Unser Mitgefühl mit der angegriffenen Ukraine allein ist kein guter Ratgeber in einer gefährlichen Lage. Schauen wir also auf kontroverse Fragen, die beantwortet werden müssen und die den Verlauf des Krieges bestimmen.
Im Zentrum eines Textes über Krieg sollte das Leid der Opfer, der Zivilbevölkerung und der Soldaten stehen. Dennoch wird im Folgenden kaum die Rede sein vom grausamen Alltag, der Angst und dem Schmerz von Kindern, deren Eltern und alten Menschen in der Ukraine. Wir empfinden tiefes Mitgefühl mit Opfern eines brutalen Angriffskrieges und ein ethisch-moralischer Impuls verlangt unsere Solidarität mit ihnen. Dieser Impuls, unser moralisches Empfinden, reicht aber nicht aus, wenn es um die Vernichtung von 10.000en Menschenleben geht, um die Vernichtung von Städten, Natur, Heimat, um alles, was es zu erhalten, zu verteidigen gilt und was im Krieg zugleich vernichtet wird. Weil unser Mitgefühl auch für Machtpolitik missbraucht wird, muss der Versuch gemacht werden, sachlich die Bedingungen zu analysieren, die den Beginn, den Verlauf und das Ende dieses Krieges bestimmen.
Fragen, die beantwortet werden müssen
In der deutschen Öffentlichkeit, in Medien und Politik, ringen zwei Positionen miteinander, die man kurzgefasst so darstellen könnte: Auf der einen Seite unbedingte Solidarität mit dem überfallenen Land und Niederringung des Aggressors Russland, auch in deutschem Interesse und dem russischer Nachbarn. Auf der anderen Seite Vermeidung einer (nuklearen) Ausweitung des Krieges und seine Beendigung als Alternative zu einem unsicheren Sieg einer der beiden Kriegsparteien. Jede der beiden Strategien würde erfordern, einen hohen Preis zu zahlen. Auf den ersten und zweiten Blick fällt es nicht leicht, sich für „richtig“ und „falsch“ zu entscheiden.
Es wäre möglich gewesen, die Katastrophe dieses Krieges zu verhindern, nun ist es zu spät. Früher konnte man in Bezug auf die Ukraine Fragen stellen wie: Sind sozial-zivile Verteidigungsformen nicht tauglicher als die militärische Verteidigung? Kann und darf man angesichts von Atomkraftwerken und Chemiefabriken in der Ukraine und ganz Europa einen konventionellen Krieg überhaupt noch führen? Die Frage, ob man der Ukraine hätte Waffen liefern sollen, wurde von der Realität überholt. Heute kann man nur noch diskutieren, welche Waffen, wie viele und wie lange.
Jetzt, wo die menschenfressende Kriegsmaschine seit vier Monaten ihre Blutspur durch die Ukraine zieht, stellen sich andere Fragen als vor dem Krieg, Fragen wie: Ist Putin der neue Hitler, wie sollen wir auf die Drohung mit Atomwaffen reagieren, wird Putin weitere Länder überfallen, welche Unterstützung kann die Ukraine erwarten, sollte sie um des Friedens willen Teile seines Staatsgebietes aufgeben, wie stehen wir zum neuen Wettrüsten, wie gehen wir mit Kriegsfolgen wie Wirtschafts- und Umweltkrise um und der drohenden Hungerkatastrophe auf der Südhalbkugel, welche Perspektiven sind wahrscheinlich für ein Ende des Krieges. Dies sind nur einige der Herausforderungen, für die wir einen vernunftgeleiteten Standpunkt brauchen, auch wenn es schwer ist, gegen die Kraft der Bilder und Gefühle zu argumentieren.
Bevor ich mich diesen Fragen zuwende, ist ein Blick auf den Rahmen nützlich, in dem wir diskutieren, ein Rahmen, in dem Gefühle ein starke Rolle spielen. Zweitens wird man sinnvolle Antworten nur dann geben können, wenn man Hintergrund und Ursache dieses Krieges zur Kenntnis nimmt. Ich werde deshalb diese beiden Themen zuerst betrachten, bevor ich die genannten Fragen erneut aufgreife.
Die deutsche Diskussion über den richtigen Weg aus der Krise
Die Überzeugung, man müsse die Ukraine bedingungslos militärisch unterstützen, wird von der NATO, der Bundesregierung, der Bundestagsmehrheit und allen führenden Medien in Deutschland vertreten, den TV-Sendern ebenso wie der Presse. Diese üben starken Druck auf die Regierung aus, der Ukraine mehr und schneller schwere Waffen zu liefern. Politiker und Medien begründen dies mit einer Mischung von Argumenten und dem Appell an Gefühle. In den Medien ist die Auffassung deutlich schwächer vertreten, die man vereinfacht „Frieden ist wichtiger als Sieg“ nennen könnte. Sie wird überwiegend außerhalb des Parlaments vertreten, von einem Teil der Intellektuellen, von Wissenschaftlern, ehemaligen Generälen und Diplomaten, der heute relativ schwachen Friedensbewegung und einer Minderheit von Presseorganen mit einer geringeren Auflage als die der sog. Leitmedien.
Eine gelassene und respektvolle öffentliche Auseinandersetzung darum, welches der beste Weg ist, den Deutschland und seine Verbündeten einschlagen sollten, findet selten statt. Einzelne Aktivisten aus der Friedensbewegung bezeichnen diejenigen als „Kriegstreiber“ oder „Militaristen“, die für unbedingte Waffenlieferungen an die Ukraine, bzw. für deutsche Aufrüstung eintreten.
