Was manche über das Altern denken
Statistische Meinungsforschung

Immer mehr verschwindet das Bild vom Alten und seiner Unantastbarkeit. Die Alter(n)smedizin hat in der letzten Zeit ein ziemlich anderes Bild mit Umfragen herausbekommen: Diskriminierung, Gewalt, unfaire Mittelverteilung.

Covid 19 zeigte es. Auch ich gehöre zur Risiko-Gruppe der Alten. Einer Risiko-Gruppe anzu­gehören ist eine Art Stigmatisierung. Ausgehverbot für Ältere wurde Gott sei Dank nicht umgesetzt, aber diskutiert. Sind Ältere Keimschleudern? Oder sind sie eine verletzliche Gruppe, die besonderen Schutz braucht? Was bekommen die Älteren: Mitleid oder faire Zuteilung von Rechten? Natürlich gibt es keine Antwort, es kommt auf die Perspektive an, eben darauf, wie man Alte sieht.

In der 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde in der englischen Altersmedizin das Wort „ageism“ (age und ism) geprägt. Dem folgte das deutsche Wort „Ageismus“ (das englische „age“ plus dahinter das deutsche „ismus“). Es bedeutet Altersdiskriminierung. Kommen wir zur Sache. Was steckt dahinter?

Wichtig sind für das Wohlbefinden älterer Menschen die sog. 4 I’s der Altersmedizin.Sorge dafür übernehmen Pflege, Krankengymnastik, Logopädie, Psychologie, Sozialarbeit, Ergotherapie und andere Expertengruppen.

4 I´s der Altersheilkunde (Franz Josef Illhardt)
4 I´s der Altersheilkunde (Franz Josef Illhardt)

Zum Bild des älteren Menschen gehören oft diese 4 I’s. Das Problem ist nicht, wie wichtig sie sind, sondern wie wir anderen mit diesen 4 I’s umgehen. Agismus ist ein prägendes Moment des Umgangs.

Dazu eine Geschichte:

Buch von Bertolt Brecht "Die unwürdige Greisin"
Buch von Bertolt Brecht „Die unwürdige Greisin“

Von Bert Brecht stammt die Erzählung „eine unwürdige Greisin“ in dem gleichnamigen Taschenbuch mit vielen kurzen Geschichten.

Nach dem Tod ihres Mannes will die alte Frau immer weniger Kontakt mit der Familie. Ein Enkel ist der Erzähler. Sie geht mittags in ein billiges Restaurant, sie ist den Frondienst des täglichen Kochens leid. Ihre Gesprächspartner sind Leute aus einem nicht anerkannten Milieu.

Zum Lachen reizt ein Bericht, sie gehe zu oft ins Kino. Ein Sohn, der das gesteckt bekommt, schaltet den Pfarrer ein, weil sich die alte Frau, wie der Sohn glaubt, „unwürdig“ benimmt und man den Pfarrer für kompetent in würdigem Verhalten ansieht. Die Alte gibt nicht das Kino auf, sondern lädt den Pfarrer ins Kino ein, was er vor lauter Würde natürlich nicht tut. Man bedenke, dass Kinos Anfang des letzten Jahrhunderts – die Geschichte schrieb Brecht 1939 – als etwas Frivoles galten.

Brecht klagt nicht an, sondern berichtet – aber so, dass zwischen den Zeilen Absurdität durchklingt. Gemessen an der Klinik war Brecht eher eine Softversion.

Vorausgeschickt seien drei Bemerkungen:

  • Es geht nicht um die Frage, ob die Jungen oder die Alten recht haben. Die Perspektive ist wichtig, weil bisher die Alten als die Unberührbaren galten („Vor Greisengrau verneig dein Haupt.“ [Sprichwort]).
  • Lebensjahre: 60 bis 85 Jahre zählen als Alter je nach Konstitution unabhängig von den jeweiligen Altersstufen (vorher „hohes Erwachsenalter, danach „hohes Alter“).
  • Altersmedizin: In der Geriatrie gilt Alter ab 60 plus mindestens drei systembedrohende Krankheiten.
  1. Woher kommen Diskriminierungen?

Zunächst ein paar Informationen. Im Alltag begegnen Beobachtungen wie

  • unangemessene Betreuung und Versorgung
  • fehlende Auseinandersetzung mit Problembereichen des Alterns
  • Verkindlichung bzw. Verniedlichung alter Menschen
  • Vorurteil, alte Menschen seien nicht mehr therapierbar bzw. “therapieunwürdig“
  • wirtschaftliche Belastung der Gesellschaft durch demographische Alterung
  • Kategorie der Rest-Lebenserwartung bei Einstellungen, Versicherungen usw. Älterer
  • Sprachliche Verunglimpfungen wie “alter” Esel u.ä.
  • Keine Bankkredite nach Berentung oder Pensionierung

Das sind einige Beobachtungen. Was aber sind die Gründe? Einige Gründe liegen sicher darin, dass die Gene­rationsverhältnisse anders geworden sind. Bis etwa Mitte 1900 gab es viele Junge und wenig Alte, zurzeit aber gibt es viele Alte und wenig Junge. Im alten Rom galt ein Mann mit 40 als Greis. Generationsverhältnisse sind sehr oft auch Konfliktauslöser.

