Ein Hoch auf die Dummheit
Können wir ohne Dummheit leben und denken?

Dummheit wird vielfach als psychologisch und psychiatrischer Intelligenzmangel diagnostiziert. Aber er ist mehr, eher eine Variante der Klugheit. Ohne Dummheit können wir weder leben noch denken. Dazu ein meist seltener Versuch, Dummheit lobend zu beschreiben.

Geht denken ohne Ignoranz? (Foto von Pixabay)
Geht denken ohne Ignoranz? (Foto von Pixabay)

Als ich in den Ruhestand ging, fragte ich mich, wie wichtig Klugheit ist. Ich hielt mich für klug, als mich die Uni verabschiedete. Wie kann man nur auf einen so klugen Kerl wie mich verzichten, dachte ich. Ist Dummheit nicht wichtiger, als man denkt? Da entdeckte ich den Humanisten und Theologen Erasmus von Rotterdam, der 1511 ein Buch mit genau dieser Thematik schrieb, »Lob der Torheit« (Laus stultitiae), betitelte er sein Buch.

Aus seiner Schrift könnte ich viel zitieren, hier nur einen Satz: „Kein Narr ist närrischer als der, den christliche Frömmigkeit ergriffen hat.“ Er war ein Gegner des frommen und radikalen Martin Luther, weil der keinen Zweifel zuließ, und notierte in einem Brief, dass für ihn ein Bistum bereitstünde, wenn er etwas gegen Luther geschrieben hätte. Aber er tat es mit keiner Silbe. Er wäre damals auf die Bestsellerliste gekommen. Denkste: Sein Buch neben vielen anderen Büchern aus seiner Feder kam auf den Index. Erasmus weiß, dass Dummheit eine Form der Weisheit ist. Diese Denkrichtung faszinierte mich.

Leider ist Dummheit nur eine Minusvariante. Aber sie ist mehr. Warum? Ich versuche das aufzuzeigen.

Ford Model T., oft genannt Tin Lizzy (teure Blechbüchse) (Foto Pixabay)
Ford Model T., oft genannt Tin Lizzy (teure Blechbüchse) (Foto Pixabay)

1919 stand der amerikanische Automobil-Tycoon Henry Ford vor Gericht. Es ging um ein Editorial, das die Chicago Tribune Ford als „ignoranten Idealisten“ und „anarchistischen Feind der Nation“ bezeichnete, weil er so ignorant und gewissermaßen als Feind des Fortschritts galt. Ford verklagte die Zeitung, die ihn als Dummkopf hinstellte.

Er bewies bei der Befragung seine überwältigende Unwissenheit. Er konnte weder sagen, wann die amerikanische Revolution stattgefunden hat, noch was „Chili con Carne“ ist, und war offensichtlich mit den einfachsten Grundprinzipien des amerikanischen Staats­wesens nicht vertraut. „Ich gebe zu, dass ich über die meisten Dinge nichts weiss“, meint er schliesslich. Ob er einverstanden wäre, einen kleinen Auszug aus einem Buch vorzulesen, fragt ihn der Verteidiger der Chicago Tribune, oder ob er es vorziehe, hier den Eindruck zu ­hinterlassen, dass er möglicherweise Analphabet sei? „Ja, Sie können das so lassen“, meinte Ford zu den Gerichtsschreibern. Er sei kein schneller Leser und würde das mit dem Vorlesen vermasseln.

War Henry Ford, aus dessen Fabrik eine der größten technologischen Neuerungen der Moderne kam, dumm? Oder war er einfach nur unglaublich ungebildet? Darüber streiten sich seine Biografen bis heute. Vielleicht war er dumm, aber er war mutig. Sein Geschäftssinn jedoch war schwach. Als er seinen Geschäftspartner entließ und auszahlte, gingen die Verkaufszahlen rapide runter. Immerhin hatte er doch einen Sensus für einen guten Geschäftspartner. Aber er investierte in waghalsige Unternehmen, aber nichts brachte Erfolg. War er dumm oder was?

Man kann „dumm“ seltsamerweise nicht definieren. Durchschnitt ist ein von 100, aber dann kommt das Alter – kalendarisches, biologisches oder emotionales Alter? Was im Zuge der Jahrhunderte als Dummheit verstanden wurde, fasst Lea Haller zusammen. Ich greife nur die wichtigsten Momente auf und mache daraus eine Graphik:

Das Problem ist und bleibt aber, dass wir nicht wissen, was Dummheit ist. Sie ist nicht nur Mangel an Intelligenz, sondern hat mit vielen sozialen, psychischen und Verhalten prägenden Fähigkeiten zu tun. Sie ist eine zusammenfassende Perspektive für die Dinge, die man im Alltag erlebt. Gerade Genies haben irgendwo sehr dumme Eigenschaften. Als Franz Müntefering (bis 2009 Bundesvorsitzender der SPD) – nicht der dümmsten einer – wieder zu Hause arbeitete, wusste er ohne Hilfe seiner Frau nicht, wie der öffentliche Nahverkehr funktionierte. Also doch dumm? Oder Monika Meinhof, Leitendes Mitglied der Roten Armeefraktion, mit einen IQ von über 140 (sehr intelligent). Sie ermordete mehrere Menschen aus politischen Gründen. Politik rechtfertigt keinen Mord. War das intelligent oder das Gegenteil?

