Land ohne Werte
oder wertloses Land?

Ehrenkirchen. Die Kirchen werden immer leerer, die Fitessstudios immer voller. Woher nehmen wir die Werte, wenn wir unser Land aufbauen? Sind Werte nur finanzielle Werte? Das sieht zurzeit so aus. Dann steht aber der (nicht nur moralische) Zusammenbruch unseres Landes bevor.

Land? Gemeint ist nicht das, von dem der Immobilienmakler spricht, wenn es um den Wert des Grundstücks geht. Gemeint ist das Land, auf dem eine Nation oder ein Nationenverbund wohnt. Wie aber wird dieses Land aufgebaut? Dazu ein Zitat von Nietzsche aus „Die fröhliche Wissenschaft“ (entstanden zwischen 1876–1882). Man stelle sich das einmal auf der Theaterbühne vor:

Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!“ […] „Wohin ist Gott?“ rief er, „ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich!  […] Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? […] Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend?  Und rückwärts, seitwärts, vorwärts […]? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht durch ein unendliches Nichts?  Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? […]

Es gab nie eine größere Tat – und wer nun immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“

Nietzsche wird als der „Philosoph mit dem Hammer“ bezeichnet – mit dem Hammer, weil er damit die damals geltenden Werte zerschlug. Wie aber kann man in einer aus den Fugen geratenen Welt leben? Und wie kann man eine Welt aufbauen, in der man, auch wenn alles kaputt ist, leben kann?

Die Menschen suchen einen verantwortlichen Weltenlenker, wie einige Soziologen sagen: eine metasoziale Legitimationsinstanz. Die wird von vielen „Gott“ genannt. Nietzsche in Kürze interpretiert: Man sucht Gott, aber hat ihn getötet. Totale Ambivalenz. Die Generation nach dem Tode Gottes, der als wohlfeile Legitimation für wertvolle Traditionen gebraucht wurde, ist jene Generation, die zwar zunächst die Orientierung verloren hat, aber für die Welt und ihre Gestaltung selber verantwortlich ist, also auch für das, was diese Welt und die Menschen zusammenhält. Der Kitt für diesen Zusammenhalt sind die Werte.

Einerseits meint Nietzsche, dass es kälter geworden ist, d.h. dass die Beziehungen der Menschen untereinander und ihre Visionen, eine bessere Welt zu gestalten, nicht mehr tragen. Aber wer das auf sich nimmt, gehört zu einer bedeutenderen Generation.

Das ist unser Erbe. Bei der Gestaltung der Welt können wir uns nicht auf einen Weltenlenker berufen, sondern wir sind selber verantwortlich, also autonom. Der Soziologe Jean Ziegler (deutsch: Ändere die Welt, 2014) formuliert dieses Problem sehr deutlich: „Jede Gesellschaft erschafft sich selbst, sie hat […] keine anderen Werte als die, die ihrer eigenen Praxis entspringen“. Was sind das für Werte, und haben wir über ihre Etablierung nachgedacht?

Damit verbunden ist die Kehrseite: Wir müssen auch für die Fehler in der Weltgestaltung gerade stehen. Es ist nicht so wichtig herauszufinden, ob Gott existiert oder nicht, ob er in der Welt oder über der Welt steht, wie man ihn nennen soll usw. Der wichtigste Aspekt ist die Verantwortung für diese Welt und Mitwelt. Sogar die Theologie beider Konfessionen kennt dieses Problem, etwa in der „Gott-ist-tot-Theologie“ oder in der Diskussion über die “Weltlichkeit der Welt“. Um die Heimat zu bemühen: Auch die beiden Münsteraner Theologen Rahner und Metz haben darüber spekuliert. Beide sahen in Gott keine Legitimation der Weltgestaltung.

Nietzsche ist leider in Verruf geraten, er hat Rehabilitation verdient. Seine Schwester hat seine Arbeiten so kompiliert, dass sie den Nationalsozialisten imponierten. Ihnen blieb jedoch verborgen, dass Nietzsche privat und in seinen Briefen nur noch Französisch redete bzw. schrieb, da er das Deutschtum nicht ertragen konnte, sich mit Wagner, dem NS-Komponisten, verkracht hatte, Rassismus verachtete usw.

