Der Untertitel klingt wie ein harmloses Spiel zur Beschäftigung von Kindern bei einer ermüdenden Autofahrt. Ich fürchte, dass der Übergang zu Arroganz und Besserwisserei – hier von Gewissheit – irgendwie vorgezeichnet ist. Eine Volkskrankheit bricht aus. Worin besteht sie?
Es reicht uns, ungefähr zu sagen, was Gewissheit ist. Verzichten wir auf Details. Sie bedeutet von Entscheidungen und Verhalten anderer Menschen und Gruppen überzeugt zu sein. Diese Überzeugung beruht auf (1) Fakten, (2), Konsens oder (3) Vereinbarung (Dogmen, Gesetze, Regeln usw.) von Gruppen. Immer öfter begegnet uns eine Form von Gewissheit, die auf einer halbgebackenen Fakten- und unreflektierter Statistikkenntnis beruht. Drei Fragen beschäftigen mich: 1) Wie entsteht Gewissheit? 2) Wie gehen wir mit ihr um? Und 3) stellt unsere Gewissheit andere ins Abseits, wird also zum Trennungsmerkmal?
Der Untertitel „Epidemie der Gewissheit“ stammt vom Neurobiologen R.A. Burton. Viele halten ihre Meinungen für absolut gewiss und bewiesen. Wenn sie einmal diese Position beziehen, bringen sie – wie es in der Politik so schön heißt – null Toleranz auf. Wenn Trump etwa behauptet, Impfungen führten zu Autismus, ist das kurioser Blödsinn. Oder wenn ein Journalist sagt: „Ich lasse mir durch Fakten doch nicht meine Story kaputt machen“ – ist das ähnlich, aber wie auch bei Trump schlimm, weil Menschen für dumm verkauft werden und damit der erste Schritt zur „Lügenpresse“ getan ist. Gewissheitsfanatiker gibt es immer mehr, damit auch immer öfter eine soziale Aura von säkularisierten Glaubenskriegen.
Wieso? In fast jedem Gespräch habe ich es mit Leuten zu tun, die vor Gewissheit strotzen und sich nicht anhören, was ich zu reden habe. Sie demonstrieren sehr bald, dass sie von etwas total überzeugt sind und das absolut richtig ist – das was ich zu sagen habe, interessiert sie nicht. Als ich vor kurzem mit einem Sanitärfachmann über Wasserentkalkung redete, erlebte ich genau das: Er kannte die Lösung, alle Alternativen waren blöd. Ich auch.
Es gibt natürlich ernstere Themen von Gewissheitsproblemen: etwa das CETA-Abkommen der EU mit Kanada; oder den Fundamentalismus zur Weltentstehung, der sogar in der Schule zum Streitobjekt wurde; oder der Syrienkonflikt, der wegen des Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten mit den hinter ihnen stehenden Nationen unlösbar wird; oder der Klimawandel; oder Sexualmoral (sogenannte Homoehe); oder die Sterbehilfe, über die im Bundestag (Volksvertreter wissen alles!?) debattiert wurde; oder die Häufigkeit und Intensität der Erkrankungen; oder die Inklusion in der Schule; oder die Verteilung der Gesundheitsmittel usw.
Leider gibt es sehr viele Themen, die zum Dauerkonflikt geworden sind. Fischbestände, Sauerstoff, Haie etc. nehmen ab, Fleischkonsum, Frachtschiffe, Plastikmüll etc. nehmen zu … Man könnte so weitermachen, aber da stockt einem das Blut. Erstens, es kommt bei unserer Verantwortung für den Zustand der Welt nicht auf Wissen (Gewissheit) an, sondern auf das Tun, auch auf das Tun in Verantwortung für andere. Wir tun zu wenig. Zweitens, Realität ist ein Teil von uns. Nicht in der Welt draußen geht vieles kaputt, sondern in uns. Gewissheit zielt genau daneben.
Warum? Weil Menschen, die sich allzu gewiss sind, oft die Grenzen und die Hintergründe der Gewissheit nicht in Frage stellen. Man denkt nicht selber, gestaltet nicht selber seine Welt, fühlt sich für sein und der anderen Wohl und Wehe nicht verantwortlich, sondern gibt alles bei denen ab, die Gewissheit inszenieren und abhängig machen. Aus Macht wird Machtlosigkeit. Autonomie ade!
Wie kommt eigentlich Gewissheit zustande? Gewissheit in der Beschreibung von Realität, Bewertung, Theoriebildung usw.? Egal was, es geht nur über Bedenken der eigenen Perspektive. Das habe ich bei dem belgischen Maler René Magritte gelernt, der viel mit dem Philosophen Michel Foucault korrespondiert und zusammen mit ihm ein Buch geschrieben hat. Ihr Problem: Wie nimmt man Wirklichkeit wahr? Wir nehmen in Bildern wahr. Aber Bilder sind Konstruktionen. Ist Realität auch eine Konstruktion? Kann man Realität ohne die Perspektive des Wahrnehmenden überhaupt verstehen? Der Mensch ohne Perspektive – so das Bild von Magritte – ist der Gefangene. Denken wir etwa an den Irakkrieg. Wir wurden mit Fernsehbildern abgespeist, sie schienen realistisch, aber waren sie nicht getürkte Konstruktionen? Realität kann zur Täuschung werden. Um Realität zu verstehen, müssen wir unsere Perspektive verstehen. Ist das nicht klar, ist Gewissheit wirklich – nicht nur bei Nietzsche – ein Fall für die Psychiatrie.
Was können wir gegen den Gewissheitsunsinn tun?
