Welche Bedeutung hat der Nikolaus? Wer war er? Annäherung an eine magische Heiligenfigur.
Der Heilige Nikolaus gehört zu den beliebtesten und bekanntesten christlichen Heiligenfiguren. Auch ich freue mich, wenn ich ihn in einer Kirche entdecke. Ikonographisch zu erkennen ist er als Bischof zusammen mit einem “Badezuber”, in dem sich drei kleine Kinder befinden. Andere Darstellungen zeigen ihn mit einem Buch in der Hand, auf dem drei Äpfel liegen. Oder er bewacht den Schlaf von drei jungen Frauen. Diese Darstellungen gehen auf die mit Nikolaus verbundenen, zum Teil recht grausamen Wohltäter-Legenden zurück.
Aber was wurde aus dieser Heiligen-Figur gemacht?
Noch vor einigen Jahrzehnten sollte der Nikolaus gemäß der sog. Schwarzen Pädagogik durch Strafen, wofür vorwiegend sein finsterer Begleiter Knecht Ruprecht als Exekutive zuständig war, die Kinder zu braven, abgerichteten Untertanen machen. “Seit ihr auch alle ganz brave, liebe Kinder gewesen?” – das war seine Frage zum Einstieg in ein Szenario, das für manches Kind mit einigen, meist leichten Rutenschlägen von Knecht Ruprecht endete. Gut, die begehrte Nikolaustüte mit den Leckereien bekam am Ende auch das “böse Kind”. Aber zuvor wurde es vor allen Anwesenden den strengen, mahnenden Worten und der Strafe preisgegeben. Manches Kind weinte am Ende bitterlich.
Und heute? Dem Himmel sei Dank gibt es keine Strafe und keinen erhobenen Bischofszeigefinger mehr. Der Nikolaus ist “ein lieber Mann” und – sofern es ihn noch als Begleiter gibt – treibt Knecht Ruprecht zur Erheiterung aller ein bisschen Schabernack. Er wurde zu einer Art Hofnarr. Aber ich kann mich seit einigen Jahren des Eindrucks nicht erwehren, dass der Nikolaus offenbar neue Aufgaben bekommen hat. Da körperliche Strafen in der Pädagogik zu Recht keinen guten Ruf mehr genießen, scheint es heute eher die Aufgabe des Nikolaus zu sein, dazu beizutragen, aus Kindern systemkonforme kleine Konsumlinge zu machen. Gut, vielleicht übertreibe ich hier ein wenig. Aber die Nikolaustüte scheint bestenfalls schmückendes Beiwerk zu sein und sie interessiert kaum noch ein Kind. Heute bringt der Nikolaus “richtige Geschenke”. Süßigkeiten sind langweilig. Und so schleppt sich der Nikolaus mittlerweile mit Spielwaren ab. Und das nicht nur einmal: der Nikolaus kommt bei der Familie der Kinder vorbei, danach auch bei den Großeltern und nicht selten auch noch bei sonstigen Anverwandten und Paten. Einige Tage später wiederholt sich das “Konsumspiel” dann in gesteigerter Form an Weihnachten. Reiche Kinder und doch irgendwie arme Kinder, denke ich oft.
Um nicht missverstanden zu werden: ich hege keine Sehnsucht nach dem Nikolaus vergangener Zeiten. Aber das heutige Nikolausspiel bereitet mir arges Kopfzerbrechen und Unbehagen. Früher die braven, gehorsamen Untertanen und heute die lieben, entzückenden und entzückten Konsumlinge. Beide Male abgerichtet – fast möchte ich sagen missbraucht – für fremde Zwecke? Da wollte ich nicht mitmachen und habe mich als Großmutter von Anfang an verweigert: Wenn der Nikolaus mit Geschenken kommt, dann kommt er zu der kleinen Familie und ich möchte ihm nicht zumuten, Geschenke auch noch zu uns Großeltern zu schleppen. Aber dafür gibt es bei uns viele Geschichten und Lieder und Gedichte rund um diese magische Gestalt.
Wer war Nikolaus?
Viel weiß man nicht über ihn, aber es ranken sich einige Legenden um seine Person, wobei er in all diesen Legenden als Wohltäter auftritt. Gewirkt hat Nikolaus im 4. Jahrhundert nach Christus als Bischof von Myra – heute der Ort Demre in der Türkei – und seine vermutlichen Reliquien ruhen in der Krypta der Basilika im italienischen Bari. Im Laufe der Zeit wurden dann zwei Bischöfe mit dem Namen Nikolaus miteinander verschmolzen: Bischof Nikolaus von Myra und Bischof Nikolaus von Pinara, der ca. zwei Jahrhunderte später als Nikolaus von Myra lebte. Heute gilt der Hl. Nikolaus als Schutzpatron der Kinder, der Seefahrer und der Reisenden. Und – er ist der Schutzpatron Russlands.
