigenen Fehler nicht sehen zu müssen.

 

Ein Erfahrungsbericht

Olinda Marinho E Campos (Foto Arnold Illhardt)
Olinda Marinho E Campos (Foto Arnold Illhardt)

Zeit meines Lebens war ich auf der Suche nach anderen gesellschaftlichen Formen des Zusammenlebens, nach einem „Stück Gegenwelt zur phantasielosen Reihenhauskultur, zum starren von-neun-bis fünf-Arbeitsalltag“ (1). Und so neige ich daher möglicherweise zu Idealisierungen, was mein Denken über Christiana anbetrifft. Warum also nicht jemanden fragen, der oder die im Freistaat tatsächlich eine Weile gelebt hat? In einem beiläufigen Gespräch mit Olinda Marinho E Campos, die als Klinikclownin in der gleichen Klinik arbeitet wie ich, erzählte mir die passionierte Weltenbummlerin, dass sie 2006 für etwas mehr als ein halbes Jahr im Freistaat Christiania gelebt habe. Also besuchte ich Olinda, die mit ihrer Familie auf dem Land in der Nähe von Billerbeck wohnt, um sie zu interviewen.

Ihre Augen glänzen bei manchen Erinnerungen an die Zeit in dem bunten Stadtteil Kopenhagens, allerdings weiß auch sie von dunklen Seiten zu berichten. „Eigentlich wollte ich mit meiner kleinen Tochter für zwei Jahre dort in einem der Häuser, einem ehemaligen Kasernengebäude, wohnen, weil sich ein Freund auf Weltreise begeben hatte. Leider mussten wir schon nach etwas über einem halben Jahr Hals über Kopf in einer Nacht-und-Nebel-Aktion flüchten, da dubiose Menschen aus dem Drogenmilieu die dortigen Bewohner bedrohten. Das war gar kein Spaß!“ Schon viel früher hatte sie von diesem alternativen Lebenskonzept gehört und so wuchs in ihr nach und nach der große Wunsch, dies auszuprobieren. Es sei nicht ganz einfach gewesen, dort einziehen zu können, erinnert sich Olinda, da der Wohnraum mehr als begrenzt sei und somit für Neue kaum Platz war. „Es war zum Schluss ein durchaus geschlossener, exquisiter Kreis“, bedauert die heute 39jährige. „Es ist wie auf dem Dorf, wo Neuankömmlinge skeptisch beäugt werden – in Holland sagt man, wie die Katze aus´m Baum -, doch irgendwann verschnellt sich der Prozess und dann wurden wir schlussendlich doch mit offenen Armen empfangen. Man merkt einfach, dass es Leute sind, die der Welt und den Menschen gegenüber sehr offen sind.“

Bürgerkarte von Christiania (Foto Arnold Illhardt)
Bürgerkarte von Christiania (Foto Arnold Illhardt)

Drogen seien immer schon ein großes Thema gewesen, erinnert sich Olinda, das den Bewohnern selbst sehr „auf den Senkel gehe“. Sie habe oft einen großen Bogen um die hoch aggressiven und gewaltbereiten Dealer gemacht, um dieser Szene aus dem Weg zu gehen. Dass dadurch der Rest von Christiana in Misskredit gerate, bedauert sie und genauso den Vorwurf der Kopenhagener, die Bewohner des Freistaates bezahlten keine Steuern, was durchaus nicht der Fall sei und heute gar keine Rolle mehr spiele.

Da das Konzept vorsieht, dass sich jeder an öffentlichen Aufgaben beteiligt, habe sie sich im Kulturbereich engagiert. Es lebten dort aber durchaus auch Menschen, die ausschließlich als egoistische Nutznießer existierten und sich an dem Gemeinschaftsleben nicht beteiligten. Auf meine Frage, ob sie sich dort durch die z.T. anstrengenden Gruppenprozesse in irgendeiner Weise reglementiert gefühlt habe, antwortet Olinda: „Es war ein freies Miteinanderleben. Ich habe mich hier in keiner Weise reglementiert gefühlt. Wichtig war es, sie einzubringen und seinen Teil für die Gemeinschaft beizutragen. Jeder macht, was er kann und was er möchte. Man begegnete hier einer unglaublichen Offenheit und Freiheit.“ Die Interviewte denkt, dass ihre Tochter, damals noch ein Kleinkind, von dieser Atmosphäre positiv beeinflusst wurde, da sie diese zwischenmenschlichen Erfahrungen in ihrer weiteren Entwicklung beherzigt habe.

