Ich gebe das Wort Zeitgeiz in das Suchsystem meines Vertrauens ein und muss feststellen, dass es diesen Begriff offenbar noch gar nicht gibt. Man schlägt mir Zeitgeist vor. Vielleicht haben die beiden Begriffe mehr miteinander zu tun, als man denkt. Vielleicht ist ja sogar Zeitgeiz letztendlich Zeitgeist.
In letzter Zeit bin ich zu meiner Beunruhigung ein wenig geizig geworden. Nicht, was das Finanzielle, sondern was das Zeitliche betrifft. Möglicherweise ist dies ein Phänomen des fortschreitenden Alters, gegebenenfalls aber auch eines der verdächtigen Indizien der viel zitierten Altersweisheit. Gemeint ist die kognitive Weisheit, nicht die Erweißung des Haupthaars! Ich arbeite in einem therapeutischen Beruf im Gesundheitsgewerbe oftmals auf einem Niveau, das – ich müsste es besser wissen – nicht gerade der persönlichen Gesundheitsprophylaxe dienlich ist. Und da es in meinem Fall nicht um Platinen oder ähnliches, sondern um Kinder geht, ist oftmals der Helfer in mir stärker als der persönliche Gesundheitsberater. Doch vor lauter Menschlichkeit übersehe ich dann und wann, dass meine Großzügigkeit bezüglich meiner Arbeits- und somit Lebenszeit nicht allein den Menschen, die meine Hilfe tatsächlich benötigen, dient, sondern von einem mehr oder weniger verwaltungs- und wachstumsgesteuerten, statt humanistischem Gesundheitssystem ausgesaugt wird. Viele meiner Tätigkeiten haben nur noch rudimentär mit meiner ursprünglichen Profession zu tun. Um dennoch alles Notwendige und Fremdgesteuerte unter einen Hut zu bekommen, drehte ich ergebnislos am Zeiträdchen, steigerte das Tempo, versuchte mich in Multitasking, verkürzte die Patientenkontakte, vernachlässigte die Übersichtlichkeit auf meinem Schreibtisch und erwischte mich häufig dabei, unkonzentriert und gehetzt zu sein. Das Ergebnis: Quantität, statt Qualität; aber erstere lässt sich besser abrechnen! Wir definieren uns über die Arbeit; die Inhalte bleiben dabei auf der Strecke. Aber macht es uns nicht posthum glücklich, wenn unser Arbeitgeber später auf unser Grab einen Kranz mit der Aufschrift „für unseren treuen und fleißigen Mitarbeiter“ legt?
Doch zurück zum Geiz! Manche Menschen, denen der Körper eine rote Karte in Form eines Herzhinterwandinfarktes oder halbseitigen Schlaganfalls präsentierte, begreifen erst auf der Intensivstation, dass sie zeittempotechnisch geschwelgt haben. Erste Anzeichen einer Schädigung von Körper und Geist zeigen sich auch bei mir. Vielleicht ist der Zeitgeiz eine erste Notbremse.
Vor einiger Zeit las ich in einer Zeitschrift für Jugendschutz und Erziehung!!! einen Ausflug in die griechische Zeitphilosophie. Danach teilt der alte Grieche die Zeit in Chronos (äußere Zeit) und Kairos (innere Zeit oder wie der Autor es ausdrückt: Eigenzeitlichkeit) ein. Da macht sich doch mal wieder die Beschränktheit der an sich schönen deutschen Sprache bemerkbar. Wir Deutsche kennen nur die außengesteuerte und „technomorphe“ Zeit. Wer latscht beim Spanienurlaub in der Mittagshitze durch Barcelona, während der kluge Spanier im Schatten döst? Der Deutsche! Rastlos, atemlos, getrieben von der sportlichen Variante „Wettlauf mit der Zeit“ und immer in Bewegung!
Und wenn es dann mal ganz ruhig wird um mich herum und nur noch der Regen ans Fenster klopft, spüre ich sie hin und wieder, wenn auch ganz schwach: Eine eigenartige Sehnsucht nach meiner knapp bemessenen Eigenzeitlichkeit. Es wird höchste Zeit, mich um mein psychologisches und soziales Zeitimmunsystem und eine gesunde Zeitkultur zu kümmern. Ich spüre schon böse Blicke auf mir haften, die mein eigenzeitliches Denken als gelebten Egoismus verteufeln! Ja, es ist egoistisch und das ist auch gut so! Epikur wäre stolz auf mich!
Und nun eine weitere bewusstseinserweiternde Feststellung im Zusammenhang mit meiner Neuentdeckung der „Zeitgeiz-ist-geil“-Mentalität: Wie viele Alltagsbeschäftigungen sind nichts anderes als eine Vernebelung, gar Zerstörung meiner inneren Erlebenszeit? Eigenzeitlichkeit bedeutet, mit allen Sinnen wahrzunehmen, zu genießen und zu erinnern. Doch was passiert, wenn wir vor dem Fernseher oder dem PC sitzen? An was erinnern wir uns noch am nächsten Tag von dem galoppierenden Schwachsinn, der uns dort in Film, Serie oder Spiel vorgeflimmert wird? Ist es nicht im Grunde Zeitklau und somit gefühlte Lebenszeitverkürzung? All der unlustige Pseudospaß auf facebook, all die industriell vermaledeite Popmusik im Radio, all die oberflächliche Desinformationspresse, all das wenn auch indirekte Beschäftigen mit den Ausdünstungen einer sinnentleerten, allumfassenden Kommerzialisierung, all das tiefergelegte Nichts, das uns vom Denken abhalten soll. Alles Vergeudung oder – welch schönes altes Wort – Verplempern von Zeit.
Mein entwickelter Geiz ist also schon mal ein guter Anfang und in diesem Zusammenhang die seit zehn Jahren praktizierte TV-Abstinenz ein „Kairos-Glanzpunkt“. Jeder Cafe-Besuch, jedes freundliche Gespräch mit interessanten Menschen, ein leidenschaftlicher Liebesreigen, das Hören einer ausgewählten CD, ein bewusst! gelesenes Buch, ein Spaziergang am Fluss, ein gutes Konzert, das Kennenlernen einer neuen Stadt, der Blick aus dem Fenster, während Satie läuft, kontemplatives Nichtstun, der Bummel über einen Bücherflohmarkt, das oft bis tief in die Nacht andauernde Philosophieren mit meiner Frau, das zelebrierte Essen bei Kerzenlicht, das Schreiben eines Texts über die Zeit… all das sind Momententschleuniger, die die Lebendigkeit des Seins konservieren. Vielleicht ist ja sogar Zeitgeiz letztendlich wahrer Zeitgeist. Vor vielen Jahren forderte der Autor Moritz Rinke in einer Ausgabe der Wochenzeitschrift die ZEIT, man bräuchte “Beharrer”, die sich zwischen den einen und den nächsten Augenblick werfen, sozusagen Leute am Rande der Zeit. Zeitbeharrer, ein attraktiver Beruf; vielleicht im nächsten Leben.