Erotik ist grundlegend für die Philosophie. Edward Hopper malte das. Ein philosophierender Maler? Erotik ist für ihn eine Art Zauber, der nachdenklich macht. Und wirklich: Er denkt nach und kritisiert die Traditionen der Zeit.
Die bedeutendsten Ausstellungen mit dem Gesamtwerk Hoppers waren die 2004/5. in Köln, 2010 in Paris und 2020 in der Fondation Beyeler in Riehen (nahe bei Basel). Dort hat mich das Bild Hoppers mit dem Titel „Excursion into Philosophy“ (Ausflug in die Philosophie) besonders elektrisiert. Warum?
- In Bildern steckt mehr Philosophie, als man denkt.
- Gerade Hopper stimmt mich (und hoffentlich auch viele andere) nachdenklich.
- Das Thema „Erotik“ ist ein Stück Wirklichkeit, an der man nicht einfach vorbeigehen darf.
In der Fondation Beyeler wurde ein Film von Wim Wenders über Hopper gezeigt. Beide waren Liebhaber des Kinos, auch Regisseure ließen sich von ihm inspirieren. Hoppers Bild „Haus am Bahndamm“ wurde z.B. von Hitchcock in „Psycho“ übernommen
Unser Eingangsbild erscheint melancholisch. Ist Hopper ein Pessimist, fragte ein Interviewer. Hopper antwortete: „Ich glaube schon. Ich bin nicht stolz darauf.“
- Warum dann dieses Bild?
Weil es alles andere als Tristesse transportiert. Es ist kein Bild, das einen nach dem Bettgeflüster deprimiert hinterlässt und eher Psychotherapeuten beschäftigt. Schauen wir genauer hin. Die beiden auf dem Bett sind offensichtlich Hopper und seine Frau Jo mit ihrem rot-braunen Haar, die er auch unbekleidet malt. Ihr Hinterkopf liegt ganz nahe an seiner Seite.
Irritierend ist, dass hinter der Frau im kurzen Hemd vorn auf dem Bett der offiziell gekleidete Mann sitzt und (wie wir gleich erfahren) nachdenkt. Vorausgegangen ist nicht irgendein Partnerstress: missglückter Sex, Nebeneinander-her-Leben, oder ähnliches.
Warum die leichtbekleidete Frau und der offiziös gekleidete Mann? Es geht um zwei verschiedene Rollen und deren lebendiger Beziehung. Offensichtlich besteht eine Beziehung. Die Beziehung bringt den Mann zum Grübeln: sein und unser eigentliches Problem.
Neben ihm liegt ein Buch. Er hat es beiseitegelegt. Denkt er nach? Später sagte Hopper, dass dieses Buch das „Symposion“ von Platon (griech. für Gastmahl/Trinkgelage) sei. Warum liest er gerade dieses Buch? Die Teilnehmer des Symposions reden über Erotik. Der Komödiendichter Aristophanes und Platons Lehrer Sokrates sehen in der Erotik das Bild vom Menschen als Kugel, der in zwei Hälften geteilt und seitdem auf der Suche nach der fehlenden Hälfte ist. Menschen suchen nach der Vereinigung und damit nach Vollendung des Daseins. Das Märchen von der „platonischen Liebe“, dem asexuellen Eros, ist der Versuch, Erotik von ihrem tiefgründigen Zauber zu entkleiden.
Das soll die Basis der Philosophie sein? Erotik ist mehr als das, was da abläuft und oft in Sex mündet. Sie ist Sehen und Gesehen-Werden. Nähe, aber auch Distanz. Wollen und Gewollt-Werden usw. In einem Wort: Körperdialog.
Und dann noch das grelle Licht aus dem offenen Fenster – ein Stilelement von Degas. Helligkeit ist Klarheit, es ist Folge vom Nachdenken. Hoppers Stil: Er lässt Gebäude, Dinge und Menschen – so auch dieses Bild – in neuem Licht erscheinen und hebt ihre banale Funktion auf.
Fangen wir ganz vorn an. Wer war Edward Hopper?
- Biographie
Die sehr kurze Biographie orientiert sich im Wesentlichen an den Punkten 3) und 4).
- Kritik des American dream
The American dream (der amerikanische Traum) ist geprägt von Technik, Produktion und Tugenden, die genau das unterstützen. Hopper scheint zunächst diese Welt der Lust- und Beißgesellschaft darzustellen. Aber Vorsicht: Man übersieht gern den Hintergrund.
Hoppers Malerei ist geprägt vom Realismus. O.K., aber nicht nur. Dann würde seine Malerei mich nicht berühren. Ich sehe darin bei ihm Pragmatismus, nicht nur Realismus. Er bildet die Dinge ab, wie sie sind. Aber kann man die Dinge sehen ohne Perspektive und Hintergrund? Hopper würde sagen: Nein! Pragmatismus interessiert sich nicht für die Dinge, sondern für unsere Betroffenheit. Und genau da wird er zum Kritiker des American dream bzw. unser aller Traum.