Was, wenn die Werte von Nietzsches Zwischenruf keinen Wert mehr haben? Die Wertlosigkeit der Welt resultiert, wenn wir nicht mehr an Werte glauben. Beispiel Griechenland, von dem wir so viel Ökonomisches – auch ein Wertsystem, wenn auch nur ein in Euro umrechenbares – gehört haben. Wichtig und ehrlich war der Satz der Kanzlerin, der die Wertsysteme vertauschte: „Wenn der Euro stirbt, stirbt Europa“. Geld für Wert?

Euro (Foto H. Scherle-Illhardt)
Euro (Foto H. Scherle-Illhardt)

Ein paar Monate später. Wider Erwarten ist jetzt auch das dritte Hilfspaket mit bis zu 86 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, für die Rückzahlung griechischer Schulden und Rekapitalisierung der Banken, nur indirekte Hilfe für notleidende Menschen oder ihre Sozialsysteme. Europa ist also eine Funktion der Finanzen. Werte: Fehlanzeige. Oder noch deutlicher gesagt: Wirtschaftsinteressen beherrschen und kontrollieren die Wertgestaltung. Frei nach Nietzsche: Aus dem Diktat Gottes wurde das Diktat der Wirtschaft. Der Mensch geht wieder einmal leer aus. Das ist die Rückkehr der Metaphysik, ökonomisch gedopt.

Anfang 2015 ging die sogenannte Kapitalismuskritik des Papstes durch die Presse. Eine große deutsche Wochenzeitung reagierte darauf mit sehr ausführlicher Gegenkritik (zwei Artikel von je einer halben Seite im sog. nordischen Format). Bei Licht betrachtet war die Kapitalismuskritik des Papstes Verschwendungskritik der westlichen Industrienationen. Das versuchte ich mit einem Leserbrief zurechtzurücken, zugegeben: mit einem ziemlich zynischen. Der wurde natürlich abgelehnt. Man sollte wissen: Im beigelegten Magazin und in der Zeitung selbst wurde ungewöhnlich viel Reklame für Uhren – in dieser Preisklasse sagt man besser „Chronometer“ – abgedruckt, keine Uhr unter 5.000 Euro. Ist Weltgestaltung doch ein Finanzproblem?

Man muss es so drastisch sagen: Europa ist auf dem besten Weg, ein wertloses Land zu werden. Die neue Welt bleibt bestenfalls beim Ausschachten des Baugeländes stehen. Es ist leichter, einen gemeinsamen Sklavenmarkt der EU – am besten unter der Leitung von Viktor Orbán (MP Ungarn), verzeihen Sie bitte meinen Sarkasmus – zu etablieren als eine gemeinsame Flüchtlingspolitik. Auch das passt zu Nietzsche, dem „Philosophen mit dem Hammer“: Die Welt steht in der Verantwortung der Menschen, nicht der Ökonomen.

Trotz des Einstiegs mit Nietzsche halte ich mich für religiös, nicht nur weil ich bei den Theologieprofessoren Rahner und Metz studiert habe. Für mich ist Gott keine Legitimationsinstanz, sondern derjenige, der mich zu Kritik und Weltgestaltung ermächtigt. Hier ein Erlebnis. Weil ich in der Freiburger Klinik viel mit Fällen der Sterbehilfe als Berater zu tun hatte, hielt ich irgendwo im Land dazu ein Referat. In der anschließenden Diskussion argumentierte ein Teilnehmer (Gott sei Dank: nur einer), dass meine ziemlich liberale Ansicht dem göttlichen Gebot widerspreche. Ich sehe das anders: Es geht nicht darum, ob Gott, der BGH, der Bundestag usw. meine Ansicht legitimiert, sondern darum, ob meine Ansicht die aus den Fugen geratene Welt gestalten hilft. Aber nun zurück zu der allgemeineren Frage unabhängig vom jeweiligen Thema.