Das steht jedoch in keinem Verhältnis dazu, dass in der gesamten Mainstream-Presse – von ‘Zeit’, ‘Frankfurter Allgemeinen’ über ‘Spiegel’ bis hin sogar zum Recherchenetzwerk ‘Correctiv’ und vielen anderen – diejenigen seit Monaten mit Schmähwörtern bedacht werden, die gegen Lieferung schwerer Waffen sind oder die Schaffung von Frieden für höher erachten als die Erkämpfung eines Sieges oder die einfach Angst vor einem Atomkrieg haben. Es wird Stimmung gemacht durch die Rede von „Lumpenpazifisten“, „Kriegsmüden“, „Defätisten“ (d.h. mutlosen Schwarzsehern), „Feiglingen“, „Egoisten ohne Mitleid mit leidenden Ukrainern“, „im Stich lassen“, „Zauderern“, „Putinverstehern“, „Interessenvertretern Russlands“, um nur wenige Beispiele zu nennen. Manche sind sich nicht zu schade, „Mannestugenden“ aus der Mottenkiste des Ersten Weltkrieges hervorzukramen, wenn sie „Mut“ gegen „Feigheit“ setzen und dafür plädieren, man dürfe vor Drohung und Gefahr durch Atomwaffen jetzt nicht „einknicken“. Das beeinflusst das gesellschaftliche Klima, macht Druck und klingt wie Mobilmachung.
(Es lohnt sich nicht, auch auf die Sichtweise von Leuten einzugehen, die tatsächlich mit Putin sympathisieren oder seinen Krieg rechtfertigen, seien es Rechtsradikale oder verirrte Grüppchen von „Linken“.)
Menschen in Not und Staatsinteressen
Ein ständig wiederholtes Argument für die militärische Unterstützung der Ukraine ist der Appell an unseren Gerechtigkeitssinn und die solidarisch-mitfühlende Unterstützung für die Opfer eines Angriffskrieges. Es drängt sich allerdings die Frage auf, ob diese zutiefst menschlichen Gefühle auch von Staaten „empfunden“ werden.
Der Satz „Staaten haben keine Freunde, Staaten haben Interessen“ wurde von Politikern und Wissenschaftlern bereits zigmal wiederholt. Bei Egon Bahr, dem Architekten der Ostpolitik unter Willy Brandt, hörte er sich so an: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ Es lässt sich an vielen Beispielen belegen, dass diese Aussage stimmt, obwohl auch Staaten manchmal Ländern und Menschen in Not beistehen – allerdings nur dann, wenn es ihren Interessen dient, bzw. nicht mit diesen kollidiert! Das bedeutet, dass Politiker*innen in ihrem Handeln nicht frei sind, einem allgemein gültigen Gerechtigkeitssinn, einer übergeordneten Moral oder einfach menschlichem Mitgefühl zu folgen. Wenn sie sich jedoch bemühen moralisch zu handeln, muss man von ihnen erwarten, dass sie auch dann die Folgen ihres Handelns bedenken.
Die außenpolitischen Interessen der USA erklären, warum sie nach dem Zweiten Weltkrieg gerade die junge BRD unterstützten während sie zur gleichen Zeit in Südamerika die grausamsten Diktatoren an die Macht brachten und deren Schlachtereien zusahen. Vermutlich würde Deutschland Whistleblowern wie Edward Snowden und Julian Assange Asyl und Schutz anbieten, wenn diese nicht amerikanische Verbrechen aufgedeckt hätten, sondern nordkoreanische, russische, chinesische, venezolanische. Das NATO-Mitglied Türkei ist völkerrechtswidrig mit Bodentruppen in den kurdischen Teil Syriens einmarschiert, hat das Land besetzt, Menschen getötet und vertrieben. Dass den Kurden keine Waffen zur Verteidigung geliefert wurden, der Ukraine jedoch schon, wird von Interessen diktiert. Das gleiche gilt für den Überfall auf den Irak 2003. Die Politiker der östlichen Mitgliedsstaaten der EU sowie der Ukraine, Georgiens und Moldawiens werden nichts persönlich gegen irakische Zivilisten gehabt haben. Dennoch haben sie alle in der „Koalition der Willigen“ mitgemacht beim völkerrechtswidrigen Angriff der USA. Militärisch wurden sie eigentlich gar nicht gebraucht, aber dabei sein ist alles. Es hätte den Interessen dieser Staaten geschadet, die ‘Einladung’ der USA abzulehnen. Ich erspare mir weitere Beispiele, wie die Untätigkeit von NATO-Staaten beim Völkermord in Ruanda (es gab kein Interesse an der Rettung dieser Menschen), das Interesse an guten Beziehungen zu Staatsverbrechern und Diktatoren, usw. Interessen von Staaten stehen vor menschlichen Empfindungen, und dies gilt doppelt und dreifach, wenn es sich um Großmächte, Weltmächte, Supermächte handelt.
Auch wenn Politiker und Journalistinnen nicht gern darüber sprechen – wenn wir das Handeln Russlands, der USA, der NATO-Staaten und der Bundesregierung beurteilen, wenn wir die Chancen für den Verlauf des Krieges abwägen, sind wir gut beraten, das Leid der Menschen in der Ukraine aus der Sicht der beteiligten Staaten nicht allzu hoch zu bewerten, sondern lieber nüchtern deren Interessen zu betrachten.
