Niemand wünscht sich, zum Opfer zu werden, sei es Opfer eines Unfalls, Überfalls oder eines alltäglichen Missgeschicks. Diejenigen, die ein solches Schicksal erleiden, mögen manchmal einen langen Kampf führen, um in ein normales Leben zurückzukehren. Ist der Schmerz jedoch abgeklungen und gelingt es, körperliches und seelisches Leid hinter sich zu lassen, können die Betroffenen wieder mit der Bereitschaft durch die Welt gehen, das Leben in die Hand zu nehmen. Hier sind das Leid, zum Opfer geworden zu sein, und die Freude am Leben zwei Empfindungen, die voneinander getrennt sind, es gibt ein vom Ereignis geschiedenes Vorher und Nachher.
Im Unterschied zu diesem Opfer, dessen Opferstatus mit einem spezifischen Ereignis in Zusammenhang steht, soll im Folgenden die Rede sein von einer anderen Art Opfer, davon, sich in der Opferrolle, im Leid einzurichten und – so paradox es klingt – es zu genießen, ein Opfer zu sein und es gern bleiben zu wollen. Hier ist die Opferrolle nicht an ein bestimmtes Ereignis gebunden, sondern speist sich aus einer fortdauernden inneren Überzeugung – vielleicht kann man sagen: der Lebenseinstellung – der betreffenden Person. Ich will diesen Menschen deshalb im Folgenden das Überzeugungsopfer nennen.
Warum aber sollte jemand das anscheinend bittere Los wählen, ein Opfer zu sein? Weil es ihm oder ihr viele Vorteile bietet. Weil es herrlich ist, ein Opfer zu sein.
Das Überzeugungsopfer lebt in dem wunderbaren Gefühl, moralisch grundsätzlich im Recht zu sein. Bei allem was geschieht, es ist per se unschuldig, denn immer sind die Anderen die Täter, allein schuldig an diesem oder jenem. Dies erlaubt dem Überzeugungsopfer, sich bei jeder tatsächlichen oder eingebildeten Meinungsverschiedenheit aggressiv zu verhalten. Es kann ja nicht im Unrecht sein, es verteidigt sich nur gegen Angriffe. Logischerweise würde man annehmen, ein Opfer müsse schwach, in der schwächeren Position sein, sonst könne es ja nicht von Tätern niedergedrückt werden – und so fühlt es sich auch. Tatsächlich jedoch ist diese Art von Opfern stark, denn nichts kann sie davon abhalten, andere schlecht zu behandeln. Es geht mit vermeintlichen Gegnern um aus einer Position der Stärke, behandelt sie nach eigenem Geschmack – und hier spiegelt sich das Paradoxe erneut: Denn es könnte lächelnd das zufriedene Gefühl der Macht genießen, tatsächlich aber begegnet es seiner Umwelt schlecht gelaunt und mit Bitterkeit.
Man hüte sich vor dem leichtfertigen Irrtum, von einem Überzeugungsopfer erhobene Vorwürfe seien grundsätzlich unberechtigt. Das eigentliche Problem liegt eher darin, dass das Überzeugungsopfer in Auseinandersetzungen mit den Menschen nur eine Wahrheit kennt, während das Leben einen abwägenden Blick auf die Menschen und ihr Verhalten verlangt. Da das Überzeugungsopfer dazu neigt, die Farben des Lebens und all ihre Schattierungen auf schwarz und weiß zu reduzieren, erspart es sich den manchmal schmerzhaften, selbstkritischen Blick in den Spiegel.
Auch wenn das Überzeugungsopfer nicht gerade in eine Meinungsverschiedenheit oder einen Interessenkonflikt verwickelt ist, erzählt es den Menschen gern wie schlecht es ihm geht, wie groß seine Probleme sind, wie ungerecht die Welt es behandelt. Es sucht dabei mehr Aufmerksamkeit und Zustimmung als echte Tröstung, geschweige denn nach Vorschlägen, die auf eine Verbesserung seiner misslichen Lage zielen. Trifft man einen solchen Menschen nur gelegentlich, merkt man nicht gleich woher der Wind weht, denn es könnte sein, dass da ein Mensch über echte und berechtigte Beschwernisse klagt. Erst wenn der Kontakt häufiger und enger wird, verdunkelt das allgemeine Schwarzmalen auch den Himmel des Zuhörers oder der Zuhörerin, für die es nicht leicht zu ertragen ist, immer wieder und oft mit bitterem Gesicht vorgetragene Klagen, Beschwerden und Anschuldigungen zu hören.
