Sarah Bakewell´s Buch „Das Café der Existenzialisten“ mit dem Untertitel „Freiheit, Sein & Aprikosencocktails“ ist nicht nur eine gelungene Zeitreise und eine meisterhafte Kollektivbiografie, sondern auch eine sehr unterhaltsame und aufschlussreiche Lektüre. Und irgendwo auch der Text zu unserem ganz eigenen Film.
Eine Art Buchbesprechung.
Paris 2011. Meine Frau und ich bereisen die Weltstadt in einem Taumel von Lebensfreude, Verliebtheit, aber auch der Faszination einer inneren Auflehnung, die sich schon seit ein paar Jahren von ihrer besten Seite zeigt. Manchmal benehmen wir uns wie verliebte Teenager, manchmal stehen wir in der Metro, jeder in sein Buch vertieft, um dann kurzdarauf die Haltestelle zu verpassen: Ist das nicht schon irgendwie existenzialistisch? Und dann und wann ein Café, dass unseren Ansprüchen Genüge tut, um dort, beim leider nicht immer gelungenen cafe au lait, über das Leben und das eigene Lebensgespür zu philosophieren. Oder vielleicht auch über „Freiheit, Sein und Aprikosencocktails“.
Als große Liebhaber von Friedhöfen (wo ist die Welt stiller?) landen wir zwangsläufig auch auf dem Friedhof Montparnasse, der sich zudem genau gegenüber unserer Ferienwohnung befindet. Immer wieder stößt man hier auf große Namen. Wilde Katzen streunen zwischen den Gräbern. Eine Stadt in einer Stadt – nur lebendiger und friedlicher als so mancher betoneske und menschenverachtende Stadtbezirk, der für alles Mögliche gemacht zu sein scheint, nur nicht für potentielle Bewohner. Hier auf dem Friedhof existiert sie, die „…Freiheit von Fesseln, Hindernissen, Beschränkungen und klebrigen, haftenden Dingen.“ Und dann stehen wir vor dem Grab von Simone de Beauvoir (meine Frau liest während unseres Parisbesuchs ihr Buch „die Welt der schönen Bilder) und Jean-Paul Sartre. Es gibt hier pompösere Grabstätten, die reinsten Protztempel; beinahe enttäuscht die Schlichtheit ihrer letzten Ruhestätte. Als wären sie auf die letzten Meter doch noch bürgerlich geworden.
Wir sind keine Gräbertouristen, die auf den Spuren großer Persönlichkeiten sind. Uns reizen vor allem die kleinen versteckten Friedhöfe und vergessenen Ruhestätten. Doch in diesem Fall ist es ein gewisser Zauber, der von dem Grab Sartres und Beauvoirs ausgeht. Ein Zauber, der noch lange nachspürt und der möglicherweise mit der Authentizität, Aufrichtigkeit und dem Engagement für das genuin Menschliche der beiden zu tun hat. Wir leben aktuell in einem Zeitalter der Menschenverachtung und nationalistischen Engstirnigkeit (womit sich im Grunde wenig zu der Wirkungszeit der beiden Philosophen verändert hat). Wir leben vor allem aber auch in einem Surrogatleben, wo digitales Erleben höher bewertet wird als das lebendige Sein und da bekommt ein Satz von Sartre eine Wichtigkeit, die wie für die Jetztzeit bestimmt ist: „Es gibt keinen vorgezeichneten Weg, der den Menschen zu seiner Rettung führt; er muss sich seinen Weg unablässig neu erfinden. Aber er ist frei, ihn zu erfinden, er ist verantwortlich, ohne Entschuldigung, und seine ganze Hoffnung liegt allein in ihm.“ Das kann Angst vor der Freiheit entfachen, andersrum aber eine Chance für unsere Selbstwirksamkeit und Autonomie sein. Ich bin verantwortlich für mein Handeln, nicht die Gesellschaft, der Staat oder die Religion. Aber will das jeder?
Sartres Satz finde ich in dem Buch „Das Cafe der Existenzialisten“ von Sarah Bakewell, auf das mich meine Frau aufmerksam macht. Wenn die „Toten Hosen“ singen, „und wir spielen Bonnie und Clyde“, so müssen auch wir, wenn wir in Cafés oder an unserem Fluss, an dem wir wohnen, sitzen, oft daran denken, wie es wäre, Simone und Jean-Paul zu sein, nächtelang über das Sein zu philosophieren, Gedankenskizzen auf Papiere zu kritzeln, um dann später berauscht von Wein und einem entfesselten Freiheitsgefühl das Feld der ars amandi zu überlassen. Ich kaufe das Buch, übrigens in meinem Fall eine Rarität, da es wenig neue Bücher gibt, die mich faszinieren und verfalle mit den ersten Seiten in eine Begeisterung und Leidenschaft. Bakewell´s Buch ist nicht nur eine gelungene Zeitreise und eine meisterhafte Kollektivbiografie, sondern auch ein sehr unterhaltsame und aufschlussreiche Lektüre, was sich allein schon an den vielen Unterstreichungen (ohne die für mich ein Buch ein nicht gelungenes ist) abzeichnet.