Ein wichtiger Satz des irischen Philosophen Edmund Burke (1729-93): „Alles, was das Böse braucht, um zu obsiegen, ist das Schweigen der Guten.“ Wie kommt man aus dem Schweigen heraus? Das geht mit den folgenden drei Schritten:

  1. Die gute Analyse, vor allem die Analyse der Gründe, warum etwas so ist, wie es ist.
  2. Der Dialog. Man kann nur mit anderen zusammen herausfinden, ob diese Ideen richtig sind, und
  3. das Mitteilen dieser Ergebnisse. Beteiligung an Schaltstellen ist dafür Voraussetzung.

Denken wir strategisch. Folgende Prinzipien für eine Gestaltung der Welt halte ich für systembildend, auch wenn sie zu unserer ökonomisch durchrationalisierten Welt nicht passen:

 

1. Ketten in unserem Kopf

 

Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten … (Volkslied, Hoffmann von Fallersleben)

Angekettete Gedanken verlieren ihre Überzeugungskraft

Häufig wird die Behauptung des anderen als Ideologie bezeichnet, also als Unwahrheit. Ideologie gilt immer als eine Art verdrehter Wirklichkeitsbegriff. Aber wer entscheidet dann darüber, ob etwas verdreht oder wahrheitsgetreu ist? Beruhen die Behauptungen von PEGIDA oder die der Linken auf Wahrheit? Meines Erachtens ist die einzige Möglichkeit, Ideologie zu entlarven, das Überprüfen ihrer Diskursfähigkeit. Halten unsere Behauptungen Diskussionen aus? Der schottische Philosoph Shaftesbury wollte Ideologien dem „test of ridicule“ (Test der Lächerlichkeit) unterziehen. Warum nicht? Lachen bringt oft die Wahrheit ans Tageslicht, die Politiker lachen mir viel zu wenig.

Aber machen wir aus dem Ideologieverdacht nicht allzu leicht Munition im Kampf gegen andere? Sperren der Weltgestaltung sind immer wechselseitig. Wir hinterfragen damit Ideologien der anderen, aber auch die von uns selbst. Unsere Meinungen fußen immer auf Vorgaben, z.B. aus Wirtschaft, Politik, Kultur, Humanwissenschaften, Statistiken, sozialen Strukturen usw.

Wir brauchen diese Kategorien, wenn wir unsere Argumente und die anderer hinterfragen. Welche Interessen stecken hinter diesen Argumenten? Welche Ziele verfolgen sie? Gestalten sie wirklich unsere Welt?

 

 2. Herrschaft durch Bürokratie

 

Charles Dickens erfand in seinem unübersetzten Roman (Little Dorrit, 1855-57) ein Verzögerungsamt („circumlocution office“) zur Entlastung der Staatsverwaltung.

Henri Lefebvre (1901 – 1991) war einer der „Väter“ der  Pariser Studentenunruhen 1968. Er studierte Philosophie bei dem katholischen (!) Philosophen Maurice Blondel in Paris. In „Kritik des Alltagslebens“ (1987) kennzeichnete er das Wesen der Bürokratie durch eine sehr ausdrucksstarke und mir sympathische Beschreibung folgender Momente, genau damit werden wichtige Elemente der Bürokratie benannt:

  • die Undurchschaubarkeit bzw. der Geheimnischarakter des Staates und
  • die Ausübung von Kontrolle durch den Staat

Weitere Kennzeichen sind die

  • Formalisierung der Strategien,
  • Entscheidung durch inkompetente Gesetzesausleger und
  • fehlende demokratische Beteiligung.

Meines Erachtens war das Dilemma der Verwaltung der Bürger durch bürokratische Instanzen nicht mehr aufhaltbar, je größer der Regelbedarf der modernen Industriegesellschaft wurde. Jedoch wurde die Zuständigkeit staatlicher Institutionen geschwächt, sie können – Volkssouveränität hin und her – weder Produktion noch Kontrolle aufrechterhalten.

