Verlierer der Modernisierung
Hilft Extremismus unserer Angst?

Der Begriff dieses Aufsatzes „Modernisierungsverlierer“ stammt vom Soziologie-Professor Lengfeld. Später diskutierte er vor der Wahl in Sachsen und Thüringen, ob Ergebnisse typisch östlich, eher gesamtdeutsch oder gar europäisch sind. Halten wir fest: Sie sind kein Unterschichtsproblem, sondern haben längst auch die Mittelschicht erreicht.

Was mit dem Phänomen der „Modernisierungsverlierer“ – aus diesem Grund wählen viele rechtsextreme Parteien – gemeint ist, verstand ich erst in dem Roman von Juli Zeh „Über Menschen“ von 2021. Sie erzählt, wie eine junge Frau namens Dora aus ihrer sicheren Ehe aussteigt und deswegen von Berlin in ein Brandenburgisches Dorf zieht. Eine Zeit der Probleme beginnt. Ihr Nachbar ist der AfDler und Dorf-Nazi, mit dem sie eigentlich nichts zu tun haben will. Aber dann kommt vieles anders, als sie gedacht hat …

Moderne Architektur flößt uns Angst ein. (Foto Pixabay)

Sagen wir so: ANGST ist das, was unsere demokratische Gesellschaft kaputt macht. Mir scheint, dass diese Angst eine Angst der „Moder­nisierungsverlierer“ ist. Verlierer der Modernisierung unserer Welt ist etwas, was 1) uns alle betrifft, egal was wir wählen, 2) was diejenigen am meisten betrifft, die am schlechtesten dran sind und 3) Modernisierung ist unser aller Ziel. Nur: leider kennen wir nicht die sozialen Konsequenzen. – Überlegen wir hier kurz, was die Modernisierungsverlierer alles verkraften müssen.

  • Wohlstandsverlust
Wenn ich einmal reich wäre ….
Foto Pixabay

Mein Vater war Handwerker und sagte mir immer: Du sollst es mal besser haben! Schwierig – als ich 35 war, hatte ich noch keinen festen Arbeitsplatz, meine Mitschüler bemitleideten mich. Der Wohlstand der Eltern bzw. in meinem Fall der feste Arbeitsplatz des Vaters ist nur noch selten auf die Kinder übertragbar, und wenn man mal einen guten Job hat, ist der bei der nächsten Firmenpleiten eventuell sehr unsicher. Unsicher ist damit auch, ob man das Haus noch halten kann, ob man mit einem neuen Arbeitsplatz nicht auch Freundschaften, gute Nachbarschaft, Schulen, angemessene Infrastruktur usw. riskiert oder wenn man Pech hat, Hartz 4 alias Bürgergeld bekommt. Mit Wohlstandsverlust muss man rechnen.

Übrigens, welche Partei sollte man wählen, um dieser Angst zu entkommen? Die bisherige Regierung gibt immer wieder vor, sie kümmere sich um Modernisierung und das würde Wohlstand bringen. Das mag bei einigen so sein, aber viele sind Wohlstandsverlierer.

  • Fachkräftemangel

Fachkräfte oder Facharbeiter sind der Definition nach Menschen, die in einem anerkannten Ausbildungsberuf entsprechend der Ausbildungsverordnung ausgebildet wurden, eine vorgeschriebene Abschlussprüfung abgelegt haben und in diesem Beruf beschäftigt sind oder gearbeitet haben. Von denen gibt es viel zu wenig.

Natürlich haben der Industrielle Würth und andere ihre frühere Belegschaft aufge­fordert, nicht die AfD zu wählen, weil ausländische Fachkräfte den Betrieb am Laufen halten müssen. Aber was tut man gegen den Fachkräftemangel? Bundesbürger können die Lücken nicht füllen, weil Engagement für Arbeit oft nicht genügend Freizeit ergibt bzw. keine oder nicht genügend Menschen in Deutschland für die offenen Stellen da sind. Mögliche Gründe interessieren in diesem Zusammenhang nicht. Diese Lücken können nur Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund füllen. Aber vielen macht das Angst.

