Marciana Alta ist ein kleines Bergdorf auf Elba. In den Reiseführern ist von einem ursprünglichen Elba die Rede, vor allem aber von einem Ausflugsort. Für mich ist es mehr als ein Ausflug; es ist die Rückkehr zu meinem Fantasiezuhause.
Von Marciana Marina kommend knattern wir mit einem geliehenen Motorroller hoch in das Bergstädtchen Marciana Alta. Wir sind unserem Vorsatz, einen Urlaubsort nur einmal zu besuchen, untreu geworden. Es ist das zweite Mal, dass es uns nach Elba gezogen hat und somit auch das zweite Mal, dass wir dem auf 375m hoch gelegenen Ort einen Besuch abstatten. Meine Frau bezeichnete Elba mal als einen Sehnsuchtsort und ich spüre, wie sie – auf dem Roller hinter mir sitzend – immer wieder den Druck, mit dem sie mich mit ihren Armen umschließt, erhöht. Ich verstehe die Signale, eine Verständigung per Sprache hätte eh wenig Sinn. Sie morst ihre Glücksgefühle zu mir rüber. Nur manchmal höre ich durch die Motorgeräusche hindurch kurze Sätze wie “Riechst Du das?” oder “Weißt du noch?” Der Weg hoch nach Marciana Alta durch die üppigen Kastanienwälder bringt auch bei mir zahlreiche Gefühle ins Trudeln. Tatsächlich bin ich aufgeregt wie jemand, der nach langer Zeit an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt. Nur mit dem Unterschied, dass ich hier nie eine Kindheit verbracht habe, sondern den Ort 2011 mehr oder weniger oberflächlich, aber nicht minder emotional gefärbt kennengelernt habe. Vielleicht ist es die Spannung, ob sich in dem Städtchen etwas verändert hat; ob sich dort irgendwelche entseelten Architekten oder Stadtplaner verewigt und damit einem Ort das Herz aus dem Leib gerissen haben. Wie schon so oft erlebt.
Doch es scheint alles beim Alten zu sein. Nachdem wir den Roller nebst Helmen abgestellt haben – der inneren Regie ist es geschuldet, dass es der gleiche Parkplatz wie damals ist – schlendern wir durch die engen, verwinkelten Gassen des Ortes. Ich erwische mich immer wieder, mein Tempo erhöhen zu wollen, als triebe mich eine Art Ungeduld, mich von der Unversehrtheit des Ortes zu versichern. Wie soll man einem blinden Menschen diesen Ort beschreiben? Man muss sich von gewohnten Bauplänen und Stadtbildern verabschieden. Man erkennt kaum, wo ein Haus anfängt und wo das nächste beginnt. Es ist ein Ineinander und wohldurchdachtes Durcheinander. Man fragt sich, ob der Eingang dort noch zu dem Fenster darüber gehört oder dieses schon Teil der nächsten Wohnung ist. Und überhaupt: Sind es Wohnungen oder kleine Häuser? Nur an farblichen Nuancen – der Putz ist überall etwas in die Jahrzehnte gekommen – erkennt man, dass es sich um ein anderes Gebäude handelt. Immer wieder frage ich mich, wie es wohl innen ausschaut. Nur selten erhascht man einen Blick aufs Interieur, einen alten Schrank, eine Sitzgruppe. Es ist heiß an diesem Tag und die Fensterläden sind geschlossen. Was würden wir darum geben, hereingerufen zu werden, um bei einem Kaffee oder einem kalten Getränk von der Geschichte des Ortes und der Menschen dort zu erfahren. Viel Zeit wird offenbar nicht mehr bleiben, denn die Jungen haben Marciana Alta längst verlassen. Es sind nur noch ein paar Hundert, zumeist ältere Leute, die verblieben sind. Und was mich erschreckt und gleichzeitig traurig macht, sind die unzähligen Schilder mit der Aufschrift “Vendesi” – Zu verkaufen.
Dieses Konglomerat an kleinen, beinah zusammengewürfelt erscheinenden Gebäuden, Häusern oder Schuppen hat aber für mich noch einen weiteren unschlagbaren Wert. Es existieren hier keine Protzbauten, keine Luxusvillen, keine Spur von diesem peinlichen und mit Sicherheitskameras geschützten Reichtum, wie überall sonst in das Stadtbild gefräst. Vielmehr scheint hier eine gewisse Art von Gleichheit und Gleichberechtigung zu existieren. Für mich eine Blaupause eines archaischen Sehnsuchtsortes. Hier geht es um Sein, nicht um das Haben.
