Was ist gegenwärtig die Bedeutung von Träumen? Traumdeutung ist zu simpel, als ob in Träumen nur festgelegte Bildelemente vorkämen. Viel wichtiger ist, dass Träume Alltag gestalten helfen. Dieser Artikel soll das zeigen.
Vom Philosophen Walter Benjamin (Suizid 1940) gibt es Aufzeichnungen seiner Träume und seiner Traumtheorien (z.B. nach Haschisch-Konsum). Die möchte ich nicht wiederholen und diskutieren, sie sind natürlich in diesen Beitrag eingebaut. Was sagt mir/euch das? 1) hat mich Benjamin fasziniert und 2) finde ich es beeindruckend, dass auch ein Philosoph (nicht nur Psychologen) Träume als bedeutend ansehen. Darum ermuntert es mich als Nicht-Psychologen, dieses Thema aufzugreifen.
Ich wage es wie er, so etwas zu tun. Ein Oldie mit medizinethischem Hintergrund. Als ich noch gearbeitet habe, durfte ich an Studien im Schlaflabor der Klinik mitarbeiten. Das war wohl nicht das Wichtigste, es hatte mit Geschichte und Gesundheitstheorien zu tun. Darum glaubte man, das bei mir zu finden. Aber für einen Ethiker war das geradezu spannend, eintauchend in eine unbekannte, geheimnisumwitterte Welt.
Also wage ich es, den Traum in eine Reflexion über den Alltag einzubauen. Natürlich ist das das Geschäft der Psychotherapeuten, und soll es auch bleiben. Aber immer mehr wird der Traum auch ein Problem sehr praktischer Überlegungen, im weitesten Sinne philosophischer Alltagsberatung.
Hier einer meiner aktuellen Träume:
Zuerst die Geschichten im Hintergrund: Zu Beginn meiner Arbeit musste ich einen Vortrag halten, der mich sehr nervös machte. Und ich fuhr von Freiburg nach Mainz, leider eine Woche zu früh, so aufgeregt war ich. Die nächste Pleite kam wenige Jahre später. Ich musste nach Ibiza zu einem Vortrag, hatte aber vergessen, im Sekretariat einen Flug nach Palermo zu buchen. Also fuhr ich mit der Bahn (Liegewagen gab es leider auch nicht mehr) nach Palermo. In der Nacht hatte ich aus Versehen die Brille aufbehalten. Als ich morgens aufwachte, saß ich auf der Brille, ein Glas war kaputt. Ohne Brille mein Manuskript lesen, ging nicht. Panik! Dann beschloss ich, mit einem (1) Brillenglas das Manuskript zu lesen. Dass eines von beiden fehlte, merkte ja eh niemand, meinte ich.
Beide Desaster hören sich eher spaßig an, hatten aber einen Hintergrund von Angst, Enttäuschung und Momenten der Ausweglosigkeit.
Und was die Träume daraus machten: Meine Träume damals vergaßen das Ereignis, weil meine Frau dafür sorgte, dass weitere Geschichten dieser Art nicht passierten. Aber meine Angst blieb. Wenigstens im Hintergrund. Viele Jahre später, im Ruhestand, griffen meine Träume dieses Ereignis wieder auf. Ich lief in Städten (ein Mix aus Freiburg, Berlin und London) umher und suchte den Bahnhof. Ich lief und lief und lief, der Bahnhof war weg. Und ich wurde wach. Endlich. Eine Art Alptraum?
Und die Moral von meinem Traum: Arbeiten und Struktur verpassen, Denken/Schreiben, aber nicht die praktische Anwendung übersehen, Zeitmanagement usw. Ich muss an dem Dilemma arbeiten: entspannt werden, nur etwas tun, wenn mir das Ziel erreichbar ist, aufpassen lernen, wissen, wie ich das an den Mann bringe.
Der Hintergrund der Träume ist natürlich individuell, aber das Problem des Traumes ist bei vielen Menschen ähnlich. Ängste sind ein vielfaches Problem. Ähnlich brisant sind Wohnsituation, Beziehungskrisen usw. Sicher kann der Psychologe helfen, aber es geht immer um den Zusammenhang von Traum und Alltag.
- Kurze Skizze einer Entwicklung
Vor etwa 4-3.000 v.Chr. Jahren spielte Traumdeutung eine große Rolle für die Medizin insgesamt. Über 1000 Jahre gab es den sog. Tempelschlaf, in dem der Traum besonders wichtig war. Den beschreibe ich kurz.