Manchmal wurde Hopper mit dem realistischen Schriftsteller Hemingway verglichen, der den amerikanischen Traum eher verherrlichte; Männer, die stark sind. Frauen, die tugendhaft, dem Mann untergeben und schwach sind. Technik, die den Alltag prägt und die Natur beherrscht. Hopper denkt ganz anders als Hemingway, er verkehrt den amerikanischen Traum in sein Gegenteil.
Seien wir nicht hochnäsig: Der amerikanische Traum sitzt uns allen in den Knochen, den Alten mehr als den Jungen. Die amerikanische Burger- und Coca-Cola-Romantik lebe hoch! oder? Es wird Zeit für ein anderes Bewusstsein. Bei U. Timm fand ich eine sehr prägnante Beschreibung, „prägnant“, weil sie m.E. haargenau auf Hopper passt: Unsere Kultur – er meinte den Berliner Kulturbetrieb – muss von ihren vergessenen Wahrheiten befreit werden.
Hoppers Bild zeigt einen Mann, der grübelt. Es verrät nichts von Technikverehrung. Also genau das Gegenteil des amerikanischen Traums darstellt. Neben dem Mann liegt ein Buch. Er und die Frau hinter ihm haben sich geliebt und tun es offensichtlich immer noch, sonst würde sich der Mann sicher nicht mit Platons „Symposion“ beschäftigen. Das Buch spricht von Liebe. Die kommt im American dream nicht vor.
Liebe ist Essenz des Menschen. Auf Liebe verzichten ist der Untergang des Menschen. Deswegen verstehe ich Hopper und viele seiner Bilder als Revolte gegen eine Welt, die von allem Möglichen, vor allem von Technik, beherrscht wird. So unser Titelbild: Der Mensch ist nicht mehr der Akteur seiner Welt.
- Je näher, desto fremder
Halten wir die Frage fest: Was ist die Essenz der Intimität überhaupt und speziell die der beiden? Wenn Hopper Platon liest, hat er sich wohl auch mit den Fragen beschäftigt, ob Frauen und Männer, die beiden Halbkugeln Platons, wirklich zusammenpassen. Und wie wichtig ist also Erotik? Und bedeutet Erotik Ganzheit? Mit anderen Worten: Was ist das Verborgene der Intimität? Darin steckt eine Spur, die leider allzu oft verloren geht: Je näher man sich kommt, desto fremder wird die/der Andere. Denn Nähe erkennt immer mehr, dass die/der Andere Dinge verspürt, die man selber nicht beachtet. Es gibt Vorzüge, die man nicht teilt. Interessen, die verborgen bleiben. Wünsche, die verschieden sind usw.
Jeder Mensch hat (laut dem psychologischen Yohari-Fenster) verschiedene bekannte und unbekannte Seiten, links das, was uns bekannt ist, rechts das, was wir nicht sehen. Die/der Andere sollte es einfach respektieren und nicht auf Psychotrip gehen. Vor allem sollte er respektieren, was ich geheim halten will und niemanden etwas angeht. Zusammenleben schließt ein, die Fremdheit sowohl bei sich selbst als auch beim Anderen zu akzeptieren.
Insofern bedeutet Nähe mit Fremdheit leben.
Sehen wir das als die Kernbotschaft der amerikanischen Welt. „Amerikanisch“ ist nicht Google Maps, sie ist Typ unserer global gewordenen Welt. Wir blenden Fremdheit aus, auch die Fremdheit in uns. Lassen wir unsere Fremdheit zu? Und erlauben wir den Anderen, das Fremde mitleben zu lassen? Hopper würde sagen: Das muss sein. Schlimm, wenn wir es nicht tun.
Langer Rede kurzer Sinn
Nähe ist (nicht immer) einfach, oft ist sie ein Wagnis. Aber Nähe offenbart Fremdheit. Die/der Andere ist kein Objekt, das man durch und durch kennen und erforschen muss. Schwer ist, unsere Fremdheit und die Fremdheit der/des Anderen zu respektieren. Was ist daran Philosophie? Wir müssen begreifen, wie beides in den Horizont der Identität des Lebens eingebaut werden kann. Wer sind wir, dass wir lieben können? Und können wir lieben, ohne den Anderen ganz zu verstehen?
Nicht die Antwort zählt, sondern dass wir den Fragen nachgehen.
Hopper wurde als Chronist der amerikanischen Zivilisation bezeichnet, aber das in zweierlei Hinsicht: Chronist ist jemand, der die Gegenwart beschreibt und – ohne seine Beschreibung zu werten – akzeptiert. Chronist ist aber auch jemand, der die Gegenwart beschreibt (malt), jedoch auch kritisiert.
Ich sehe den kulturkritischen Hopper und seine Intention, einer von Technik beherrschten Welt Leben zurück zu geben. Das ist amerikanisch, sicher, aber auch unser aller Aufgabe.