Der mittelalterliche Totentanz hat eine sehr hohe gesellschaftskritische Bedeutung, die bis heute nicht eingeholt wurde. Erstens soll man sie kennen und zweitens heutige Gesellschaftskritik daran messen.
Der mittelalterliche Totentanz fasziniert mich, weil er sehr viele – auch kritische – Gedanken auslöst. Aber jetzt erst die Geschichte, dann die kritischen Gedanken.
Die Geschichte des Totentanzen begann 1424 in Paris. Auf den Arkaden der Friedhofs von Aux St. Innocents wurde erstmals ein Totentanz aufgestellt. Seine Bezeichnung war „dance macabre“. Ist das französische macabre der originäre Ausdruck oder soll er das arabische maqabir (= Grab) bzw. das biblische Buch der Makkabäer wiedergeben? Nicht entschieden. Auf jeden Fall ist Auslöser die erste belegte Pestepidemie, der „schwarze Tod“ von 1348-53, die etwa ein Drittel der Bevölkerung Europas hinwegraffte. Nach dem Schock wurde daraus ein dringliches Epochenthema. Nach dem Pariser Original folgte der Totentanz von Basel – „Dodten dantz“.
Am Anfang stand eine Legende, die schon lange vor dem Totentanz als Auseinandersetzung mit der großen Pest entstand und erzählt wurde: Drei junge Adelige auf der Jagd stehen betroffen vor den Leichen ihrer Vorgänger. In die Jagd, den Ritus des Lebens und der Macht, mischt sich Entsetzen. Es wird damit die Botschaft ausgerichtet: Was ihr seid, das waren wir, was wir sind, das werdet ihr sein.
Die erste Auseinandersetzung begann sehr plastisch mit szenischen Darstellungen á la Straßentheater, Es folgten vado-mori-Gedichte (vado mori = ich gehe zum Sterben), Holzschnittbücher u.ä.. Schließlich kamen die großen Bildtafeln, meist auf Friedhöfen in bis zu 49 Bildern. Vertreter der damaligen Gesellschaft von Papst und Kaiser bis hin zu Einsiedler und Bettelmann in hierarchischer Folge wurden von einem Gerippe zum finalen Tanz aufgefordert.
Weltberühmt (sofern man das von Totentänzen sagen kann) wurde der Totentanz von Basel, dem sog. Predigertotentanz. Er wurde vermutlich 1440 in lebensgroßen Bildern auf die Mauer des Dominikanerinnenklosters gemalt. Dort fand das Baseler Konzil (1431–1449) statt. Im Laufe der Jahre war dieser Baseler Totentanz farblich verblasst und als „Kinderschreck und Leutescheuche“ verschrien. Er störte nur (wie alles Kritische), weswegen die Mauer mitsamt dem Totentanz 1806 abgerissen wurde. Nur Reste wurden ins Museum verbracht.
Nach Paris und Basel folgten viele Totentänze auf Friedhöfen und in Kirchen. Es gibt ihn sogar in Porzellan.
Zwischen den Zeilen
Bestandteile des Totentanze sind Angstbewältigung, Kirchenkritik, Besinnung auf soziale Regeln und Gesellschaftskritik. Wir müssen folgendes beachten:
- Der Tote konnte zwar tanzen, soviel Leben traute man im Mittelalter dem Tod zu. Aber Tanz (außer nach höfischen Regeln) galt damals als obszön, weil wild. Er – auch der Totentanz also – ist alles andere als fromm.
- Totentänze protestieren gegen die alte Gesellschaftsordnung. Wikipedia liegt darum falsch, wenn es sie vor allem mit dem frommen „Bedenke, dass du stirbst“ identifiziert. Ohne unfromme Proteste kann man sie nicht verstehen.
- Kritik kommt aus den unteren Gesellschaftsschichten, getragen von der Unzufriedenheit mit einer Welt, die zu sehr auf Macht und Gewalt setzt und viele vom Kulturleben und Verstehen der gesellschaftlichen Prozesse ausschließt.