Fensteridylle Christiania (Foto Arnold Illhardt)
Fensteridylle Christiania (Foto Arnold Illhardt)

In weniger schöner Erinnerung habe sie das endlose Palavern im Plenum behalten. „Ich fand es enttäuschend, dass man sich in den vielen Gespräch z.B. im Plenum irgendwann verlieren konnte. Es war ernüchternd, dass man über Dinge diskutierte, die irgendwann veraltet waren. Aber man war nicht zu einer Lösung gekommen.“ Auch die ewigen Polizeikontrollen und -einätze, die z.T. mit großer Aggressivität seitens der uniformierten Ordnungshüter durchgeführt wurden, empfand sie als sehr bedrückend und beengend.

Olinda Marinho E Campos nahm auch an verschiedenen politischen Aktionen teil, um die Akzeptanz und Daseinsberechtigung zu sichern. So erinnert sie sich an friedliche Proteste für den Erhalt eines Jugendzentrums. „Wir sind singend durch Kopenhagen gezogen und auf einem Trecker spielte eine Band. So muss das wohl auch in den siebziger Jahren gewesen sein“, lachte die überaus sympatische Interviewpartnerin.

Olinda hält das Experiment Christiana durchaus für geglückt. „Jeder darf hier sein, wie er ist. Die Menschen sind sie selber, dennoch kommen auch die klassischen Sachen wie Neid oder Gier hin und wieder nach oben. Alles hat eine Berechtigung zu sein.“ Das Besondere in der Stadt ohne eigene Polizei und öffentliche Verwaltung sei für sie die Erfahrung gewesen, dass so viele verschiedene Menschen zusammen sind und dass es doch funktioniert hat. Sie erzählt von einem Haus der Grönländer, wo viele Menschen lebten, die ständig betrunken waren. Trotzdem waren sie in ihrer Art sehr hilfsbereit und lieb zu Olinda´s Tochter. Im Winter gab es eine Aktion „Weihnachten für die Weihnachtslosen“, zu der man die Kopenhagener Obdachlosen einlud und bekochte.

Natürlich kritisiert man Christiania, wo man nur kann, bestätigt sie meinen Eindruck, aber es ist auch anmaßend, sich über die Fehler und Mängel eines freiheitlichen Systems lustig zu machen, wenn im eigenen nicht einmal die Hälfte davon funktioniert. „Es gibt keinen perfekten Ort. Es sind auch nur Menschen, “ schließt sie unser Interview ab.

Gelöbnis eingelöst

Hinterhof in Christiania (Foto Arnold Illhardt)
Hinterhof in Christiania (Foto Arnold Illhardt)

Zu unserem zehnten Hochzeitstag schenken meine Frau und ich uns eine einwöchige Reise im Wohnmobil nach Kopenhagen mit Stützpunkt Dragor. einem eigentlich idyllischen Örtchen, wäre da nicht der Flughafen in der Nähe. Ich muss wohl nicht weiter ausführen, dass Christiania ein wichtiger Programmpunkt unserer Reise war. Dass der Freistaat inzwischen zur Touristenattraktion geworden ist, beunruhigte mich in Maßen, ich war aber auf alles gefasst. Bei schönstem Novemberwetter und in christianiaaffinem Dress fuhren wir mit dem Bus in die Hauptstadt und erwanderten uns den Weg in Richtung Sehnsuchtsort. Ich war nervös wie ein Kind mit unbegrenztem Einkaufsgutschein in der Spielzeugabteilung. Waren wir noch einen Moment abgelenkt von entzückenden Altstadtbereichen, die wir auf dem Weg durchqueren mussten, standen wir plötzlich unvermittelt vor dem Eingang. Riesige Graffitis, ausnahmsweise mal gekonnt gesprayt, zierten die Wände, um dann später zu kakophonischen Farbexplosionen zu mutieren. Hier wurde gesprüht, was die Flaschen hergaben. Ein vertrauter Anblick – Hawerkamp Münster lässt grüßen.

Laden in Christiania (Foto Arnold Illhardt)
Laden in Christiania (Foto Arnold Illhardt)

Und dann standen wir auch schon mittendrin, in der Pusher-Street, wie die Drogendealer-Straße genannt wird. Kamera weggesteckt und staunen. Hätte ich ein Kifferherz würde es Luftsprünge machen. Was sich da an Rauchware auftürmt, habe ich in diesen Dimensionen bisher nicht gesehen. Man stelle sich die Größe des Münsteraner Wochenmarkts vor, nur was die Variationsbreite anbetrifft eben erheblich eintöniger. Man schätzt den Umsatz auf 66 Millionen Euro im Jahr. Dumm nur, dass wir beide nicht (mehr) rauchen. Wir sind auch so naturstoned. Man muss sich dran gewöhnen, von völlig zugekifften Leuten verklärt angelächelt zu werden. Irgendwo tanzt jemand zum Hiphop-Sound, auf Cafébänken sitzen gutsituiert aussehende ältere Herrschaften oder gestandene Kiffernasen genauso wie Jugendliche auf Schulfahrt – allen gemeinsam: der Joint in der Hand und das breite Lächeln im Gesicht. So haben vor allem letztere eines Tages mal was zu erzählen, bevor sie in die bürgerliche Dumpfheit abgleiten.

