Was ist eigentlich das Problem der Organspende? Spahns Parlamentsbeschluss sieht die rückläufigen bis katastrophalen Transplantationszahlen. Aber da fehlt die Solidarität. Das ist ein Fiasko. Warum?
Ein Graffitisprayer schrieb auf eine Wand: „Ich hatte eine Lösung, aber sie passte nicht zum Problem“. Er hatte damals sicher nicht Spahns Widerspruchslösung gemeint, aber grundsätzlich hätte das gepasst. Die Entscheidung des Parlaments verlieh der Frage der Organtransplantation (OT) nicht einmal den Stellenwert der Gewissensentscheidung, sondern blieb beim 0-8-15-Abstimmungsverfahren mit Parteizwang. Reicht das, wenn die OT so aus dem Ruder gelaufen ist? Nein! Warum?
Sehr plastisch ist der 1970er Aufsatz des amerikanischen Bioethikers James F. Childress. Sein sehr frühes Werk trug den aussagestarken Titel: „Who shall live when not all can live?“ (Wer soll leben, wenn nicht alle leben können?) Wie kann man eine Entscheidung rechtfertigen, bei der es voraussichtlich um Leben und Tod geht? Es gibt keine „saubere“ Lösung – also eine Lösung, die allen behagt: denen, die fürchten müssen, dass sie nicht überleben, ebenso wie denen, die ihre Organe aus vermeintlich gutem Grund behalten, also nicht spenden wollen.
Um das zu illustrieren, erzählt Childress von einem Schiffsunglück. (Neue Auflagen setzen andere Schwerpunkte.) Einige Passagiere retten sich auf ein Rettungsboot, das übervoll ist. Die Wasservorräte und Manövrierfähigkeit des Bootes bis zur vermutlichen Rettung reichen dann nicht mehr. Deswegen erschießt der auf dem Boot befindliche Matrose die überzähligen Geretteten. Nach dem (un)glücklichen Ausgang wird der Matrose angeklagt und verurteilt. Aber ohne seine Tötungsaktion hätte es keine Rettungsmöglichkeit gegeben. Childress‘ Vergleich von Erschießen und Transplantation zeigt die Ausweglosigkeit der Situation.
Der Ausgang der Schiffshavarie, alias Transplantation, ist beinahe unwichtig. Unter die Haut geht das unlösbare Dilemma: Das eigene Leben zu retten, so die Intention der einen, ist der Tod der anderen, ähnlich den Todesschüssen des Matrosen im Havariefall. Auch für das medizinische Problem gibt es keine Lösung, das scheinbar gut begründete Argument der einen ist der Tod derer, die mit einem neuen Organ weiterleben könnten. (Spahn kannte diese rettende Lösung? Gigantisch!). Man setzt wie die Groko die Lösung bei der moralischen Position an. Das bedeutet Unpersönlichkeit, es geht ja nur um politische Lösungen, nicht um Menschen. Offen bleibt dann das Problem der Verteilungsgerechtigkeit und das Individuum.
Es gilt in den meisten europäischen Ländern die Hirntodlösung. Nur in Spanien, Italien, Frankreich, Belgien und der Schweiz gilt die Herztodlösung. Der Unterschied besteht darin, dass nach der Hirntodlösung erst ein Organ entnommen werden darf, wenn das Ende der Hirntätigkeit festgestellt wurde. Der Hirntod setzt früher ein. Beim Herztod wird mit Organentnahme statt mit Reanimation reagiert
Denkt man darüber nach, dann geht es um geglücktes Zusammenleben, nennen wir es Solidarität. Achtung vor dem Wohl des Individuums wird nicht eigens genannt, weil sie gewissermaßen Grundbedingung der Solidarität ist. Ist Spahns Novelle der OT wirklich Solidarität, oder Zahlengeschacher? Und wieder einmal: Wir haben eine Lösung, aber sie passt nicht zum Problem. Knapp daneben ist auch daneben, sagte mein Narkosearzt.
Tragen wir einfach zusammen, welche Lösungen für die Transplantation (in der Medizin abgekürzt TX) praktiziert werden. Wie viel Soziales dabei eine Rolle spielt, interessiert besonders. Hier die fünf (oder genauer 5½) am meisten vertretenen:
Das ist eine Aufzählung von Lösungen, die in Gültigkeit waren oder zumindest Diskutiert worden sind. Eine Lösung kann nur dann akzeptabel sein, wenn sie 1) aus freier Entscheidung kommt sowie 2) Bedürftigkeit, die eigene und die der potentiellen Patienten, respektiert.