Wer sich (z.T. mit Recht) vor philosophischen Büchern gruselt, weil der Philosoph selbst oder ein philosophisch ambitionierter Autor in einer Sprache schreibt, die einen zweifeln lässt, des Deutschen vollends mächtig zu sein, sollte furchtlos das „Cafe der Existenzialisten“ in die Hand nehmen. Hier wird nicht wortdrechslerisch und satzungestüm hochgestapelt, sondern erfahrbar, nachvollziehbar und verständlich geschrieben, ohne in Trivialität oder erzählerischen Schlendrian abzugleiten. Schließlich wollten auch die Philosophen und Protagonisten des existenzialistischen Zeitalters keine Hüter philosophischer Elfenbeintürme sein, sondern Individuen, die handelnd in die Welt eingreifen und sie verändern. Und somit scheint das ganze Leben und gemeint ist das Leben eines jeden, ein „einziges großes Existenzialistencafé“ zu sein.
Als junger Mann las ich in meiner Sturm-und-Drang-Phase Sartre und aus mir noch heute unerfindlichen Gründen fiel mir im Bücherschrank meiner Eltern „die Pest“ von Albert Camus in die Hände. Auch wenn es Camus selbst anders sah, so wird er zumeist wie selbstverständlich den Existenzialisten zugerechnet. Auch er gehörte zu den Zeitmenschen, die große Fragen stellten: „was es heißt, ein authentisches, im umfassenden Sinn menschliches Leben zu führen, hineingeworfen in eine Welt mit vielen anderen Menschen, die gleichfalls versuchen zu leben. Sie beschäftigen sich mit dem Atomkrieg, mit unserer Inbesitznahme der Natur, mit Gewalt und der Problematik internationaler Beziehungen in gefährlichen Zeiten.“ Doch was ist nun Existenzialismus schlussendlich? Ist der Leser nach der Lektüre des Bakewell´schen Buches „Das Café der Existenzialisten“ schlauer? Sagen wir es so: Man kommt einer Erklärung näher!
Sartre sprach davon, dass wir aufhören zu existieren, wenn wir uns „im trauten Stübchen“ unseres Bewusstseins bei „verschlossenen Laden“ einsperren. Vielleicht ist das bereits ein erster Ansatz, um die Gespräche der am Cafétisch sitzenden Existenzialisten zu verstehen. Raus aus dem Denkmuff und den Verkrustungen von wie selbstverständlich übernommenen Mustern und hin zum Selbstdenken und – ich möchte hinzufügen – Selbstleben. Eine Anleitung zur Befreiung des Menschen zu seinen eigenen Potentialen. Und damit bekommt die Philosophie wiederum einen mehr als aktuellen Charakter. Wir haben das nötiger, denn je.
Es gelingt der Autorin Bakewell auf faszinierende Weise, dem Leser ein Eintauchen in die Zeit und in das Denken der Existenzialisten zu gestatten. Manchmal wähnt man sich selbst, im schwarzen Rollkragenpullover Flugblätter zu verteilen und gegen die Abscheulichkeit des Krieges/der Kriege zu protestieren, der/die nicht nur Menschen tötet, sondern ‚“das Individuum zu völliger Bedeutungslosigkeit herabstuft.“ Was für ein großer, stimmiger Satz. Doch man sollte es sich nicht zu bequem machen bei Kaffee und Aprikosencocktails. Denn schon werden weitere Türen der Philosophie geöffnet und es fallen Namen, mit denen man sich allein schon aus Verständlichkeitsgründen nie auseinandersetzen würde: Edmund Husserl oder Martin Heidegger, der braune Hüttenmolch.
Beauvoir schrieb einst: „Literatur tritt dann in Erscheinung, wenn irgendetwas im Leben aus den Fugen gerät. sie beginne dann, wenn die Realität aufhört, selbstverständlich zu sein.“ Zurzeit ist vieles aus den Fugen und längst habe ich mir viele Selbstverständlichkeiten des gesellschaftlichen Zusammenlebens abgeschminkt. Und gerade deswegen passt das Buch „das Café der Existenzialisten“ so wunderbar in die Jetztzeit. Herbert Marcuse war zwar kein Existenzialist, aber der Spruch auf seinem Grabstein drängt sich nach der Lektüre geradezu auf: „Weitermachen!“
Sarah Bakewell: Das Café der Existenzialisten gscrmkq.
Freiheit, Sein & Aprikosencocktails
Verlag C.H. Beck oHG, München 2016