Wie man damit umgeht, ist aktuell ein großes Dilemma – v.a. ein Problem der Fairness.

Eine besondere Frage ist die einseitige Perspektive. Die betrifft bei Weitem nicht nur die speziellen Gruppen über 65. Viele – auch jüngere – gehen von ihrer eigenen Überzeu­gung aus, sehen sie als allein richtig an und verteidigen sie als allein­selig­machend. Die Gründe dafür sind oft Vor-Urteile und Klischees, also nicht überprüfte Urteile. Aber auch eine überdimensionierte Portion Egozentrik.

Genau da liegt das Problem. Die Perspektive wird eng und enger. Man sieht Gründe, aber man arbeitet nicht daran. Gründe, und seien es nur Vorurteile, werden gleichsam eingefroren. Die Theorien sind „heute“ so wie „gestern“ oder „morgen“. Kein Zuwachs, keine Weiterentwicklung. Beispiel: Man sieht kognitive Einschränkungen der Alten, man nennt das die Einschränkung rationalen Denkens. Aber man übersieht (oder weiß nicht), dass Alte neue Informationen weniger speichern (fluide Intelligenz nimmt ab), dafür aber Wissen, Können und Erfahrungen einbringen können (kristalline Intelligenz). Geht man davon aus, dass es nur eine Intelligenz gibt? Und wieder droht Ageismus.

Jean-Jacques Rousseau beschrieb das Problem sehr treffend:

„Die Jugend ist die Zeit, die Weisheit zu lernen. Das Alter ist die Zeit, sie auszuüben.“

In jungen Jahren Weisheit zu lernen, gibt es das? Weisheit ist Können und Erfahrung, wie gerade gesagt wurde, also gleichsam Bewertung und Kritik des Gelernten. Passiert das in der Schule? Das Versäumnis der Bildungspolitik ist die Hypothek des Alters. Viele bleiben dabei: Wir wollen 30jährige mit 60 Jahren Erfahrung.

  1. Gewalt gegen Alte

Der englische Soziologe Mervyn Eastman wollte das Gewaltverhalten gegenüber Älteren untersuchen und annoncierte darum in einigen Illustrierten, für sein Projekt Versuchsteilnehmer zu gewinnen. Nach einigen Tagen kamen Leute von Scotland Yard, die das Projekt für unziemlich hielten und notfalls mit Polzeigewalt gegen den Bösewicht Eastman vorgehen wollten. Aber die Polizei war einsichtig.

Gewalt gegen Alte – eine soziologische Erfindung? Nein. Ein paar Beispiele aus einer gerontologischen Liste für Gewalt gegen Alte:

  • Liebesentzug bei „Ungehorsam“
  • Vorenthalten von Medikamenten
  • Schlafentzug
  • Aberkennung der Autonomie im Alter
  • Bestrafung bei Sucht (ein leider sehr häufiges Problem alter Menschen)
  • Dramatisierung von Stuhl- und/oder Urininkontinenz
  • Abschieben in Heime
  • Körperliche und/oder emotionale Bestrafung

Wir müssen wieder nach den Gründen fragen. Die häufigsten sind die folgenden.

Cartoon von Peter Butsch¬kow mit seiner Erlaubnis nach Empfehlung der Fischer-verlage
Cartoon von Peter Butsch¬kow mit seiner Erlaubnis nach Empfehlung der Fischer-verlage

Erstens: Die Autonomie der Alten wird oft nicht anerkannt. Seltsam, bei Kindern und Alten wird die Autonomie seltener respektiert, sonst würden die Rechte der Kinder – Deutschland weigert sich immer noch – ins Grundgesetz aufgenommen. Wie steht es mit dem Recht der Alten? Null.

Bleiben wir bei der Praxis. Warum wird die Autonomie der Alten oft nicht respektiert? Aus mehr oder weniger einsehbarem Grund. Junge ändern oft ihren Lebensrhythmus, Alte brauchen Kontinuität. Recht haben meist die Jungen. „Recht“ wie richtig oder „Recht“ wie Menschenrecht?

Zweitens: Alte machen oft Dinge, deren Konsequenzen sie in einer ihnen unbekannten Welt nicht einsehen. Gewalt wird oft angewendet, ist aber oft das Diktat der Jüngeren. Vor allem bei beginnender Demenz gibt es Probleme, aber auch im normalen Alltag.

Gewaltanwendung ist leider sehr oft verbunden mit Rechthaberei. Angenommen die Alten sind die Rechthaber. Man kann Rechthaberei nicht mit Gewalt bekämpfen, also wie es in der Bibel so dramatisch heißt, den Teufel nicht mit Beelzebub austreiben. Kommunikation zwischen den Generationen ist allzu oft ein Problem, das man nicht aus dem Bordgepäck löst, zumal Kommunikation unter Generationen oder sogar unter Partnern selten wichtig genommen wird.