Sich in der Opferrolle einzurichten, bedeutet nicht nur, moralisch grundsätzlich im Recht zu sein. Darüber hinaus ist diese Haltung bequem, sogar angenehm, denn man muss nichts tun, um Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, um konkrete Dinge in der eigenen Umgebung oder die eigene Lebenslage zu ändern. Man muss nur anklagen. Die Umstände, die Ausländer, die Politiker, die Nachbarn, die Kollegen, die Lebenspartner – in jedem Fall die Anderen – sind schuld an der bedauernswerten Lage des Überzeugungsopfers. Deshalb kann „man ja sowieso nichts machen“, aber „irgendjemand muss eingreifen und die Dinge ändern“ und Gerechtigkeit für das Überzeugungsopfer herstellen. Mit einem Wort, es ist wundervoll zu jammern und zu schimpfen, immer im Recht zu sein, sich aber nicht aufraffen zu müssen, in den Spiegel zu schauen und auf andere mit Vorschlägen und Kompromissen zuzugehen – und dabei verbittert zu leiden.
Auch wenn das Überzeugungsopfer seine Rolle nicht unbedingt in jedem Moment des Alltags zelebriert, der oder die Betreffende kann jederzeit in den angenehmen Modus des Opfers umschalten und im Falle eines Konfliktes ist es sehr wahrscheinlich, dass er oder sie es tut.
Menschen, die Lebensfreude empfinden und ausstrahlen, erliegen der Opfermentalität eher nicht. Anders dagegen solche, die miesepetrig dazu neigen, überall Probleme zu suchen oder kleinere Vorkommnisse zu großen Dramen aufzublasen. Es ist müßig, hier nach Ursache und Wirkung zu fragen. Miesepetrigkeit und Opfermentalität bestätigen sich gegenseitig und bilden einen geschlossenen Kreislauf.
In der Vertretung ihrer eigenen Interessen sind Überzeugungsopfer durchaus nicht unbedingt schwach und passiv, im Gegenteil, sie können rigide und sehr effektiv vorgehen. Man wird sie jedoch selten finden unter denen, die sich für die Interessen einer Gemeinschaft und die ihrer Mitmenschen in Bürgerinitiativen oder Gewerkschaften engagieren.
Natürlich passt nicht jede/r, der/die sorgenvoll oder pessimistisch durchs Leben geht, in dieses Bild. Jemand, der charakterlich dazu neigt, ein Glas eher halbleer als halbvoll zu bezeichnen und eher über die Schatten- als die Sonnenseiten des Lebens spricht, muss durchaus nicht der Überzeugung sein, dass Andere ihm Böses wollen, an seiner Lebenslage schuld seien und man sowieso nichts tun könne, um Schlechtes zu verändern. Auch eine Frau, die ihrer Familie mit dem unschönen Satz “Seht, wie ich mich für Euch aufopfere“ ein schlechtes Gewissen macht, übt moralischen Druck vielleicht nur aus, um Aufmerksamkeit und Anerkennung zu gewinnen. Gelegentlich mag man vorschnell annehmen, ein Mensch pflege eine Opferrolle als verfestigte Lebenseinstellung, so wie man umgekehrt nicht gleich bemerken mag, dass man es mit der Kategorie Überzeugungsopfer zu tun hat, das immer unschuldig und zugleich im Recht ist.
Die Grundhaltung des ewigen Opfers kann uns grundsätzlich überall in Europa begegnen, in einigen Ländern Osteuropas ist ihre Häufigkeit jedoch auffällig. Dafür mag es u. a. historisch-kulturelle Gründe geben, beispielsweise eine jahrhundertelange Ohnmachtserfahrung unter einheimischer oder fremder Herrschaft. Eine tief sitzende und verbreitete Opfermentalität hat politische Konsequenzen. Sie erhöht beispielsweise die Bereitschaft, bewaffnete Konflikte mit bösen Nachbarn auszufechten, zu denen Überzeugungsopfer von ihren Führern aufgestachelt werden.
