Verlorene Geborgenheit
Als Wohnen zur Frage nach dem Preis verkam

Natürlich hat Wohnen mit Leben und Zusammenleben zu tun. Zeitschriften wie „Schöner Wohnen“ und Co entwickeln ein seltsames Schema. Es will immer weniger eigenes Leben und Zusammenleben, dafür immer mehr sattes Konto. Was ist aus dem Wohnen geworden?

 

Vor gefühlten 1000 Jahren habe ich in Münster für 2,80 DM (Deutsche Mark) ein Taschenbuch gekauft. Ein philosophisches Taschenbuch zu kaufen ließ mich nicht mehr als Schüler um die 16 Jahre fühlen, sondern als beinahe erwachsen. Der Titel des Buches „Neue Geborgenheit“ gefiel mir, den Autor, den Philosophen Otto Friedrich Bollnow (NS-Freund) kannte ich damals noch nicht. Verstanden habe ich nicht viel. Jedoch habe ich bis heute behalten, dass in einer Wohnung zu leben die gemeinsame (!) Gestaltung von Wohnraum voraussetzt.

Das hört sich gut an. Aber Raumknappheit, mit jüngeren Geschwistern zusammenleben, Regeln der Eltern, Unmöglichkeit großer finanzieller Sprünge machten das damals undenkbar. Was wäre aber, wenn es diese Beschränkungen nicht gegeben hätte? Dann müssten oder könnten wir uns im weiteren Aufsatz um das kümmern, was Wohnen zum Wohnen macht.

Übrigens, „Geborgenheit“ im Titel ist alles andere als Gartenlaubenmentalität.

 

Defizite der Geborgenheit

Eigenes Foto vom geschenkten Aquarell eines lieben Nachbarn vom Weinberg vor dem Haus.
Eigenes Foto vom geschenkten Aquarell eines lieben Nachbarn vom Weinberg vor dem Haus.

„Raum ist in der kleinsten Hütte / für ein glücklich liebend Paar“, meinte F. Schiller. Verliebte haben andere Interessen. O.K. Aber denken wir an das Elend der „Plattenbrüder“, die man heute verharmlosend „Obdachlose“ nennt. Ähnlich ist das schlimme Schicksal der Flüchtlinge. Geht es hier nur um das Obdach (Regenschutz, Wärme) oder um das Wohnen? Natürlich um Wohnen und seine integrative Funktion. Fehlt da was? Ja, die Gemeinsamkeit. Sehr bedeutend ist bei Umfragen unter Wohnungslosen, die zur sog. Vesperkirche kommen, dass neben den niedrigen Kosten für das Essen (Vesper ist Mönchsgebet und Abendbrot) das Zusammensein mit anderen zählt.

Mein Traumhaus. Alberto Giacomettis Skulpturen-Werkstatt in Stampa bei Chur. (Foto FJ Illhardt).
Mein Traumhaus. Alberto Giacomettis Skulpturen-Werkstatt in Stampa bei Chur. (Foto FJ Illhardt).

Die Wohnung gilt als der Ort, an dem man sich geschützt und sicher fühlt. Komisch, dort passierten laut Kriminalstatistik von 2017 über 11.000 Vergewaltigungen und sexuelle Übergriffe mit und ohne Todesfolge. Mobbing, Stalking, Telefonterror usw. werden extra gezählt. Die Dunkelziffer übersteigt die Angaben um ein vielfaches. Dazu kommen die Unfälle im Haushalt mit ca. 10.000 pro Jahr – auch wieder mit und ohne Todesfolge. Aber die Vision bleibt: Wohnen ist der Ort, wo ich sein kann, der ich sein möchte. Dem, der zu mir kommt oder bei mir wohnt, steht natürlich das Gleiche zu.

Die revidierte Europäische Sozialcharta beschloss das Menschenrecht auf Wohnen, auf sie beruft sich auch die UN. Aber immer öfter gerät Wohnen in Zwickmühlen, hauptschlich unter den Druck des Geldes. Mit anderen Worten: Es verliert gerade seine Funktion. Einschlägige Zeitschriften präsentieren Fotos, die ungeheuer pracht- und stilvoll, aber auch sehr teuer sind. Professionelle Raumgestaltung geht in die gleiche Richtung, steril bis überladen und teuer.

Wofür ist Wohnen eigentlich gut?