You are now entering the EU (Foto Arnold Illhardt)
You are now entering the EU (Foto Arnold Illhardt)

Uns nervt dieser rauchverschwurbelte Trubel. Aber nicht nur uns, auch die meisten Christianenser sind genervt von dem nur halbwegs geduldeten Drogenverkauf. Hat man die Cannabismeile hinter sich, wird’s tatsächlich so, wie ich es mir in meiner Vorstellung ausgemalt habe. Da reiht sich ein selbstgezimmertes, schöpferisch verziertes und architektonisch abenteuerliches Häuschen an das andere. Hin und wieder mache ich Fotos, es tut mir allerdings in der Seele weh, damit in eine ganz besondere Intimsphäre einzugreifen. Immer wieder bleiben wir stehen, bewundern Details, Zeichnungen, verrückte Schilder, entdecken Kuriositäten, die allesamt eine so wohltuende eigensinnige Andersartigkeit ausdrücken. Vermutlich hätte es in meinem Heimatort dafür jede Menge Rüffel vom fantasieminderbegabten Ordnungs- oder Bauamt gegeben. Einige Häuser liegen in traumhafter Lage an einem großen See, an dem sich der Freistaat befindet. Kurze Einblicke in ihr Innenleben lassen darauf schließen, hier standen keine Möbelkataloge Pate für die Einrichtungen, sondern einzig und allein eine gehörige Portion Kreativität, Einfallsreichtum und Mut zur Gestaltung. Während ich entrückt über die Wege stapfe und mich zwingen muss, nicht zu lange im Staunmodus zu verharren, bleibt meine Frau immer wieder zurück, steht schwärmend vor einer idyllischen Häuserszene und betrachtet sie mit schiefgelegtem Kopf wie ein besonders herausragendes Kunstwerk in einem Museum.

An uns huschen Bewohner vorbei, manche eher alternativ, andere normal gekleidet (was ist hier schon noch normal). Einige grüßen freundlich, was mich beruhigt und meine Sorge, ein Eindringling zu sein, entkräftet. Ebenfalls am See wird ein Meditationshäuschen gebaut oder renoviert, wir besichtigen eine von Frauen geführte Schmiede, bestaunen die für Christiania so typischen wie berühmten Lasten- und Sporträder und stehen plötzlich vor einer kleinen Pferdekoppel. In einer Art Cafeteria ergattern wir einen letzten Tisch und beobachten, mit welcher Liebe die Mitarbeiter frische Kräuter für die in großen Schalen dargebotenen Speisen hacken. Irgendwer führt einen Stadtstreicher mit Gehwagen rein; auch er bekommt seinen Kaffee – umsonst.

Fazit

A. Illhardt in Christiania (Foto Marion Illhardt)
A. Illhardt in Christiania (Foto Marion Illhardt)

Eine Weile sitzen wir noch am See, gegenüber ein weiteres Traumhaus aus alten Fenstern. Ob es wohl darin zieht, fragen wir uns? Und dann fällt uns ein, dass wir überlegt hatten, nach Wales auszuwandern. Doch in diesem Moment sind wir uns beide unsicher. Einige Tage später lesen wir von ausländerfeindlichen Aktivitäten im rechtsruckenden Dänemark. Auch dort gibt es eine AfD, die Einfalt der Vielfalt vorzieht. Einfalt lässt sich besser regieren und reglementieren. Ich muss an einen alten Spontispruch denken, den man früher häufiger an Häuserwänden fand. Anarchie ist machbar, Herr Nachbar. Wie wunderbar, „… dass eine so große Gemeinschaft auch ohne rigide Organisation lebensfähig ist“ (1): First Christiania, then the whole world. Das wär´s. Vielleicht sollte man zunächst einmal in Telgte anfangen. „Erste von Staatsstrukturen befreite, autonome Stadt.“ Ich sehe es schon unter dem Ortsnamen auf dem gelben Schild am Ortseingang stehen. Auch so eine Vision!

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Mark Edwards: Christiania. Versuche, anders zu leben. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 1979