Jemand, der sich krank fühlte, kam zum Tempel. Voran ging eine oft lange Reise (Vorbereitung). Ein Priester untersuchte ihn und verordnete ihm Fasten, kultische Reinigung, Theater, Bewegung etc. Dafür benutzte man den Begriff Inkubation (heute Inkubationszeit = Zeit zwischen Infektion und Ausbruch der Krankheit). Diese Priester, besonders geschult, nannte man „Asklepiaden“, also Schüler des Gottes Asklepios.
Danach verordneten ihm die Asklepiaden, den Kranken im Tempel schlafen zu lassen. Asklepios und seine Tochter Hygieia (wir „kennen“ sie nur noch als „Hygiene“), die beiden Gottheiten der Gesundheitssorge, sagten dem Schlafenden im Traum, wie das Gesundheitsproblem zu lösen sei. Für die Interpretation dieser göttlichen Worte sorgte bei Bedarf der Asklepios-Priester.
Sehr interessant – auch heute noch? – ist die Stellung des Traumes und seiner Deutung als eine kognitive Weisheit. „Kognitiv“ als Element kluger Wahrnehmung, „Weisheit“ als Fähigkeit, die Dinge richtig und tiefgründig zu sehen. Träume wahrzunehmen und zu interpretieren, spielte damals offensichtlich eine wichtige und anerkannte Rolle, galt gar als weise.
Aber etwas ist versickert: Träume sind im Alltag wichtig. Oft nehmen wir nicht wahr, dass in und hinter unserem Alltag Probleme stecken, die wir nur lösen, wenn wir sie kennen.
Etwa um 700 v.Chr. begann mehr und mehr eine (für damalige Verhältnisse) wissenschaftliche Medizin, geboren aus der Philosophie, medizinischem Handwerk sowie Behandlungstheorien. Um ca. 500 v.Chr. kam Hippokrates, wörtlich übersetzt: Pferde(be)herrscher, als Vater der europäischen Medizin. Er kannte in der Medizin nicht nur Organe (Niere, Lunge, Blutsystem usw.), sondern auch z.B. als Krankheitsauslöser Wohnort (z.B Stadtrand), Einbindung in Bekanntschaften, ansteckende Luft usw. Er vertraute zwar weniger den Göttern als der Empirie – das war die sog. Humoralpathologie (Säftelehre) , die man in den meisten Schriften von ihm wiederfand. Erweitert galt sie bis ins 19. Jhd. Aber er war auch ein Asklepiade, der die Erfahrungen der alten Tempelmedizin und auch die Bedeutung der Träume kannte und mit ihnen praktizierte.
Und unser heutiges Sprichwort: Träume sind Schäume? Vielleicht sind die Interpretationen Schäume, aber nicht die Träume. Selbst in der Bibel, und überall in der Antike, gab es Träume mit wichtigen Informationen. Je mehr Medizin sich an moderner Biologie (Biomedizin) orientierte, desto mehr verloren Träume an Wichtigkeit. Wichtig, manchmal beunruhigend, waren Träume in Alltagsbeziehungen.
Gehen wir vor ins 20. Jhd., das die Bedeutung von Träumen wieder aufmöbelte. Sigmund Freud fing als Neurologe an, bevor er (auf dem Hintergrund der Neurologie) die Psychoanalyse entwickelte. Er schaute dem Traum hinter die Maske der Mythologie. Träume sind Verkleidungen von Alltagserlebnissen. Die Verkleidung geht folgendermaßen: In alltäglichen Erlebnissen gibt es Erkenntnisse, Praktiken, Wünsche usw., die man früher als Weisheit verstand, aber zu seiner Zeit, im sog. viktorianischen Zeitalter, viel zu fremd und v.a. unmoralisch waren, als dass sie in unserer moralischen Korrektheit annehmbar wären. Der Traum griff das auf. Wenn wir wach und bewusst leben, werden solche Inhalte ausgeblendet und führen oft zu psychischen Krankheiten (Neurosen). Im Schlaf gibt es den von Freud sog. Zensor, der die Traumelemente verkleidet (also inkognito) reinlässt und bewusstseinsfähig macht. Traumdeutung wurde Teil der Psychoanalyse.