M.E. ist die Widerspruchslösung von Spahn ein guter erster Schritt, aber der zweite Schritt fehlt. Und das ist das Drama. Der zweite Schritt ist bisher nicht gekommen und kommt vermutlich nie. Solidarität steht im Gesetz einzubauen, und das war’s. TX bleibt damit reine Sozialtechnik. TX-Zahlen zu erhöhen ist dann eine rein strategische Lösung. Es geht darum, die Solidaritätspflicht bekannt zu machen und lückenloser zu gestalten. Erst dann funktioniert das Gesetz.
Funktioniert die OT ohne sozialen Zusammenhalt?
Beginnen wir mit einer Krise der TX. Die Organspende kam zuletzt 2012 ins Schlingern und hat sich bis heute nicht erholt. 2013 gingen die Transplantationen auf 876 von früher über 1000 Jahr für Jahr zurück, 2018 erreichte sie den niedrigsten Stand von 797. Warum? Wie in der Dieselaffaire. Schummeleien und Betrug ruinieren in beiden Bereichen Verlässlichkeit und Zusammenhalt, die Basis der Solidarität.
Man würde es sich zu einfach machen, würde man das Problem auf die Wirtschaftsschiene schieben. Die Organe mit den wichtigsten Befunden des Patienten werden nach Euro-Transplant (in Leiden, NL) gemeldet. Eurotransplant entscheidet (je nach Gewebeverträglichkeit, dringendem Bedürfnis des Patienten usw.), wohin das Organ geht. Dieses System kann nur beeinflusst werden, indem der Arzt die Dringlichkeitsstufe des Patienten heraufsetzt. Die Verwaltung und der Operateur bekommen eine finanzielle Gratifikation für die Ausstattung der Abteilung.
Das größte Problem der TX ist die Warteliste. In Deutschland warten laut DSO (= Deutsche Stiftung Organspende) 9.400 Patient*innen auf ein Spenderorgan, etwa ein Drittel der benötigten Organe steht mit Hilfe von Eurotransplant zur Verfügung. Und der Rest? Viele Patienten sind oder kommen in einen derart schlechten Gesundheitszustand, dass sie auf der Warteliste sterben, bevor sie das rettende Organ bekommen. Aus Hoffnung wird ein Drama der Angst.
Sehr interessant ist ein Vorschlag der Ärzte-Zeitung, die kritisch, aber sicher nicht „links“ ist, etwa Themen wie die TX offen diskutiert. Ein Beitrag zum Thema ist geradezu scharfzüngig: „Transplantationen: Zu viele scharfe Skalpelle“. Darin wird ein TX-Institut von Fachleuten und Laien als Lösung vorgeschlagen, und zwar nicht nur die Bundesärztekammer (BÄK) und die DSO, deren Aktivität in dem genannten Artikel als „Altherrensauna“ bezeichnet wird. Übrigens, die BÄK und die DSO haben einen Kommentar dazu abgelehnt.
Für solch ein zentrales Institut haben sich vor allem der ehemalige Tübinger kaufmännische Klinikchef Rüdiger Strehl und der damalige Freiburger Ärztliche Klinikdirektor Rüdiger Siewert eingesetzt. Ihr Vorschlag wurde jedoch abgeschmettert. Wenig später hatte – es muss „was“ getan werden – Spahn eine „bessere“ Idee, zumindest konservativere, weil Solidarität fehlt. Seine Widerspruchslösung ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber nicht enthalten sind:
- Aufklärung
- unparteiische Dringlichkeitseinstufungen der TX-Kandidaten
- unparteiische zentrale Entscheidung
- Respektierung der Autonomie der TX-Kandidaten
- öffentliche Diskussion,
Damit fehlt das Wesentliche. Statt Hüter unserer Werte (z.B. Solidarität) kam die schwäbische Sparversion von Spahns Widerspruchlösung mit ihren zahlreichen Geburtsfehlern. Die Änderung des bisherigen Gesetzes bezweckt insbesondere mehr Spendebereitschaft und eine bessere Vergütung (so Spahns Vortrag im Parlament). Wo bleiben unsere Anliegen: Aufklärung, Unparteiische Dringlichkeitseinstufung, Respektierung der Autonomie und öffentliche Diskussion?
Zum Abschluss sollte ein Essential zur Sprache kommen, darüber wird selten bzw. nie gesprochen. Wem gehört eigentlich ein Organ, das für eine Spende in Frage kommt? Da dämmert doch etwas: das Grundgesetz. In Artikel 14, Absatz 2, heißt es:
Nur wer etwas besitzt, kann es spenden. Ist auch ein Organ Eigentum? Wenn ja, richtet sich unser Grundgesetz bei der OT danach oder geht das umgekehrt?