Übrigens, welche Partei sollte man wählen, um diesem Problem zu entkommen? Remigration ist keine Lösung. BSW und AfD setzen auf das veraltete Konzept des Nationalismus aus dem 19. (etwa der Krieg Deutschland gegen Frankreich) und dem beginnenden 20. Jahrhundert (1. und 2. Weltkrieg). Wieder waren es Soziologen, die ein sogenanntes Innen-Außen-Problem registrieren: Nur Deutsche (Innen) lösen unser Dilemma, Menschen aus anderen Ländern (Außen) können das nicht ausreichend und gefährden hinreichende Arbeitsplätze. Einige ja, aber insgesamt stimmt das nicht.

  • Fortschritt mit integrierter Bremse

Ich denke bei dieser Überschrift an die Echternacher Springprozession: zwei Schritte vor, einer zurück. Insbesondere der heilige Willibrord, Auslöser der Springprozession, und andere waren Heilige, die bei Nervenkrankheiten, Krämpfen,  Epilepsie usw. angerufen  wurden und waren Ausdrücke vieler neurologischer Erkrankungen. Nur Bösewichter würden sagen, dass Fortschritt ein Krampflöser ist, der nicht wirklich hilft. Aber ein Hoch auf die Fortschritts und Springprozession.

Hier ein paar Beispiele:

Sehr viele Landbewohner*innen können sich auf den ÖPNV nicht verlassen. 84 % brauchen Autos, Motorräder oder Mofas als wichtigstes Verkehrsmittel­, sagte mir Google. Wer auf dem Land wohnt, lebt auf der Schattenseite der modernen Welt. Ist das Fortschritt?

Wirtschaft braucht Energie und produziert damit viel CO2. Das kann man noch nicht ersetzen. Nicht notwendige CO2-Produktion durch Autos usw. kann nicht abgestellt werden. E-Autos zu erschwinglichen Preisen und sinnvolle Infrastruktur gibt es aktuell kaum.

Wer hoch steigt, fällt tief.
Foto Pixabay)

Digitaler Unterricht, digitale Sicherheit usw. sind zweifelsohne ein Fortschritt. Hat man aber diese Art von Fortschritt angeleiert, bevor man den Überhang von Problemen ins Kalkül einbezog? Jetzt kommt auch noch die Künstliche Intelligenz, die uns Wahr und Fake nicht mehr unterscheiden lässt. Nebenbei: Die postfaschistische italienische Ministerpräsidentin Georgia Meloni hat auf dem G7 Gipfel sogar Papst Franziskus für ein Referat über Künstliche Intelligenz eingeladen. Ein Beweis für päpstliche digitale Expertise?

Wie auch immer: AfD-Wähler haben längst auch die sog. mittlere Mittelschicht erreicht. Es sind Menschen, denen moderne Lebensstrukturen, ob auf dem Land oder in der Stadt, schwerfallen oder nicht verstehen, (warum und wozu die Modernisierung für unser Leben gut sein soll. Schafft die AfD Hilfe?

  • Angst ruiniert die Gesellschaft

Alternde Gesellschaft, Einsamkeit, keine kindgerechten Städte, Wohnungsmangel und Bürokratie sind längst nicht alle Stichworte, die uns zeigen, dass unsere Gesellschaft den Berg runtergeht. Aber auf jeden Fall haben sie einen gemeinsamen Nenner: Fortschritt geht nur durch Modernisierung, und Modernisierung blendet viele Bedürfnisse des Menschen aus. Kommen wir noch einmal auf Juli Zehs Roman zurück. Sie glaubt, dass unsere Demokratie „am Kampf der Angst“ zugrunde geht. Das fürchte ich auch. Natürlich waren die Demonstrationen gegen rechts beeindruckend, aber wie es scheint, nicht so durchdringend wie vorher gedacht. Hinzukommt der Klimawandel mit Bränden, Hochwasser und Hitze.

Sagen wir so: Angst macht unsere Gesellschaft kaputt. Wir alle haben Angst und glauben, dass unsere Angst wichtiger ist als die Angst des anderen. Ich verachte die rechtsextremen Angstmacher, deren politischen Programme unsinnig sind, unter anderem, weil sie nicht helfen. Sollen sie doch einmal regieren, dann wird klar, dass sie nicht Regierungspraxis übernehmen können und keinen Deut besser sind als die viel gescholtene Ampel. Vielleicht können sie Kanzler, sagt man.  Haben wir noch genug Zeit für solche Experimente?