- Problemaufriss
Solche Elemente des Traumes spielen in vielen psychotherapeutischen Sitzungen eine wichtige Rolle. Sie sind aber in unserem Alltag sehr schwierig, manchmal sogar vertrackt, weil unsere Traumdeutungen oft viel zu pauschal sind. Spinnen auf der Schädeldecke im Traum können Angstauslöser sein, Hinweis auf tolle Leistungen im Kopf oder Erinnerung bzw. Hoffnung auf einen Orgasmus. Was denn nun, Angst, Klugheit oder Orgasmus? Wichtig ist immer der Zusammenhang.
Hierher gehört die Überlegung, die uns zeigen soll, was der Traum an Empfehlungen für unseren Alltag bereithält. Manchmal brauchen wir natürlich den Profi. Nur dürfen wir die Bekannten und Freunde nicht vergessen, die uns helfen, den Zusammenhang von Traum und Alltag zu verstehen. Unseren Alltag können die oft besser verstehen als wir selber.
Alan Hobson, Psychiater in Harvard, fand solche Traumdeutungen und die psychotherapeutischen Traumtheorien bedeutungslos. 2013 jedoch schrieb er:
Rosalind Cartwright, Neurologin in der Rush University (Chicago), von Kollegen “Queen of dreams” genannt, gewann ca. 25 Frauen und ebenso viele Männer nach überstandener Scheidung für eine Traumstudie. Die gleiche Studie wurde nach einem Jahr wiederholt: Die Studienteilnehmer, deren frühere Partner im Traum vorkamen, bewältigten ihr Scheidungsproblem besser als die anderen Studienteilnehmer ohne Traum von ihrem Expartner.
Ihr Fazit war, dass die Studie nicht hinreichend war (begrenzt auf 1 und im 2. Studienabschnitt eine weitere Nacht). Wichtig war aber ihr Hinweis, dass der Traum eine Art Therapie ist. Allerdings nur, meine ich, wenn man sich Gedanken über seine Träume und ihren Zusammenhang im Alltag macht.
Unter dem Begriff „Traum“ wird selten das verstanden, was man eher als Vision, Wunsch, Entwurf, Sehnsucht o.ä. begreift. Von Gabriel Garcia Marquez (in seinen Erzählungen von 1950) habe ich gelesen, dass eine Frau nach einer schönen Nacht ihrem Geliebten
Garcia Marquez meint offensichtlich, dass im Traum immer auch ein Moment dessen steckt, was man sich wünscht, aber (noch) keine Realität ist. Der nächtliche Traum ist wohl auch ein Traum vom Glück, das schwer oder gar nicht erreichbar ist. Und die Menschen leider selten wahrnehmen.
Und das wird von der philosophischen (nicht: psychotherapeutischen) Beratung aufgegriffen. Geht es doch um das, was man wünscht, aber nicht erreicht. Oder könnte man es doch erreichen?
- Resümee: der übersehene Alltag
Was könnten wir denn tun, ohne unsere Träume an den Psychotherapeuten zu delegieren?
- Träume erinnern (dazu braucht man Übung), zeichnen oder aufschreiben
- Nicht überlegen, ob die Träume „stimmen“, also der Realität entsprechen
- Nachdenken, wie der Träumer die Traumszene verändern würden
- Diese Neugestaltung dem Traum „übergeben“
Was mir imponiert ist die Tatsache, dass ein Mensch Ressourcen in sich trägt, die ihm Probleme lösen hilft. Probleme lösen ist eine sog. Kernkompetenz des Menschen. Leider wird sie niemals geschult. Insofern bleibt es dabei: Träume sind Schäume. Was man dagegen tun kann, will ich – natürlich verkürzt – aufzählen:
- Souveränität des Menschen, seine Probleme zu lösen.
Souveränität bedeutet, selber über seinen Alltag bestimmen können. Alles, was wichtig ist. kommt von/aus einem selber.
Von der Antike bis heute – auch noch bei Freud? – war immer ziemlich klar, dass die Deutung eines Traums immer von einer äußeren Instanz kommen musste. Von Göttern oder zumindest von Psycho-Göttern im Oberhemd (analog den sog. Göttern in Weiß). Warum muss Hilfe immer von außen kommen? Der Mensch ist in der Lage, zum Mond zu fliegen. Warum kann er nicht auch eigene Probleme lösen? Es gibt keinen Grund.