Während der Christianisierung der Gebiete jenseits der Alpen verschmolz die Figur des Nikolaus´ mit der Figur des magischen Winter-Mannes. Ein Naturgeist, in dem der Winter personifiziert wurde. Im Osten Europas wurde er “Väterchen Frost” genannt. Alte indigene Glaubensvorstellungen wurden bei der Christianisierung übernommen und christlich überformt. Aus den indigenen Götter- und Göttinnenfiguren und Naturgeistern wurden später viele der christlichen Heiligen. So wie viele Kirchen an alten “heidnischen” Kultstätten erbaut wurden. Den Trägern der Christianisierung war sehr wohl klar, dass die alten Glaubensvorstellungen sich so schnell nicht ausrotten ließen, und so bekamen sie eine christliche Überformung. Entsprechend erging es auch der Figur des schamanischen Winter-Mannes, dem Väterchen Frost. Der in warme Pelze gekleidete Naturgeist war in den alten Glaubensvorstellungen keineswegs negativ besetzt und so konnte er problemlos mit der christlichen Figur des Nikolaus verschmolzen werden. Zwar brachte der Winter-Mann Eis und Schnee, die klirrende Kälte, gleichzeitig war er aber auch der Lichtbringer, der darauf verwies, dass die Zeit der dunklen Tage bald (am 21. Dezember) enden würde. Denn ab diesem Zeitpunkt werden die Tage wieder länger sein als die Nacht, das Sommerhalbjahr beginnt. Eine Hoffnung für die Menschen, für die der Winter oft eine Zeit der Not und des drohenden Hungers war.
Ein „anderer“ Nikolaus – Neudeutung
Ich meine, dass die Figur des Nikolaus nicht die Aufgabe hat, dazu beizutragen, aus Kindern gehorsame Untertanen zu machen. Genauso wenig ist es ihre Aufgabe, Geschenke in Form von Spielwaren zu bringen und dadurch Kinder schon früh zu Konsumlingen zu formen. Stattdessen könnte sie eine neue und meiner Meinung nach dringend notwendige Be-Zauberung der Welt unterstützen. Der Nikolaus als der geheimnisvolle Freund der Kinder, der Wohltäter, der, der ihnen Gutes tut und kleine Leckereien bringt. Und der, der als naturmagische Figur des Winters Hoffnung macht, dass die Tage bald wieder länger sein werden und die Natur neu erwachen wird. Er ist einer, der Licht in die Dunkelheit bringt. Würden wir unseren Kindern mit einer neuen Be-Zauberung der Welt nicht vielleicht ein viel größeres Geschenk machen als mit all den Spielwaren, die sie ohnehin schon zu Genüge besitzen? Kann es sein, dass mit all den Geschenken zu Nikolaus und zu Weihnachten und zu sonstigen Anlässen versucht wird, die spirituelle Armut, die Armut an Magie und Phantasie auszugleichen? Den Mangel an Liedern und Geschichten und Gedichten? Könnte die Figur des Nikolaus nicht auch eine Möglichkeit bieten, Kinder wieder mit der Natur zu verbinden? Mit dem Lauf der Jahreszeiten, den Wetterphänomenen des Winters, dem Wind, den jagenden Wolken, der Kälte und Dunkelheit. Der Nikolaus als personifizierter Winter, als Wächter einer schlafenden Natur und als Wächter einer Zeit, in der auch die Menschen ruhiger werden können, indem sie sich dem Rhythmus der Natur anpassen mit ihren im Winter kurzen Tagen und ihren langen Nächten. Nächte mit langen Abenden, die einladen, gemeinsam zu singen, sich Geschichten vom Winter zu erzählen, Geschichten von Tieren und Pflanzen, die den Winter über trotz der Kälte und Dunkelheit wach bleiben und denen, die sich schlafen gelegt haben, um im Frühling wieder zu erwachen. Lädt die abendliche Dunkelheit nicht sogar dazu ein, zusammen hinaus in die Natur zu gehen, vielleicht sogar nachzuschauen, ob schon die Spuren des Nikolaus zu entdecken sind, desjenigen, der in dieser dunklen Zeit über die Tiere und die Pflanzen, über die ganze Natur wacht? Und über die Kinder, denen er bestimmt die ein oder andere Leckerei mitgebracht hat…
Ich glaube, ich habe im Wald gestern schon Spuren gesehen… Sollen wir nicht einmal nachschauen?… Vielleicht ist ja der Nikolaus schon unterwegs im Wald… Aber wir müssen im Fuchsgang schleichen und leise flüstern, damit wir die Tiere und Pflanzen nicht erschrecken …
* das, was auf den ikonographischen Darstellungen aussieht wie ein Badezuber, ist in Wahrheit ein Pökelfass (vgl. Legende von Nikolaus und den drei getöteten Knaben/Schülern, die er vom Tode erweckt)