Blöd aus der Wäsche gucken? ( Foto Johanna Scherle-Illhardt)
Blöd aus der Wäsche gucken ( Foto Johanna Scherle-Illhardt)

Die Fragen bleiben aber: Wie bilden wir aus? Gibt es den Zusammenhang von Kognition, Emotion, Praxis und Gesellschaft? Was bedeutet uns Fortschritt und Sozialkritik? Das zu skizzieren passt allerdings nicht in meinen Aufsatz. Diese und ähnliche Fragen kann man nur stellen, wenn man kein Besserwisser ist, also eher ein Dummer ist.

Wir kommen der Bedeutung von Dummheit sehr viel näher, wenn wir den Vortrag von 1937 des österreichischen Schriftstellers Robert Musil lesen (»Über die Dummheit« Reclam). Er legt Wert darauf, dass er psychologische und soziologische Problembereiche umgeht, aber kritisiert, dass deren Erkenntnisse (die des beginnenden 20. Jhds.) uns nicht weiterhelfen.

Meine Frage: Wie ordnet Musil folgendes Quiz an? Er fragt nach bestimmten Reizwörtern (Rw) mit dazu passenden Szenen (Sz).

 

Mein Resümee: Dummheit muss sein

Was hat das mit Dummheit zu tun? Musils Imperativ klingt ähnlich wie der kategorische Imperativ von Kant, ist aber insofern plausibler, weil er auch unvernünftiges und sogar fehlerhaftes, aber emotional gut gemeintes Handeln einplant. Man muss zwar ordentlich nachdenken, aber dann leuchtet er ein. Natürlich, oft will man, was man nicht kann. Aber ebenso muss man etwas tun, was man nicht will. Vor allem muss man sich klar werden, dass man immer Fehler macht. Man muss Fehler nicht ausmerzen, aber sich klar sein, dass Handeln nicht ohne geht.

Wer Musils Imperativ ablehnt, muss mit einer abstrusen Konsequenz rechnen. Ohne diesen Imperativ sieht man sich selbst als klug, als jemanden, der Fehlergrenzen nicht einsieht: Dumm sind immer die anderen.

Versuchen wir Dummheit in Leben und Denken zu integrieren. Seltsam, dass Dummheit ein wichtiges Element eines vernünftigen und nachdenklichen Lebens ist. Wie geht das?

  • Zweifeln akzeptieren

Bertram Russel, Mathematiker und Philosoph schrieb: „Es ist ein Jammer, daß die Dummköpfe so selbstsicher sind und die Klugen so voller Zweifel.“ Es gibt viele Varianten dieses Zitats. Russel machte den Zweifel zum Zentrum des Nachdenkens, er übertrug ihn auch ins Politische.

Denken wir auch an Musils Imperativ!

  • Nichtwissen zugeben

„Zugeben“ ist nicht nur den anderen eingestehen, dass man etwas nicht weiß. Es bedeutet auch, dass man sich selber eingesteht, etwas nicht zu wissen. Kürzlich habe ich (dreimal geimpft) mit einem Impfgegner geredet. Es ging zur Sache, ich hielt all seine  vermeintlichen Fehler für Blödsinn und steigerte meine Wut. Damit erreichte ich zwar nichts, höchstens dass die Spaltung der Gesellschaft und mein Stolz groß und größer wurde. Nachher habe ich mich geschämt, dass ich mich als Besserwisser aufgespielt und den anderen an die Wand gedrängt habe. Nur eins habe ich demonstriert: Dialogunfähigkeit.

  • Fehler eingestehen

Über Fehler habe ich mich in QUERZEIT schon öfter ausgelassen. Aber nie so radikal, dass Handeln und Denken ohne Fehler nicht gehen. Mein Fahrlehrer sagte mir mal, als ich irgendeinen Bockmist im Verkehr veranstaltet habe: „Es gibt auf der Straße ganz viele Kamele. Das größte bist du.“ Da hatte er recht, ich konnte mich nicht verteidigen. Das wäre sicher dumm gewesen. Aber auch in sehr ernsten Bereichen (z.B. Medizinethik) musste ich mich damit abfinden, falsch zu denken.

  • Eitelkeit minimieren

„Zwischen Dummheit und Eitelkeit besteht aber seit alters eine innige Beziehung“, schrieb Musil. Gerade in der Literatur vor einigen Jahrhunderten bezog man sich bei der Beschreibung der Dummheit auf die alte Bedeutung der Leere und der Gefallsucht, welche die Leere übertüncht. Schlimmer ist jedoch, dass ein eitler Mensch den Anderen nicht respektiert. Und das ist das Ende von Handeln und Denken.

Um Dummheit mit einem Satz zusammenzufassen: Wir müssen nicht Intelligenz reduzieren. Vielmehr müssen wir Zweifel, Nichtwissen, Fehler und Eitelkeit in unser Leben und Denken einbauen lernen.