Aber da kommt eine Rückblende von Meister Eckhart (13./14. Jhd.), fromm zwar, aber aus der Kirche rausgeworfen. Er hat den hl. Stuhl keine orthodoxe Bravheit vorgeheuchelt, was einem späteren Expapst nicht wirklich schwerfiel. Ein Satz von Meister Eckhart, der mir überraschend einleuchtend klingt: Gott könne man verlieren, das göttliche Ich-selbst nicht. Mystiker wie er nannten dieses Ich-selbst „apex mentis“ („Seelenspitze“ oder frei übersetzt „Kernbereich des Geistes“).
Wichtig ist festzuhalten: Nicht Götter sind Autoren der Traumdeutung, der Mensch ist selber sein Autor, sein eigener Präsident (hieß es in der Themenzentrierten Interaktion), zumindest kann er das sein.
- Aufhorchen
Träume kommen von innen, also muss man hinhören, was in einem selber vor sich geht.
Träume sprechen, Götter sprechen, in der Bibel spricht der Allmächtige oder einer seiner Engel, der Psychotherapeut spricht, die Figuren im Traum sprechen. Wir selber sprechen auch? Gerade unser Anteil des Sprechens ist wichtig, das verdanken wir irgendwo ganz besonders dem Innersten der Person, wie es der Mystiker Meister Eckhart angestoßen hat, auch wenn es dem damaligen Mainstream nicht behagte.
Egal, wer oder was spricht. Ich bin überzeugt, dass unser Innerstes eine wichtige Rolle spielt. Wichtig ist, dass ich – oder wer auch immer – versteht, was der Traum uns sagt. Wir müssen uns selbst Aufmerksamkeit schenken. Dann wird uns möglicherweise mitgeteilt, was mit uns und um uns herum passiert. Wir interagieren. Anstoß dazu kann unser Aufhorchen sein.
- Rolle der Freunde*innen
Von Freunden erfahren wir viel über uns. Also brauchen wir die Lösung unserer praktischen Probleme nicht an Profis outzusourcen. Eine gute Möglichkeit ist, unsere Träume Freunden*innen anzuvertrauen.
In diesem Kreis gibt es so gut wie keine Hemmschwelle. Wir dürfen kein Wörterbuch der Traumdeutung erwarten, wir brauchen uns nahestehende Menschen, die den Alltag und den Zusammenhang mit anderen kennen. Und vielleicht auch unser Verhalten beurteilen und eventuell korrigieren können. Es darf kein Gespräch geben, aus dem jemand souverän hineingeht und blamiert wieder rauskommt. Bei Freunden*innen passiert das nicht.
- Fehlerkorrektur
Traumdeutung ist nur sinnvoll in einer Welt, in der Fehler nicht zur Kenntnis genommen werden dürfen.
Schlimm ist, was wir von dem halten, was bei uns schiefgelaufen ist. Wir machen etwas, und das nimmt uns so mit, dass wir einen Helfer brauchen. Bei Freud ist das recht schlimm: Verliebtsein, Sex wollen, unübliche Praktiken anstreben, Kollegen hassen usw. sind Dinge, die im Traum erst „verkleidet“ ins Bewusstsein reingelassen werden. Etwas ist falsch gelaufen. „Fehler“ nennen wir das im Zeitalter der (political, moral usw.) correctness.
Sobald wir das entkrampfen, wird ein Schuh draus. Träume können uns etwas sagen, ohne dass Profis eingeschaltet werden müssen. Solche Profis müssen die Welt der Ge- und Ver-bote ändern können. Und wer ist das? Der Sozialpsychologe Harald Welzer wünschte sich in einem möglichen Nachruf, dass er jemand gewesen sei, der „sich stets bemüht, gute Fehler zu machen“. Können Fehler „gut“ sein? Als Ethiker würde ich sagen: Nein. Aber wer verbietet etwas, was wir dann als „Fehler“ bezeichnen
In seinem Buch »Nachruf auf mich selbst« schreibt Welzer: „Es braucht in immer verletzlicher werdenden Gesellschaften – verletzlich durch Umweltstress genauso wie durch zu lange Abhängigkeitsketten – eine Neubewertung des Fehlers“. Fehler sind immer etwas, was andere uns verbieten.
Wir müssen Gesellschaften aufbauen, in denen es keine Verbote gibt. Erst dann wird Traumdeutung überflüssig. Diese Gesellschaft gibt es höchstens annäherungsweise. Schade. Also bleibt der Traum notwendig.