    1. zur eigenen (!) Entfaltung: Interessant ist eine Bemerkung vom Maler Friedensreich Hundertwasser (bürgerlicher Name: Friedrich Stowasser). Er meinte, dass jeder Mieter die Außenwände seiner Wohnung so bemalen darf, wie er das ohne Hilfsmittel vom Fenster aus bewerkstelligen kann. „Därfen‘s dees“, würde der Wiener fragen – das Hundertwasserhaus steht in Wien. Der Deutsche wüsste noch die Paragraphen vom StGB. Dürfen oder Nicht-Dürfen. Es geht doch um meine Identität.
    2. zum Sich-zu-Hause-fühlen: A. Andersch verspottete einmal die unsinnigen Wohnideen der Eltern reicher Mitschüler. Er empfahl ihnen, statt der Bilder im Haus die eingerahmten Quittungen aufzuhängen. Eigentlich geht es ihnen ja doch nur um den Preis des Bildes, nicht um das Zu-Hause-sein. Wird aus der Gemeinsamkeit nicht die gemeinsame Valuta? Zumindest nicht ein Sich-zu-Hause-Fühlen.
    3. zum Beziehung-aufnehmen mit Menschen und Dingen: Der oft be- und missbrauchte Begriff „Ethik“ / „Ethos“ – missbraucht, weil die allzu oft als Normenlieferant missverstanden werden! – stammt aus der griechischen Antike und Ethik heißt „gewohnter Ort des Lebens“: Da wo man wohnt, entstehen die ethischen Prinzipien des Zusammenlebens. Natürlich kann/muss man sich weiterentwickeln und die alten Normen hinterfragen. Aber das Gefühl, Regeln des Zusammenlebens einzuhalten, bleibt. Wer Wohnen nicht kennenlernt, weiß auch nicht, was andere verletzt.

Wohnen = niemanden verletzen, auch sich selbst nicht

Was steht mit dem Wohnen alles auf dem Spiel? Hier einige Denkvorschläge:

  • Gemeinsame (!) Entscheidung.
  • Warum gemeinsam? Niemand kann leben, ohne sich daheim zu fühlen. Eine Wohnung muss das garantieren. Ist das nicht der Fall, erodiert Leben des Einzelnen. Und ohne Ich keine Gemeinsamkeit.
  • Klischees müssen vermieden werden.
  • Es ist nicht die Frage, ob Gelsenkirchener Barock besser ist als die Regalwand von IKEA. Schlimm ist, wenn Wohnen zur Schablone verkommt und man nach dem Muster lebt, welches die Reklame anpreist.
  • Werte und Regeln für das Zusammenleben entwickeln.
  • Dass die Regeln des Zusammenlebens immer öfter an Kraft verlieren, scheint klar. War nicht auch der Schnee gestern viel weißer als heute? Kabarett beiseite! Oft sagt der erzürnte Vater: Solange du deine Füße unter meinen Tisch streckst, hast du zu parieren. Falsch! Regeln erlernt man durch Wohnen, und das basiert auf gemeinsamen Entscheidungen. Wo lag der Fehler? Beim Wohnen. Immerhin, zu Hause lernt man die Regeln des Zusammenlebens – oder nie.
  • Gefährliche Dominanz.
  • Sicher ist Dominanz gefährlich, weil sie den anderen nicht hochkommen lässt. Das kann dazu führen, dass einer von beiden sich nicht zu Hause fühlt. Aus Mut zum ehrlichen Bekenntnis, was ich (!) will, wird die Wut des Unterdrückten. Oft leiden die dominanten unter denen, die sich nicht zu sagen trauen, was sie sein und wer sie sein wollen.
  • Spuren des Wohnens
  • In „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“ klagte W. Benjamin (von den Nazis getötet) darüber, dass viele bei längerer Abwesenheit die Möbel mit Betttüchern abdeckten, um sie vor den Spuren der Zeit zu schützen. Wohnen prägt Menschen und Menschen prägen Wohnen. Darum braucht es diese Spuren, weil es die Geschichte von Glück und Zusammenleben sein kann. Gibt es dann einen Grund, diese Spuren zu vermeiden?

    Haus im Elsass. Soll man das Haus kaufen? (Foto FJ Illhardt)
    Haus im Elsass. Soll man das Haus kaufen? (Foto FJ Illhardt)
  • Warum beherrscht der Preis die Raumgestaltung? Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil Geld alles beherrscht, laut Musical (Cabaret mit Liza Minelli): „money makes the world go around“. Im Text über nebenstehendem Foto habe ich aus einem Kirchenlied „Gott“ gegen „Geld“ eingetauscht. Geld wird zum Götzen, Ersatz für den alten Gott. Letztlich könnte es auch der Mangel an Kreativität sein. Ein Beispiel: Die beiden Maler Gabriele Münter und ihr langjähriger Lebensgefährte Wassily Kandinsky hatten in Murnau am Staffelsee ein Haus. Kandinsky hat viele Möbelstücke mit expressionistischen Alltagsszenen bemalt. Jeder, der dort hinkam, wusste, wer da wohnt, und dass er Leben mit ihnen teilt. Heutzutage fragt man bestenfalls nach dem Raumgestalter.

Zusammengefasst: Wir vertun die Chance des Zusammenlebens, wenn wir uns die Chance des Wohnens und die Gestaltung des Wohnraums aus der Hand nehmen lassen. Nicht die Mitpreisbremse und die Wohnbauprämie helfen, sondern wir müssen verstehen, was Wohnen bedeutet.