Die Interessen an diesem Krieg deuten auf seinen Ausgang
Schauen wir uns also die Interessen der Beteiligten an. Die Vertreter der Regierungs-, Medien- und NATO-Position zeichnen kein vollständiges Bild der Ursachen und Hintergründe dieses Krieges. Sie lassen entscheidende Fakten unerwähnt, die unverzichtbar sind zur Beurteilung der Lage und der möglichen Entwicklungen in diesem Krieg. (Möglicherweise dient es einfach dem beruflichen Fortkommen in TV-Studios und Redaktionsstuben, mit dem Strom zu schwimmen, das Folgende wenn überhaupt nur sehr selten zu erwähnen und zugleich Standpunkte, die der Regierungslinie widersprechen, verächtlich zu machen.)
Zu glauben, es ginge nur um einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine, und das Ringen von Großmächten um Vorherrschaft spiele dabei keine Rolle, hieße nichts zu verstehen von „Geopolitik für Anfänger“ (so der einflussreiche amerikanische Politikwissenschaftler John J. Maersheimer). Ich fasse deshalb noch einmal kurz zusammen, was ich in früheren Texten zum Hintergrund des Krieges bereits geschrieben habe, was aber zum Verständnis für seinen Ausgang wichtig ist.
1990 und 1991 haben Michail Gorbatschow und Boris Jelzin vergeblich vorgeschlagen, die UdSSR, bzw. Russland solle NATO-Mitglied werden. Im Rahmen der NATO-Osterweiterung wurden 14 ehemals sozialistische Länder und Staaten, die entweder vormals Teil der Sowjetunion waren oder dem Warschauer Pakt angehörten, auf Einladung der NATO deren Mitglieder. 2002 kündigten die USA den ABM-Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen. 2004 ratifizierte nur Russland den ausgehandelten A-KSE-Vertrag zur Begrenzung schwerer konventioneller Waffensysteme in Europa. Als die NATO-Staaten sich ihrerseits weigerten, den Vertrag zu ratifizieren, erklärte auch Russland einige Jahre später, sich nicht mehr daran halten zu wollen. 2019 kündigten die USA das INF-Abkommen über die Vernichtung atomarer Kurz- und Mittelstreckenraketen, 2020 stiegen sie aus dem Open Skies Treaty aus. Dieser Vertrag erlaubte den Vertragsteilnehmern zur militärischen Vertrauensbildung, gegenseitig ihre Territorien zu überfliegen und Lagebilder zu erstellen. Man könnte weitere bekannte Tatsachen nennen, die demonstrieren, dass die USA und ihre Bündnispartner alles getan haben, die Sicherheitsinteressen einer rücksichtslosen Großmacht wie Russland demonstrativ zu verletzen und früher oder später aggressive Reaktionen geradezu herauszufordern und in Kauf zu nehmen. Dies geschah im ruhigen Bewusstsein, dass die USA Russland politisch, wirtschaftlich, militärisch haushoch überlegen waren und sind. Außerdem war klar, dass ein ernster Konflikt mit Russland zunächst vor allem Europa und nicht die USA jenseits des Atlantiks betreffen würde.
In diesen Zusammenhang gehört auch die Annexion der Krim durch Russland. Auf dem Hintergrund der Einladung 2008 an die Ukraine und an Georgien, der NATO beizutreten sowie des Sturzes des eher Russland-freundlichen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch im Februar 2014, stand für Putin der Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim auf dem Spiel. Russland tat, was Großmächte zu tun pflegen: Das Völkerrecht war egal und die Krim wurde annektiert. Da die NATO zur Vermeidung von Beistandspflichten bisher keine Länder aufnimmt, die sich in Territorialstreitigkeiten befinden, entsprach es russischer Großmachtlogik, die Abspaltung Abchasiens und Südossetiens von Georgien zu unterstützen ebenso wie russischsprachige Separatisten im ukrainischen Donbas. Seit 2014 bekämpfen sich nicht nur die Separatisten mit russischer Unterstützung und die ukrainische Armee gegenseitig, sondern beschießen auch zivile Wohngebiete. Die Minsker Abkommen, ausgehandelt zwischen Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine, wurden von beiden Seiten nie eingehalten.
Spätestens seit 2014 liefern die USA modernes Militärgerät in die Ukraine und bilden Soldaten daran aus. US-Präsident Biden schreibt 2017 in seiner Autobiographie, er habe auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2015 den ukrainischen Präsidenten ermuntert, das Donbas-Problem mit US-Unterstützung militärisch zu lösen. Seit mehreren Jahren heizen NATO und Russland mit Großmanövern an den jeweiligen Grenzen die Spannungen immer weiter an.
Diese nackte Schilderung russischer Interessen und Handlungsmotive dienen natürlich nicht dazu, den russischen Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen oder gar zu entschuldigen. Die Schuld für den grausamen Überfall auf ein Nachbarland wird die russische Regierung trotz aller Propaganda nie von sich abwaschen können. Zugleich ist nüchtern festzustellen, dass selbst Tiere beißen, wenn man sie in die Ecke drängt. Von einer aggressiven Großmacht ist etwas anderes nicht zu erwarten.
Es wäre möglich gewesen, diesen Krieg zu verhindern. USA/NATO hätten bis an die Grenze des Verhandelbaren gehen können und müssen, um eine humanitäre Katastrophe für die ukrainische Bevölkerung zu verhindern. Man hätte Russland die Neutralität der Ukraine vertraglich zusichern oder zumindest eine vorläufige Regelung für 20 oder 25 Jahre anbieten können. Die bis in den März hinein wiederholten russischen Forderungen, die Ukraine müsse neutral bleiben, auf die gegenseitige Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen und militärische Handlungen in der Ukraine, im Südkaukasus und bestimmten anderen osteuropäischen Staaten sei zu verzichten, wären zweifellos verhandelbar gewesen. Strategische Interessen der USA standen dem entgegen.