Es mag sein, dass regierende Politiker in diesen Ländern selbst zu denen gehören, die sich überall von Mächten umzingelt sehen, die ihnen Böses wollen, und von dort das Recht, ja geradezu die vermeintliche Selbstverteidigungspflicht ableiten, Nachbarn gegenüber aggressiv und kompromisslos aufzutreten. Aber auch wenn sie selbst nicht so empfinden, verbessert eine verbreitete Opfermentalität unter ihren Landsleuten in jedem Fall die Chance der Machthaber, dies für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Zum Beispiel, indem sie eigene innenpolitische Fehlleistungen ausländischen Einflüssen zuschieben. Gern füllen sich korrupte Politiker die eigenen Taschen und die ihrer Klientel und halten sich dennoch an der Macht, indem sie sich als die einzigen Garanten gegen böswillige fremde Mächte präsentieren, seien es Mitgliedsstaaten der Europäischen Union oder andere Länder.
Es ist sehr schmerzhaft, in enger Beziehung zu einem Überzeugungsopfer zu leben. Einerseits weil man sieht, dass dieser Mensch tatsächlich leidet. Andererseits muss man aushalten, in Auseinandersetzungen die Schuld aufgebürdet zu bekommen. Natürlich ist nicht jeder Vorwurf, den das Überzeugungsopfer seinem Gegenüber macht, unbegründet, und man wird eigene Fehler eingestehen und für sie um Verzeihung bitten, nicht zuletzt, um guten Willen und Verständnis zu zeigen, dem Überzeugungsopfer entgegenzukommen und den Boden für eine Problemlösung zu bereiten. Dies führt jedoch keineswegs zum Erfolg, wenn der/die Betreffende das Eingeständnis von Fehlern nur als erneute Bestätigung dafür sieht, Opfer geworden zu sein. Auch Appelle an die Vernunft, abgewogene Argumente, Versuche, sich auf der Basis von Fairness zu einigen, verpuffen, weil sie erfordern würden, dass das Überzeugungsopfer die eigene Haltung infrage stellt. Man steht vor einer Mauer der Hilflosigkeit, wenn man lernen muss, dass selbst das vernünftigste Argument bereits abgelehnt ist, bevor es ausgesprochen wurde. Man ist gezwungen zu akzeptieren, dass ehrliche Versuche der Einigung sinnlos sind, wenn die Täter- und Opferrollen bereits fest vergeben sind.
Dem Überzeugungsopfer fehlt der Wille, vielleicht sogar die Fähigkeit, eine Sache von zwei Seiten zu betrachten oder sogar probeweise den Standpunkt des Gegenübers einzunehmen – eine Voraussetzung dafür, zu einem fairen Kompromiss zu gelangen. Zu einem Kompromiss kann das Überzeugungsopfer nur gezwungen werden, was einen mindestens gleich starken Widerpart voraussetzt. Die Folge ist, dass ein Kompromiss als Unrecht, als Niederlage betrachtet wird, und das Überzeugungsopfer wird bei der erstbesten Gelegenheit bestrebt sein, sich erneut zu verschaffen, was es als sein Recht betrachtet. Würde es die Möglichkeit in Betracht ziehen, eine Sache von zwei Seiten zu betrachten oder das Argument einer Gegenseite vorurteilsfrei zu prüfen, würde dies die Gefahr in sich bergen, die Rolle des Opfers verlassen zu müssen. Das bedeutete nicht nur, möglicherweise in einer einzelnen Frage im Unrecht zu sein – es würde seine Lebenseinstellung, seine Art die Welt zu betrachten und sich in ihr zu bewegen, mit einem Wort: seine Persönlichkeit, infrage stellen.
Das Überzeugungsopfer wird nur aufhören wollen Opfer zu sein, wenn es erkennt, dass es eine reale, eine machbare und eine attraktive Option gibt, anders zu leben – und dass nur darin die Möglichkeit liegt, Leiden und Bitterkeit hinter sich zu lassen und mit seinen Mitmenschen in entspannter, freundlicher und gleichberechtigter Beziehung zu leben.
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