Man denke an Beispiele wie Medizin, Städteplanung, Straßensanierung usw. Mir liegt die Städteplanung – ich übergehe das Desaster der Medizin, das ich an vorderster Front erlebt habe – am Herzen. Seit ich nach Freiburg kam, habe ich drei Universitätsbibliotheken erlebt. Was ihre Gestaltung und ihr Ausleihsystem angeht, bin ich als Universitätsangehöriger nie befragt worden. Die Entscheidung haben die getroffen – entschuldigen Sie die vermeintliche Einbildung, aber es geht ja um Erfahrung -, die eine Universität nicht von innen gesehen bzw. erlitten haben. Übrigens, die dritte UB musste die riesige Westfront der Fenster nachträglich verkleiden, weil die Sonne – die dort wahrlich oft scheint – die Autos auf der Straße davor blendete. Und der Steuerzahler hält still.

 

3. Autonomie

 

Wenn ich nicht zu dem stehe, was ich will, kann auch

der Andere nicht wissen, was er mit mir anfangen soll.

In der griechischen Antike galt als Kennzeichen der Freiheit für die dortigen Stadtstaaten, sich selber Gesetze (griechich autós nómos) zu geben. Aktuell wird in allen Humanwissenschaften (z.B. Wirtschaftsethik, Medizinethik, Psychologieethik, Journalismusethik usw.) diese Autonomie groß geschrieben. Warum? Weil es modern klingt? das Prinzip der Autonomie erscheint allzu selbstverständlich, wenn man nicht die Engpässe mitdenkt:

  • Wann verlässt man sich auf Autoritäten, anstatt selber für Ziele verantwortlich zu sein? Erträgt man so viel Unsicherheit?
  • Wieviel Selbstbestimmung gesteht man anderen zu, die gegen die eigenen Traditionen und Maßstäbe verstoßen?
  • Kann man Anderen Autonomie einräumen, ohne selber an seiner eigenen Autonomie zu arbeiten?
  • Was sind die Abhängigkeiten, die die Autonomie untergraben?

 

Interessant ist die Argumentation von Lessing. Wenn Gott einem Menschen zwei Dinge zur Auswahl stellen würde, die Wahrheit und die Suche nach der Wahrheit, würde sich Lessing für die Suche nach der Wahrheit entscheiden. Der Mensch und sein Engagement zählen. Wenn man die Suche nach der Wahrheit als Haltung des autonomen Menschen versteht, akzeptiert man auch Fehler bei sich und anderen. Es kommt eben auf das Suchen an, nicht auf das, was man bereits zu ‚haben‘ glaubt.

 

4. Bürgersinn

 

Darin sieht Immanuel Kant „eine Vereinigung der Menschen […] zu ebendemselben Zwecke [= Erreichen eines selbstbestimmten Wertes, F.J.I.] zu einem System wohlgesinnter Menschen“

Werte (Foto A. Illhardt)
Werte (Foto A. Illhardt)

Diese Definition von Bürgersinn stammt von Kant in seinem Buch „Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft“. Ihr Sinn ist die weltbürgerliche Wertegemeinschaft. Vor vielen Jahren hat der amerikanische Theologe Harvey G. Cox Rom trotz Vatikan als „Stadt ohne Gott“ bezeichnet. Er begrüßte – ich sehe das auch so – Roms säkulare Aura und seine Urbanisierung. 50 Jahre später las man in der Presse (Juli 2015), dass der Bürgermeister von Rom die vielen Probleme der Stadt gegen die Mafia nicht lösen kann, weil die Römer eher auf dem Egotrip sind als Bürgersinn zu entfalten. Aber genau das wäre die wichtigste Option für Weltgestaltung, ohne sich auf letzte Instanzen zu berufen. Wenn der fehlt oder verkommt, ist Verantwortung für die Gestaltung unserer gemeinsamen Welt undenkbar.