Die USA erklären seit Jahren China zum Hauptgegner im Ringen um globale Vorherrschaft. Dass sich dieser Konflikt weiter zuspitzen wird, ist die allgemeine Erwartung in Politik und Wissenschaft. Auf diesem Hintergrund konnte man kaum überrascht sein, dass der amerikanische Verteidigungsminister die dauerhafte Schwächung Russlands als dritter großer Nuklearmacht als entscheidendes Kriegsziel benannte.
Egal ob die Ukraine oder Russland diesen Krieg „gewinnt“ – die USA haben ihn, nüchtern betrachtet, bereits heute gewonnen. Russland wird geschwächt aus diesem Krieg hervorgehen und die USA/NATO sind stärker als je zuvor. Wenn man Optionen für den weiteren Verlauf dieses Krieges abschätzen will, muss man Fakten wie diese zur Kenntnis nehmen, und häufig wiederholte Sprüche führender NATO-Politiker, der Ukraine-Krieg brauche ein Verhandlungslösung, aber Russland wolle ja nicht, sind sicher nicht die ganze Wahrheit.
Wie so oft in Kriegen haben sich die Kriegsziele beider Seiten in seinem Verlauf geändert. Putin hat die russische Gesellschaft von einem autoritär-autokratischen System verwandelt in eines, das deutlich faschistische Züge trägt. Sein idiotisches Gerede vom Kriegsziel der Befreiung der Ukraine von drogensüchtigen Nazis ist in erster Linie Propaganda für die eigene Bevölkerung. Für seine Träume, das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion in den Griff zu bekommen, sieht es nicht gut aus. Selenskyj dagegen, der noch im März die Neutralität der Ukraine und eine Übereinkunft für den Status des Donbas anbot, verspricht seiner Bevölkerung im Juni den vollständigen Sieg inklusive der Rückeroberung des Donbas und der Krim. Beide jedoch haben durchaus keine Kontrolle über das, was sie vollmundig versprechen. Das Erreichen der Kriegsziele beider Seiten hängt jetzt völlig davon ab, wie viel und wie lange die NATO alles liefert, was die Ukraine braucht für einen Krieg, der gewonnen werden soll und laut NATO-Generalsekretär Stoltenberg noch Jahre dauern kann. Die USA, und in geringerem Umfang ihre europäischen Verbündeten, sind willens und in der Lage, für diese Lieferungen zu sorgen. Die USA haben bisher, Stand 21. Mai, Unterstützungen in Höhe von 53,7 Milliarden Dollar öffentlich gemacht. Die Frage ist, ob ein jahrelanger Zermürbungskrieg, der kaum eindeutig zu Gunsten einer Seite ausgehen wird, im Interesse der ukrainischen Bevölkerung und Europas sein kann.
Noch einmal: Fragen, die beantwortet werden müssen
Ich meine durchaus nicht, für alle Probleme, die diesen Krieg betreffen, abschließende Antworten zu kennen, und manches wird sich erst durch den weiteren Verlauf des Krieges erhellen. Aber im jetzigen Verlauf der öffentlichen Diskussion erscheint es mir sinnvoll, auf der Basis vernünftiger Abwägung eine Annäherung an einige kontroverse Standpunkte zu versuchen.
Ist Putin mit Hitler zu vergleichen? Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk meint gar: „Putin ist wie eine Symbiose aus Hitler und Stalin“. Solche Vergleiche halten einer nüchternen Überprüfung nicht stand und werden auch durch Wiederholung nicht richtiger. Bei aller Abscheu gegen Putin, seine Innenpolitik und die Brutalität seiner Kriege – da ist nichts, was sich mit Stalins GULAG vergleichen ließe oder mit Hitlers Kriegszielen, der tatsächlichen Auslöschung von „Untermenschen“ jüdischer oder slawischer Herkunft, anderer Hautfarbe oder Überzeugungen. Es überzeugt mich auch nicht, wenn die russischen Kriegsverbrechen zu einem „geplanten Völkermord“ umgedeutet werden. Fehlerhafte oder absichtsvolle Fehlanalysen dieser Art haben Konsequenzen für die praktische Politik. Wer Putin zum neuen Hitler macht, will und muss jeden Kompromiss mit Russland als zu gefährlich ablehnen, und es ergäbe sich die Notwendigkeit, Krieg gegen Russland bis zum endgültigen und vollständigen Sieg zu führen.
