Bad Sassendorf. „Es ist normal, anders zu sein! Inklusion ist ein Bekenntnis zu Einzigartigkeit und Verschiedenheit in unserer Gesellschaft. Und die große Herausforderung für uns und die kommenden Generationen. Wir wünschen uns Chancengleichheit in Kunst und Kultur in Westfalen-Lippe.“
Diese Sätze standen wegweisend über der 5. Kulturkonferenz in Bad Sassendorf, ausgerichtet vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe, dem Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW, sowie der Stiftung Westfalen-Initiative. Gut 300 Kunst- und Kulturakteure aus Politik, Selbsthilfe, öffentlichen, privaten, sowie ehrenamtlichen Kulturbereichen waren erschienen; ein Treffen auf Augenhöhe. Von Richard von Weizäcker stammt der Satz „Kultur ist kein Luxus, den wir uns entweder leisten oder nach Belieben auch streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere Überlebensfähigkeit sichert.“ Doch die aktuelle Kulturlandschaft sieht deutlich anders aus, denn Kultur ist auch in Deutschland in viel zu vielen Bereichen eine Domäne der Wohlhabenden, Gebildeten und Geförderten. Kann ein Mensch mit Lernbehinderung die Texte einer Kunstausstellung verstehen, geschweige denn lesen? Warum sind beispielsweise Theateraufführungen nicht so gestaltet, dass sie auch von sehbehinderten oder blinden Menschen genossen werden können? Und warum gibt es so wenige Förderprogramme, die Menschen mit finanziellen Problemen Kultur ermöglichen? Die Vision einer „inklusiven Kultur 4.0“ geht über die reine Zugänglichkeit einer Kultureinrichtung hinaus; Barrierefreiheit heißt vor allem, Menschen mit Behinderungen oder Nachteilen (und hier geht es auch um den Nachteil, die deutsche Sprache nicht zu verstehen) an allen gesellschaftlichen Aktivitäten zu beteiligen. Inklusion ist eine Frage der Haltung und das bedeutet auch, die Menschen nicht nach dem zu beurteilen, was sie nicht können. Kunst und Kultur sollte für alle lebbar und erlebbar sein.
Mit Impulsvorträgen und Workshops wurden Visionen für eine Kulturwelt entwickelt und vorgestellt, in der frei nach der Bodelschwingh´schen Maxime JEDER gebraucht wird. Dass man nicht behindert ist, sondern behindert gemacht wird, liegt nicht nur an der Überwindbarkeit einer Treppe. Und auch der Einsatz digitaler Technologien ist nicht der Lösungsweg; sie ermöglichen zwar inzwischen jedem Menschen, ein Museum per Mausklick zu besichtigen, doch bleibt dabei die Zwischenmenschlichkeit auf der Strecke. Der Mensch wird lebensschwächer und wir schaffen somit eine neue Behinderung durch den Verlust von Empathie und Kommunikationsfähigkeit. Es bedarf vielmehr einer Demokratisierung von Kultur: Infos in einer einfachen Sprache verfassen, Subventionierungen nicht nur bei konservativen Kulturangeboten (Klassik, Theater etc.) ansetzen, bürgerschaftliches Engagement gleichberechtigt in eine Stadtkultur miteinbeziehen, Kulturprogramme auf den Prüfstand stellen, einen Brückenschlag zwischen Kultur und Sozialem vornehmen oder das Konzept eines Kulturbegleiters einrichten (man könnte ja mal die alleinstehende alte Nachbarin oder einen behinderten Mitbürger zum nächsten Konzert oder zur Ausstellung begleiten!). Chancengleichheit besteht nicht darin, dass jeder einen Apfel pflücken darf, sondern dass der Zwerg eine Leiter bekommt. (Reinhard Turre)