In einem Reiseführer ist die Rede von abweisend wirkenden Gassen. Durchaus kommt manchmal das Gefühl auf, eine Art Eindringling zu sein, der die Zurückgezogenheit und
wundervolle Ruhe dieses Ortes stört, wenn er sich über die vielen Treppen, durch die verschlungenen Wege mit ihren vielen Sackgassen und versteckten Durchgängen bewegt. Ein eher planloses Sichfortbewegen in einer scheinbar, nein eher spürbar langsamer ablaufenden Zeit. Hektik und Oberflächlichkeit wären hier unverzeihliche Zeitsünden. Immer wieder bleibt man an Blumenkästen mit Hibiskusblüten, Bougainvillea oder Oleander stehen, schnuppert an wild wachsenden oder kultivierten Kräutern, erfreut sich an schattenspendenden Bäumen und dann und wann an dem herüberwehenden Duft von Eukalyptusbäumen. Für uns der Inbegriff von elbanischem Flair.
In den oftmals nach Bohnerwachs oder Mottenpulver riechenden Häuserfluchten vermutete man zu allerletzt Spuren von Kunst. Oder sollte ich doch besser sagen: Erst recht? Gibt es einen beflügelnderen Ort als dieses kleine Städtchen in der Berglandschaft unterhalb des Monte Capanne, um Kreativität gedeihen zu lassen? Immer wieder finden wir in offenstehenden Räumen, versteckten Nischen oder prominent hängend an Hauswänden Relikte moderner Kunst. Man benötigt hier keine Museen oder Galerien. Kunst wird hier zum öffentlichen Selbstverständnis. Der patinierte Ort ist Kulisse und die Kunstwerke wie Achtsamkeitsgongs bei der Meditation.
Mir geht es nicht um einen Reisebericht mit detaillierten Hinweisen auf Kirchen oder Plätze, nicht um eine Werbung für eine Stadt, mir geht es vielmehr um die Darstellung eines ganz besonderen Gefühls. Und genau das stellt sich erneut ein, als ich diesen kleinen Platz betrete, in dessen Mitte ein Brunnen leise vor sich hin plätschert und nur hin und wieder Menschen die Kulisse der Inszenierung, meiner Inszenierung stören. Ich setze mich auf eine der Steinbänke. Es ist recht still. Und dann kommt es wieder, dieses Bedürfnis, alles hinter mir zu lassen und mit meiner Frau genau an diesem Flecken Erde das neue Zuhause aufzuschlagen. Man sagt, es gäbe nur eine Heimat. Heute will mir diese Aussage nicht mehr einleuchten, denn hier zu sitzen, zu lauschen, mit geschlossenen und offenen Augen wahrzunehmen, was auch immer wahrzunehmen ist, scheint mir das eigentliche Leben zu sein. Umso mehr stört mich das ewige Geplapper der vorbeischwadronierenden Touristen, die diesen Ort förmlich abarbeiten. Sie plappern aber nicht über den Ort, nicht über ihre Eindrücke, sondern es ist dieses Plappern über Nichtiges und Profanes. Sie scheinen nicht wirklich hier zu sein.
Dieser kleine Platz, dessen Namen ich nicht einmal weiß, erinnert mich schmerzlich daran, dass man diese Orte der Kommunikation und des Müßiggangs dort, wo mein wirkliches Zuhause ist, vergessen hat. Sind sie nicht mehr zeitgemäß? Braucht man sie nicht mehr? Oder ist es der Fantasielosigkeit unserer Städteplaner oder Architekten zuzuschreiben und wir haben mal wieder nicht protestiert? Ein solcher versteckter Platz mit einem Brunnen, einer einfachen Sitzmöglichkeit und einem Platanendach über den Kopf ist wie ein kleines Fest. Meine Gedanken schweifen immer mehr ab. Ich sehe uns mit einigem Mobiliar, den wichtigsten Büchern genau an diesen Ortziehen. Ich stelle mir vor, Italienisch zu lernen; dann und wann in der Osteria de Noce essen zu gehen; und immer wieder abends auf diesem Platz zu sitzen. Dem kleinen Brunnen zu lauschen, zu warten, dass die Touristen abziehen. Jedenfalls die lauten und plappernden. Vielleicht würde es dann plötzlich Klick machen und ich hätte verstanden, was gelebtes Leben tatsächlich bedeutet.
Mir stellt sich die Frage: Was sind das für Fantasien? Gar Fantastereien! Ist es die übliche Urlaubsmelancholie – alles ist schöner, alles ist besser, alles ist magischer als zuhause? Oder mischt sich hier die Frustration über ein gesellschaftliches Zusammenleben ein, dessen Ausmaße in meinen Augen längst die Grenze des von mir Tragbaren erreicht hat? Wird mir an diesem Ort und zu dieser Zeit deutlich, wie sehr ich mich längst von der Jetztzeit verabschiedet habe? Ich merke die aufkommende Traurigkeit. Herrje, warum diese Sentimentalität? Vielleicht weil ich weiß, dass es bei einem Fantasiezuhause bleiben wird. Meine Frau lehnt ihren Kopf an meine Schulter und flüstert: Versprochen, wir kehren an diesen Ort zurück. In ein paar Jahren. Versprochen!