Bedeutet ein Kompromiss mit Russland die Wiederholung der Appeasement(d.h. Beschwichtigungs)-Politik gegenüber Hitler-Deutschland? Hier scheint wieder der Hitler-Putin-Vergleich durch. 1938 haben England und Frankreich die Tschechoslowakei gezwungen, einen Teil ihres Staatsgebietes an Hitler-Deutschland abzutreten, weil sie glaubten, Hitler beschwichtigen und von seinen Kriegsplänen abbringen zu können. Damals war es Hitler, der Deutschland bereits in vertragsbrüchiger Weise aufgerüstet hatte, und die Westmächte verzichteten darauf, Gegenleistungen wie Truppenrückzug und Abrüstung zu verlangen. Der geschichtsverdrehende Vergleich mit der heutigen Situation klebt nicht nur kluger Diplomatie von vornherein ein schmuddeliges Etikett an, sondern blendet auch die Vorgeschichte des Ukraine-Krieges aus. Damals agierten England und Frankreich aus einer Position der Schwäche, während die NATO im Vergleich zu Russland aus der Position der Stärke agiert. Es waren die USA/NATO, die Russland auf verschiedenste Weise mit dem Rücken an die Wand gedrückt haben. Die bisherigen Vorschläge für einen international garantierten Vertragsfrieden zwischen der Ukraine und Russland haben nichts damit zu tun, Russland zur Beschwichtigung fremdes Staatsgebiet zu schenken, sondern verlangen Waffenstillstand, Truppenrückzug, Übergangsregelungen und Autonomie für umstrittene Gebiete.
Muss man Putins Drohung ernst nehmen, Atomwaffen einzusetzen oder lähmt man sich durch Furcht nur selbst? Auch die, die dafür plädieren, die Großmacht Russland niederzuringen, schließen die reale Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen nicht aus. Manche von ihnen, wie der frühere Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten, General McMaster, der die „Gewichte global verschieben“ will „hin zur freien Welt“, findet, der Westen dürfe sich durch „Putins nukleares Säbelrasseln“ einfach nicht beeindrucken lassen (Spiegel-Interview 19.03.2022).
Dagegen meint General a. D. Helmut Ganser, ehemals zuständig für Militärpolitik im Verteidigungsministerium und bei der deutschen NATO-Vertretung in Brüssel tätig, „angesichts der konventionellen Überlegenheit der NATO wird sich Russland künftig noch mehr auf seine nukleare Abschreckung stützen“. Ganser schreibt, was auch Politiker und Medienleute wissen, aber anscheinend nicht offen zu sagen wagen: „Auf der Hinterbühne …, wo Regie geführt wird, wird die dominierende geopolitische Ebene des Konflikts immer offensichtlicher: das machtpolitische Ringen zwischen Moskau und Washington“. Er hat den „Eindruck, dass Washington sich schrittweise an die Schwelle herantastet, an der der Kreml einen Teil seiner zahlreichen taktischen Atomstreitkräfte in Bewegung setzt“. Da es „letzten Endes um das Schicksal Europa“ gehe, müssten “die europäischen NATO-Partner eine mitgestaltende Rolle suchen … und das Ruder nicht nur Washington überlassen“. Sie müssten Washington klarmachen, das „jedes Denken in Kategorien von regional begrenzter nuklearer Kriegsführung untragbar und bündnissprengend wäre“ (Internationale Politik und Gesellschaft, IPG, 24.05.2022).
Der führende amerikanische Politikwissenschaftler Graham Allison schätzt Putin im Einklang mit anderen Wissenschaftlern und Militärstrategen so ein, dass er unter Druck eine „vergleichsweise kleine Atombombe“ einsetzen würde, „was etwa der Bombe von Hiroshima entspricht“. Die USA kämen dann nicht umhin, „etwas Dramatisches zu tun“, z. B. die Abschussrampen der russischen Iskander-Raketen zu attackieren, „dann würden Amerikaner Russen töten“. Das Argument, der Westen solle sich von Putins nuklearen Drohungen nicht bluffen lassen, komme „vielfach von Leuten, die nicht wirklich wissen, mit welchem Risiko sie es hier zu tun haben.“ Allison meint, dass dieses Szenario „die Frage aufwirft, ob wir Putin vor die Wahl stellen sollten, alles zu verlieren“; es sei klüger, ihm rechtzeitig „einen aus seiner Sicht guten Grund geben, den Krieg stoppen zu können“ (Spiegel-Interview 21.05.2022).
Es gehört zu kluger Diplomatie, das was im Krieg zu gewinnen ist, abzuwägen gegen das reale Risiko der größten denkbaren Katastrophe für die Menschen in der Ukraine und Europa. Es wird dem Problem nicht gerecht, wenn manche dies verächtlich „Appeasement-Politik“ nennen.
Wird Russland weitere Länder überfallen? Wenn man Russland legitime Sicherheitsinteressen zubilligt, muss dies auch für seine Nachbarn Polen und die baltischen Länder gelten. Der Überfall auf die Ukraine bestätigt nur ihre historischen Erfahrungen mit dem riesigen Nachbarn. Während in der deutschen Debatte einige darauf hinweisen, dass durch grenzenlose Waffenlieferungen an die Ukraine die Gefahr der (nuklearen) Ausweitung des Krieges stetig wachse, sagen andere, wie Anton Hofreiter von den Grünen, das exakte Gegenteil. Nur durch Waffenlieferungen, die eine russische Niederlage herbeiführten, sei Russland der Appetit auf weitere Länder zu verderben. („Sollte die Ukraine … verlieren, ist kein Land in Europa mehr sicher“, wie der Spiegel schreibt).