1. Gemeinsamkeiten herausstellen
Jede Ansicht zielt auf etwas ab, das vielen gemeinsam ist. Nehmen wir den Klimawandel als Bespiel: Manche hoffen, dass Trump nach Harvey, Irma und Maria endlich bereut oder zurücknimmt, was er gegen das Pariser Abkommen eingewendet hat. Aber nicht der Klimawandel ist bewiesen, sondern die starke Erwärmung des Wassers über 26º C durch immer heißer werdende Sommer führt zu Hurricanes. Das ist noch nicht zwangsläufig ein Beweis für den Klimawandel, sondern „nur“ ein Beweis für eine Tendenz und die Gefährdung der Lebenswelt.
Genau das aber ist das gemeinsame Ziel der Befürworter und Gegner der Theorie des Klimawandels. Missionieren wir nicht die Gegner des Klimawandels, sondern konzentrieren wir uns auf die gemeinsame Ziele: Rettung der Lebenswelt und Nachdenken über die eigene Perspektive. Ich schäme mich heute noch, als ich vor Jahren einen Anhalter mitnahm und die langweilige Autobahnfahrt mit einer Diskussion über Klimawandel anreicherte durch unseren Grabenkrieg garnierte. Zwei Gewissheitsfanatiker im Clinch.
2. Kultur des Zweifels
Dem Bundestag hielt der damalige Bundestagspräsident Lammert eine Philippika: Der Gewissheitshabitus der Abgeordneten bezüglich Sache und Benimm sei falsch. Dagegen setzte er eine „Kultur des Zweifels“, das heißt z.B. niemals auf die eigene Perspektive und die der anderen verzichten, nichts behaupten, ohne die Interessen der anderen zu respektieren. Gewissheit mit verstopften Ohren darf es nicht geben.
Schön, dass er der Politik das ins Stammbuch schrieb. Aber es hat, so scheint es, nichts genützt, wenn man an den Wahlkampf denkt oder an erschlichene Doktortitel. Auf Gewissheit kommt es an. Noch beunruhigender ist es, wenn bei immer mehr Menschen nur die eigene Meinung zählt. Warum bedeutet Zweifel so wenig?
3. Fragen nach WARUM und WOFÜR
Wenn man weiß, warum eine Ansicht entstanden ist und was sie damit bezweckt, versteht man sie besser. Also sollte man auf solche Hinterfragungen mehr Wert legen. Beispiel: Klimawandel, zum WARUM: Wir diskutieren darüber, weil wir die Welt zunehmend zerstören. Bei dieser Diskussion berufen wir uns immer mehr auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Sie haben uns angeregt, aber wir sind weder Kanzelschwalben, noch Experten der Ökologie. Was wollen wir und die Anderen wirklich? Zum WOFÜR: Wir wollen die Welt erhalten, um besser in und von ihr leben zu können. Gefährdung der Natur bedeutet Gefährdung unserer Ressourcen. Nicht die Theorie ist unser Problem..
Das übersehen wir gerne. Wir sind Natur, und wir brauchen sie. Was wir nicht brauchen, ist eine Theorie oder ein Sieg der gescheiten Halbbildung.
4. Gedankenexperiment: Zynismus
Was mir so sehr imponiert, ist bei Kabarettisten (nicht die Albernheiten der sog. Commedians) der Umgang mit Sprache. Von einem Kabarettisten bekam ich (mich interessiert Fußball eigentlich nicht) folgendes Ereignis mit: Der AfD-Vorsitzende Gauland meinte, das man den schwarzen Fußballer Boateng nicht als Nachbarn dulden und ihn zurückschicken solle. Mit Entsorgungen kennt sich Gauland aus. Nachfrage bei Google: Boateng ist in Berlin geboren, sein Vater kommt aus Ghana, seine Mutter aus Deutschland. Zurückschicken geht nicht, aus Gauland spricht der pure Rassismus. Der Kabarettist meinte, man solle Boateng ruhig nach Ghana zurückschicken – die Ghanaer würden sich freuen. Und Gauland dafür in die Nationalmannschaft stecken – die Deutschen würden sich eher nicht freuen.
Das ist Zynismus. Er deckt den Unsinn hinter einer Aussage oder einer Idee auf. Hinter so vielen politischen Ideen, Betriebsansprachen, Erziehungstheorien usw. steht Gerede, aber niemand kennt die Interessen und Perspektiven derer, die reden oder betroffen sind. Apropos, woher weiß Opa Gauland, was die Interessen und Perspektiven der Nachbarn von Boateng sind? Hoffentlich weiß er, was er will. Förderung des guten Lebens und Zusammenlebens eher nicht.
5. Eine Idee
Kürzlich las ich über den brasilianischen Dramaturgen Augusto Boal. Nach einer gemeinsamen Berliner Zeit mit Bert Brecht in den 60er Jahren entwickelte er nach seinem Exil in Brasilien das „Theater der Unterdrückten“ (Bárbara Santos). Sein Ziel war das selbständige Verstehen von Theorien und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Was hat das mit Gewissheit zu tun?
Viel. Die Idee von Boal lässt sich leicht übertragen in unsere gegenwärtigen westlichen Industrienationen. Unterdrückung ist nicht mehr nur die Abhängigkeit von Produktionsmitteln und Kapital, sondern in unserer Wissensgesellschaft die Abhängigkeit von Wissen und Gewissheit anderer. Boals Ziel – selbständiges Verstehen von Theorien und gesellschaftlichen Zusammenhängen – ist nach wie vor wichtig, weil es autonom macht. Denken wir nur an die Phrasendrescherei vieler Politiker, sie macht uns abhängig. Stattdessen basieren Wissen und Gewissheit auf unserem Verstehen, nicht auf der mentalen Lufthoheit anderer. Wir müssen die angeblichen Gewissheiten zerstören, nur unser Verstehen zählt.