Schließlich gibt es ja noch professionelle Hilfe bei Sozialarbeitern und Psychologen. Neben den Einrichtungen von Caritas und Diakonie ist Beratung empfohlen bei der Bundesarbeitsgemeinschaft der Klinisch-Geriatrischen Einrichtungen in München.

  1. Mittelverteilung im Gesundheitswesen und die Alten

In den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts entspann sich, ausgehend von den USA, eine aufregende Diskussion. Wer bekommt die notwendigen medizinischen Ressourcen, die immer auch finanzielle Ressourcen sind? Etwa die Hüftprothese für den alten Mann mit 70 oder die junge Frau nach dem Verkehrsunfall mit drei kleinen Kindern?

Diskutiert wurde die Frage bei amerikanischen Medizinethikern, ab welchem Alter Intensiv­medizin angewendet werden sollte. Mit 70 gibt es nur noch Schmerzbehandlung, ab 60 Operation mit der üblichen Intensivmedizin, vorher Intensivbehandlung auch ohne Operation, hieß es vielfach in den USA. Die Aufregung in Deutschland war groß, aber Aufregung löst keine Probleme.

Ein Blick in unseren medizinischen Alltag. Verteilung medizinischer Mittel wird hierzulande nicht an Altersgrenzen festgemacht. Stattdessen wird eine medizinische Behandlung nur denen zugeteilt, denen die fragliche Behandlung nützen wird. Eine Altersbegrenzung wird abgelehnt und vielmehr an Lebensqualität festgemacht. Ist das die Lösung?

Wohl kaum. darf nicht am Krankenbett entschieden werden. Man sprach von der Mittelverteilung mit eingebauter Lüge. Man stelle sich folgende Szene vor: Die Behandlung kann nicht bezahlt werden. Aber der Doktor sagt, um den Patienten nicht zu kränken: „Die Behandlung bringt nichts, nur Schmerzen.“ Dann ist die Lösung kostengünstig.

Wenn es eine Lösung gibt, dann muss der gesamte Prozess der Mittelverteilung besprochen werden. Moralische Entrüstung hilft nicht. Zunächst wird der Bundeshaushalt aufgeteilt, so und so viel Prozent bekommt die Medizin, die Bildung, die Wirtschaft usw. Danach wird entschieden, welche medizinischen Einrichtungen mit wieviel Geld bedacht werden. Das Geld, was am Ende ankommt, muss auf die verschiedenen Abteilungen verteilt werden, auf Pädiatrie, Kardiologie usw. Wieviel bekommt die Altersmedizin? Erst dort, etwa auf der Station x, entsteht das Dilemma, wer warum welche Behandlung bekommt. Der Arzt auf der Station hat die A…-Karte. Wer am meisten mit der konkreten Behandlung zu tun hat, hat die wenigsten Lösungen.

Immer noch steckt in unseren Behandlungsplänen ein Quantum Ageismus. In der Medizin wird oft die Rationierung diskutiert, die konkrete Entscheidungen beinhaltet. Gelegentlich sind es versteckt altersbedingte Entscheidungen. Darf Alter Entscheidungen prägen? Nein. Wenn Alter, dann muss zwischen kalendarischem (Geburtsdatum) und biologischem (Energie, andere Erkrankungen usw.) Alter unterschieden werden.

Und schon beginnt die Ethikberatung im Krankenhaus. Welche Blickwinkel die Station einnimmt und warum, gehört besprochen – sei es mit Ethikexperten oder in der betroffenen Gruppe eventuell mit Angehörigen.

Quintessenz

70 jährige Tibeterin (eigenes Foto, Einwilligung)
70 jährige Tibeterin (eigenes Foto, Einwilligung)

Es geht nicht darum, ob die Alten oder die Jungen recht haben. Es gibt Fachaufsätze über die „verschwenderische Generation“ („prodigal generation“) der älteren Erwachsenen, die den Jungen Hypotheken aufbürden, um sich selber aktuell Vorteile zu verschaffen. Dem gegenüber – leider oft beobachtet – werden Interessen Älterer oft nicht respektiert.

Dieser Aufsatz sammelt keine Beweise für oder gegen eine der Positionen. Er sammelt Perspektiven und findet es schlimm, dass Hintergründe für die Perspektive des Ageismus in der Öffentlichkeit selten zur Sprache kommen.

Fassen wir das alles zusammen. Dann ergeben sich einige wichtige Herausforderungen:

  • Stellvertreter für den älteren Menschen frühzeitig organisieren, solange noch Jüngere und Ältere gemeinsam entscheiden können.
  • Möglichst viele Entscheidungen gemeinsam treffen.
  • Wohngemeinschaften mit mehreren Generationen auch außerhalb traditioneller Dorfgemeinschaft wagen
  • Beschränkungen, aber auch Interessen der Älteren wahrnehmen.
  • Emotionale Reaktionen der Jüngeren bei sich selber wahrnehmen
  • Informationen über das Leben älterer Menschen respektieren

Entscheidend ist am Ende die Kultur der Kommunikation. Dazu gehören wechselseitiges Verstehen und Toleranz. Aber auch Streitkultur, jedenfalls das Gegenteil des Ageismus.

Kontakt: Joillhardt@web.de