Diese Position verkennt zweierlei: Erstens die Rolle des globalen Ringens zwischen USA und Russland. Selbst wenn Putin durch Einsatz aller Kräfte diesen Krieg gegen ein Nicht-NATO-Land „gewinnen“ würde, wüsste er zugleich, dass er bei Strafe seines Untergangs nicht wagen könnte, die haushoch überlegenen USA, bzw. seine NATO-Verbündeten anzugreifen. Zweitens bleibt außer Betracht, welchen Zweck eine Großmacht mit der Eroberung anderer Länder verfolgt. Auch wenn man einem Putin charakterlich zutrauen will, andere Länder anzugreifen, so müsste man vernünftigerweise in Betracht ziehen, warum Russland einen enormen Preis zahlen wollte, um diese zu beherrschen. Nur um des Herrschens willen oder wegen eines militärstrategischen Vorteils oder um diese wirtschaftlich auszubeuten z. B.? Da es Russland sowohl an militärischer wie an wirtschaftlicher Kraft fehlt, um zumindest ein großes Land wie Polen erobern und danach beherrschen zu können, ist diese Annahme unrealistisch. Es erscheint deshalb durchaus nicht überzeugend, dass der Ukraine-Krieg unbedingt mit einer völligen Niederlage Russlands enden müsse, damit andere Länder geschützt würden.
Die Ukraine hat das Recht, ihre Form der Verteidigung selbst zu bestimmen. Was folgt daraus für die Pflicht, sie zu unterstützen? Das Völkerrecht erlaubt bestimmte Formen militärischer Unterstützung, kennt aber nicht die Pflicht, sie zu leisten. Ein menschlicher, moralischer Impuls verlangt nach Unterstützung. Die Interessen westlicher Staaten nicht unbedingt. Es gibt Gründe, warum der Nicht-NATO-Staat Ukraine unterstützt wird, andere angegriffene Länder und Menschen jedoch nicht (Vietnam, Tschetschenien, Irak, der kurdische Teil Syriens, usw.). Das Interesse, der angegriffenen Ukraine zu Hilfe zu kommen – wie lange und mit welchen Mitteln – wird letztlich bestimmt durch Faktoren, die ich oben erwähnt habe.
Kann man von der Ukraine erwarten, um des Friedens willen einen Teil seines Staatsgebietes aufzugeben? Unser Gerechtigkeitssinn wird vielleicht nein sagen, zumal die Ukraine das alleinige Recht hat zu bestimmen, welchen Preis sie bereit ist zu zahlen für die vollständige Integrität ihres Landes. Über die Fähigkeit allerdings, die Kontrolle über den Donbas und die Krim zurückzuerlangen, bestimmen allein die Interessen des Westens. Das klingt zynisch, aber so ist es. Wenn wir allerdings darüber reden, welchen Preis man bereit sein sollte zu zahlen für das Recht über das eigene Land, könnte man das deutsche Beispiel anführen. Wäre Deutschland irgendwann in den letzten Jahrzehnten bereit gewesen, seine Ostgebiete, die heute überwiegend zu Polen gehören, oder das französische Elsass-Lothringen zurückzuerobern? Sicher nicht. Der Versuch wäre nicht nur unmöglich gewesen, nicht zuletzt wegen der Interessen unserer Nachbarn, sondern er wäre aus heutiger Sicht auch falsch gewesen, weil er einen entsetzlichen Preis an Elend, Menschenleben, lebenswerter Heimat gekostet hätte. Dieses Beispiel kann und darf man den Menschen in der Ukraine heute nicht vorbeten, so wie es sich verbietet, Ihnen aus unserer bequemen Position heraus Ratschläge zu erteilen. Aber für vernünftiges Abwägen innerhalb der deutschen Diskussion mag das Beispiel nützlich sein.
Wollen alle Ukrainer*innen diesen Krieg führen, und wenn ja in welchem Ausmaß? Die Medien in Deutschland zeichnen ein Bild, dass den Eindruck erweckt, alle Ukrainer*innen stünden ‘wie ein Mann’ hinter dem Kampfeswillen ihres Präsidenten und anscheinend auch der gesamten Streitkräfte. Das mag stimmen, aber wir wissen nichts Genaues darüber. Ich habe nur selten Bilder und Interviews gesehen, in denen Zivilisten und Militärangehörige in zerstörten Städten oder bei Beerdigungen gesagt haben, es müsse einfach Schluss sein. Wir wissen auch nicht, welche Haltung sich in der Flucht von 7-8 Millionen Menschen innerhalb und außerhalb der Ukraine ausdrückt, und vor allem, wie die Lage während eines jahrelangen Zermürbungskrieges aussehen wird. In der Zeit um 2014 war die Stimmung im Osten der Ukraine eher Russland-freundlich. In welchem Maße sich das nach dem brutalen Überfall geändert hat, darüber gibt es kaum Berichte. Was wir sicher wissen ist, dass in jedem Krieg die Propaganda eine wichtige Waffe beider Seiten ist. Dass das Recht, den Kriegsdienst zu verweigern und das Land zu verlassen, ukrainischen Männern im kriegsfähigen Alter verweigert wird – egal, wie viele davon Gebrauch machen würden – ist nicht akzeptabel. Ich bin kein bedingungsloser Pazifist, aber aus grundsätzlichen Erwägungen sollte die EU Deserteuren beider Seiten die geschützte Aufnahme in der EU versprechen. Aber dies würde einen Präzedenzfall schaffen, der nicht im Interesse des Militärs der NATO-Staaten läge.