Wie kann man das politisch umsetzen?

  • Menschen fragen, nicht Menschen regieren.

Angenommen, bei der nächsten Bundestagswahl kommt die AfD ans Ruder, sekundiert von der BSW, dann werden wir einen Rückgang der Wirtschaft erleben, die EU kommt in Rutschen und der EuGH sieht die Aushebelung des Schengener Abkommens. Parteiphilosophie hat gesiegt, aber eigentlich ging es ja um unsere Probleme. Nur: reduziert das unsere Angst?

  • Eigenartige Gründungsgeschichte der „Grünen“

In dem neuen Film „Petra Kelly“ wurde klar, dass sie zwar an der Gründung der Grünen maßgeblich beteiligt war. Aber heute würde sie die Grünen nicht mehr wählen, weil sie den Menschen und ihren Ängsten helfen wollte und die Partei das aktuell nicht tut. Ich fürchte, sie hat recht.

  • Koalitionen schmieden, die nicht die Probleme der jeweiligen Partei umsetzen, sondern die Probleme der Menschen.

Kommunikation und Austausch mit den Ängsten der Menschen müssen in der Regierung verstärkt werden, vielleicht sogar mit einem eigenen Ministerium.

  • Expertenräte gründen, die von den Problemen der Menschen etwas verstehen.

Psychologen und Philosophen sollten dabei sein. Bürgerräte sollten mit denen vernetzt werden. Auf diese Weise wird mehr Bürgernähe erreicht.

Bücher in Flammen? Reine Symbolpolitik – keine Hilfe. (Foto Pixabay)

Ein Beispiel von Umberto Ecos “Im Namen der Rose“ (Verfilmung seines Buches 1986), für mich ein Fest der Philosophen. Ein Abt rief einen Pater zur Hilfe, weil mehrere Morde in dem Kloster passierten. Der Pater, dargestellt von Sean Connery, bekannt durch die frühen James Bond-Filme, war wohl eine anonyme Version des mittelalterlichen Philosophen William Occam, dem man ungeheuer scharfe Beobachtung und Folgerung zutraute. Und was steckte dahinter? Der Pater Bibliothekar war Verfechter der Theorie, dass Jesus niemals gelacht habe. Aufregend? Dagegen standen die Anhänger des Philosophen Aristoteles (Poethik, 2. Teil, der leider verschollen ist, aber man suchte danach), dass eine gutes Buch Lachen produzieren könne. Die Anhänger des Aristoteles werden im Kloster vergiftet. Um genau das zu vermeiden richtete der Bibliothekarius beinahe eine Katastrophe an: Am Ende der Verfilmung stand nicht nur die Bibliothek, sondern das riesige Kloster in Flammen. Dieser Streit, also wenn man so will: Vermutung gegen Vermutung, endete tragisch.

Übersetzen wir das in die Politik! Man streitet sich bis aufs Blut, ob man die AfD in die Landesregierung einbeziehen kann. Die Süddeutsche schrieb am 21./22. Sept. 2024 aus einer Ansprache von M. Platzek, Brandenburgs früherem Ministerpräsidenten: “Wir haben es seit 2015, 2016 versäumt, auf die Ängste gute, wirksame Antworten zu finden.“ Dieser Streit der Ängste ist letzten Endes ein sinnloser Streit, ob man eine Partei regieren lassen kann, die gegen Migration, gegen die EU und gegen ein Verbleiben von Migranten ist. Aber geht es um Philosophie wie bei Umberto Eco? Oder um das Problem, wie man Menschen ihre Angst nehmen kann. Ich fürchte, dass die Landesregierungen ihre Parteiphilosophie durchboxen, auch wenn Ecos Kloster – ein mittelalterliches Bild für „unsere“ Welt – den Flammen zum Opfer fällt. Was bleibt, ist die Angst.

Eine mögliche Hilfe beim Kampf gegen die Angst wäre ein Großaufgebot an Streetworkern. Aber so etwas bringe nichts, hieß es, und wurde darum vielfach abgeschafft. Vertrauen wir auf die CDU und (laut Politbarometer für die nächste Bundestagswahl) auf ihren Kampf gegen die AfD. Wieder ein Kampf der Theorie gegen die Angst? Und los geht’s wieder wie bei Umberto Eco.