Hat die erwartete Wirtschaftskrise, das Fehlen von russischem Öl und Gas und die Inflation bei uns, Auswirkungen auf den Krieg? Man kann das moralische Empfinden von Leuten nachvollziehen, die sagen, wir müssten doch einen Einbruch in unserem Lebensstandard hinnehmen im Angesicht des Leidens der Menschen in der Ukraine. Allerdings klingt es schäbig, wenn Politiker*innen oder Journalist*innen in Talkshows Wein trinken und Wasser predigen. Denn Arbeitsplatz- und Einkommensverluste betreffen sie, wenn überhaupt, viel weniger als Leute in unsicheren Arbeitsverhältnissen und mit geringem Lohn. Zugleich gab es in Wirtschaft und Politik immer Stimmen, die auf deutsche Interessen hinwiesen, und einen schweren Wirtschaftseinbruch in Folge des Krieges für nicht hinnehmbar hielten. Dabei ist es erstaunlich bis erschütternd, wie man das Risiko eines Wirtschaftseinbruches als schwerwiegend an die Wand malen kann – zugleich aber das viel dramatischere einer (nuklearen) Ausweitung des Krieges für nicht so gefährlich erklärt. Seit Putin selbst jedoch dazu übergegangen ist, „den Gashahn zuzudrehen“ hat die Diskussion darüber nachgelassen, ob der Krieg beendet werden müsse, um eine tiefe Wirtschaftskrise in Deutschland abzuwenden. Sollte es jedoch in den wichtigsten westlichen Staaten durch den Krieg zu ernsten wirtschaftlichen Verwerfungen kommen, wird das Thema wieder auf den Tisch kommen.
Erzwingen Hungerkatastrophen auf der Südhalbkugel und nicht mehr reparierbare Klima- und Umweltfolgen, den Krieg um jeden Preis zu beenden? Durch den Ukraine-Krieg hat sich nichts daran geändert, dass Klimakrise und Umweltzerstörung Menschheitsfragen sind, die dringlich unser Überleben auf diesem Planeten in Frage stellen. Selbst in Friedenszeiten gehört das Militär zu den bedeutendsten Klimakillern und Umweltzerstörern. Um wie viel mehr trägt dieser Krieg in Europa und der Welt zur ernsten Verschärfung der Lage bei. Dies allein wäre Grund genug gewesen ihn zu verhindern. Europäische Regierungen ersetzen jetzt russisches Gas durch vielfach schädlicheres amerikanisches und katarisches Fracking-Gas, fahren die Kohleverstromung wieder hoch und denken laut darüber nach, wie gut doch jetzt Atomkraft wäre. Die Fukushima-Katastrophe hat zur Einsicht geführt, wie gefährlich selbst ihre zivile Nutzung ist – über den denkbaren militärischen Einsatz aber sollen wir uns keine Sorgen machen.
Ausbleibende Nahrungsmittel, verteuerte Einfuhren von Düngemitteln, Inflation und allgemeiner wirtschaftlicher Niedergang werden zu einer Überlebensfrage für viele Menschen auf der Südhalbkugel, die ohne am Krieg beteiligt zu sein, existenziell von ihm betroffen sind. Es ist darum logisch zu verlangen, dass der Krieg mit Blick auf die Klimafolgen, die die gesamte Menschheit betreffen, und die sich anbahnende humanitäre Katastrophe auf der Südhalbkugel beendet werden muss. Es gibt jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass diese überaus ernsten Bedrohungen einen Einfluss hätten auf die Entscheidungen Russlands, der Ukraine oder der NATO-Staaten.
Wird das neue Wettrüsten in Europa dem Frieden dienen oder weitere Kriege führbar machen? Die weltweiten Militärausgaben sind im letzten Jahr auf ein neues Rekordhoch gestiegen. Atommächte modernisieren ihre Nuklearwaffen, Großbritannien vergrößert sein Atomwaffenarsenal deutlich, die Bundesrepublik will den Atomwaffenverbotsvertrag der UN nicht unterzeichnen.
Nach Angaben des NATO-Generalsekretärs Stoltenberg betrugen die gesamten Militärausgaben des NATO-Bündnisses im letzten Jahr 1,175 Billionen US-Dollar.
Allein der Militärhaushalt der USA von ca. 811 Milliarden Dollar war 2021 mehr als dreimal so hoch wie die Militärausgaben Chinas und Russlands zusammen. Nach der beschlossenen Erhöhung des deutschen Verteidigungsetats auf mehr als 2% des BIP werden allein die deutschen Militärausgaben deutlich höher liegen als die Russlands (ohne Berücksichtigung des 100 Milliarden Euro Sondervermögens für die Bundeswehr). Karen Donfried, Staatssekretärin im US-Außenministerium für Eurasien, lobt die jüngsten deutschen Entscheidungen, Waffen in Konfliktgebiete zu liefern und die Militärausgaben zu erhöhen: „Wir … wollen, dass Deutschland … eine Armee aufbaut, die in Zukunft umfassendere Aufgaben übernimmt.“ (Spiegel-Interview 18.6.2022). Lt. Stoltenberg wird die schnelle NATO-Eingreiftruppe von 40.000 auf über 300.000 Soldat*innen vergrößert.
In der Gesamtschau der weltpolitischen Lage und der oben genannten Fakten spricht viel dafür, dass die NATO ihre Kräfte ausbaut, um überall auf der Welt militärisch eingreifen zu können und bereitzustehen für das Ringen mit China, dem Hauptkonkurrenten der USA um globale Hegemonie.
Es wäre wohl etwas weltfremd zu glauben, dass all dies einfach nur dazu dienen würde und notwendig wäre, um Russland in Schach zu erhalten. Russland wird wirtschaftlich nicht in der Lage sein, im Wettbewerb um gesteigerte militärische Fähigkeiten und Ausgaben mit USA und NATO mitzuhalten. Dies aber deutet auf das Risiko hin, dass Russland, würde es tatsächlich zu einer direkten Konfrontation mit der NATO kommen, angesichts seiner Unterlegenheit auf allen anderen Gebieten auf die Idee kommen müsste, nur noch durch den Einsatz von Atomwaffen bestehen zu können. Russland bleibt eine Atommacht, wird aber unter den ganz Großen zunehmend am Katzentisch sitzen. Seine Nachbarländer, die sich verständlicherweise von einer benachbarten Großmacht bedroht fühlen, die bereit ist über Leichen zu gehen, mögen sich durch die übermächtige NATO sicherer fühlen – zu mehr Frieden auf der Welt wird die allgemeine Aufrüstung, inklusive der deutschen, nicht führen.
Welche Perspektiven gibt es für ein Ende des Krieges in der Ukraine? Die Schlussfolgerung aus all dem zuvor Gesagten kann nur sein, dass dieser Krieg am besten sofort beendet werden muss. Weil nur so der Tod, das Leiden der Menschen und die Zerstörungen in der Ukraine aufhören, weil es keinen Sinn macht, einen Krieg an Stelle, für und im Interesse zweier Großmächte zu führen, weil die Gefahr einer (nuklearen) Ausweitung des Krieges real und unvertretbar ist, weil der Krieg Hungerkatastrophen unter unbeteiligten Menschen auf der Südhalbkugel hervorruft, und schließlich weil der Krieg Umweltzerstörung und Klimawandel enorm beschleunigt, ein Verbrechen an der Menschheit, worunter wiederum die Ärmsten auf der Welt und unsere Kinder und Kindeskinder leiden werden.
Es gibt drei Möglichkeiten, diesen Krieg zu beenden: Ein „Sieg“ entweder Russlands oder der Ukraine nach jahrelangem Gemetzel. Da die NATO entschlossen ist, einen „Sieg“ Russlands um jeden Preis zu verhindern, wird sie Waffen liefern so viel und so lange es nötig ist. Möglich wäre zweitens ein Einfrieren des Krieges, z. B. mehr oder weniger entlang der jetzigen Frontlinien im Osten und Süden der Ukraine. Dies hätte zur Folge, dass ein immer wieder aufflammender Kriegszustand auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten würde, bei dem sich beide Seiten in feindlicher Verbundenheit gegenüberstünden. Waffen würden weiterhin von der West- wie der Ostseite an die Frontlinie transportiert, die Sanktionen gegen Russland würden weiterbestehen und es existierte ein feindseliger Dauerzustand quer durch den europäischen Kontinent, der jederzeit erneut in einen heißen Krieg umkippen könnte.
Die dritte und beste Möglichkeit wäre ein Verhandlungsfrieden zwischen Russland und der Ukraine, der von einer Reihe internationaler Akteure durch Garantien begleitet würde.
Lobenswerterweise hat die italienische Regierung den Vereinten Nationen und den Regierungen der G7-Staaten Ende Mai einen Friedensplan vorgelegt. Beunruhigend allerdings ist, dass man in den Medien praktisch nichts mehr von ihm hört. Man darf spekulieren ob es daran liegt, dass bestimmte Akteure kein Interesse an einer Beendigung der Kämpfe haben. Der Plan enthält vier Kernpunkte: 1. Waffenstillstand und Entmilitarisierung der Kampfzonen unter internationaler Kontrolle. 2. Friedenskonferenz über die Neutralität der Ukraine, abgesichert durch internationale Schutzgarantien und mit der Möglichkeit der ukrainische Mitgliedschaft in der EU. 3. Abkommen zwischen der Ukraine und Russland über den Status des Donbas und der Krim. Italien schlägt eine Autonomie innerhalb ukrainischer Grenzen vor mit kulturellen und sprachlichen Rechten der Bewohner und freiem Personen- und Warenverkehr. 4. Multilaterales Abkommen im Rahmen der OSZE über Sicherheit und Frieden in Europa, über Abrüstung, Rüstungskontrolle, Konfliktverhütung, Sicherheitsgarantien, vertrauensbildende Maßnahmen. Schrittweiser Abzug russischer Truppen aus den besetzten Gebieten verbunden mit schrittweisem Aufheben der Sanktionen gegen Russland.
Eine Chance wird ein solcher Friedensplan haben, wenn mehrere internationale Akteure auf die Kriegsparteien zugehen, der UN-Generalsekretär z. B. gemeinsam mit Regierungen, die Einfluss auf Putin und Selenskyj haben. Diejenigen in Medien und Politik, die Russland, koste es was es wolle, niederringen wollen, halten davon nicht viel, weil man Putins Versprechungen sowieso nicht trauen könne. Das stimmt, ist aber trotzdem kein Argument. Erstens ist man immer gut beraten, wenn man Großmächten nicht zu sehr traut (das gilt auch für die USA), und zweitens könnte man jede Politik einstellen, weil EU-Verträge von ihren Mitgliedern ebenso wenig eingehalten werden wie Koalitionsverträge von Regierungsparteien, und weil Politiker vor Wahlen Dinge versprechen, die sie nicht einhalten. Zum schnellstmöglichen Ende des Schlachtens in der Ukraine durch einen Verhandlungsfrieden gibt es keine Alternative. Und zur Herstellung von Frieden und Sicherheit in Europa unter Einschluss Russlands auch nicht.
Am Ende seien Russland, die USA und NATO an zwei Sätze von Carl von Clausewitz, preußischer Generalmajor und Militärtheoretiker, erinnert: „Krieg kennt keine Sieger, jeder militärische Triumph erweist sich in Wahrheit als Niederlage aller Beteiligten.“ Und: „Der Krieg hat die Tendenz zum Äußersten zu schreiten.“