Genau das macht den Totentanz so aktuell. Wer sich mit ihm beschäftigt, beschäftigt sich mit den Problemen von heute.
Als Beispiel nehme ich den Baseler Totentanz. Daraus stammt das Bild vom Stadtphysikus, nur in größeren Städten und Höfen gab es Ärzte mit Uniausbildung. Auch der gelehrte Arzt – er sollte eigentlich heilen können – ist ein Opfer des Todes, seine Gelehrsamkeit ist brüchig. Es geht nicht um die Halbwertzeit medizinischer Kenntnis, sondern um ihre Relativität. Schlussendlich ist am meisten herausgefordert. Die Möglichkeiten der Medizin, Leben zu retten, waren damals nicht so groß wie heute. Sie lösten und lösen viele, oft auch illusionäre, Erwartungen mancher Kranker aus. Die größte Heilhoffnung, die man sich damals wünschte, erwies sich als letzten Endes wenig hilfreich.
Ein Historiker der Totentänze (G. Kaiser) sah in solchen Bildern einmal die Sehnsucht nach Gleichheit und Mitreden-dürfen, dann auch nach Demokratie bzw. Eine-Rolle-spielen.
Geschah das aus Protest gegen das dort tagende Baseler Konzil, auf dem Dinge entschieden wurden, die alle angingen und nicht nur die Konzilsteilnehmer? Das zu leugnen wäre sinnlos. Hier ein paar Zitate aus dem Totentanz von Grenoble. „… Zur Rechenschaft seid Ihr gerufen, törichte Hoffnung täuscht den Menschen“ – so der Tod an den Patriarchen, und der Patriarch an den Tod: „… Der hohe Stand verdirbt so viele Menschen, doch wenige nur wollen es begreifen: nach oben steigen macht die Last nur schwerer.“ Oder der König an den Tod: „… Wer sich gering einschätzt, ist doch der Klügere. Zu Asche werden wir am Ende.“
Fazit: Vor dem Tod sind in Gesellschaft und Kirche oben und unten alle gleich, das ist eindeutig der Sinn des Totentanzes. Ohne Frage ein starkes Plädoyer für die Relativität aller (!) Würdenträger sowie ihrer Äußerungen. Wenn alle von der Vergänglichkeit betroffen sind, liegt darin ein kritisches Element. Zusammenleben wird vermisst. Das wird im Anschluss daran diskutiert.
Übertrag ins Heute
Totentänze dürfen nicht zum Gruselkabinett der Vergangenheit werden. Sie versuchen, den Menschen zu helfen, ein schlimmes Erlebnis, die damalige Pestepidemie, zu verstehen und als Kritik an überkommenen Einstellungen zu interpretieren. Die Kritikpunkte, die ohne Schwierigkeit ins Heute übertragen werden können, heißen:
- Appell an die Gleichheit aller Menschen
- Relativität aller Ansichten = Verbot von Dogmen
- Entsolidarisierung verhindern
Was sind die Probleme, die unser Zusammenleben überschatten? Wir denken an die Attentate des IS, Ebola (neuster Ausbruch), Klimawandel, unsere NATO-Politik, Zivilisationskrankheiten, Zwei-Klassen-Medizin (Wer arm ist, stirbt eher) usw.?
Denken wir darüber nach, indem wir den mittelalterlichen Totentanz im Kopf behalten und damit auch die oben genannten Punkte:
Zu 1: Gleichheit
Denken wir an die GroKo in Berlin, der unsere Kanzlerin mit ihrer Richtlinienkompetenz vorsteht. Es geht um ihre (wahrscheinlich baldige) Wiederwahl. Was hat das mit Gleichheit zu tun? Zunächst scheinbar nichts. Aber die Kanzlerin und ihre Partei halten Machtsichern für wichtiger, so das Logbuch der Eitelkeiten, als den Interessen der Bürger zu dienen, etwa den vielen offengebliebenen Problemen, angefangen bei der Migrations- bis hin zur Außenpolitik. Sind wirklich alle Menschen gleich oder manche ein bisschen gleicher?
Zu 2: Relativität
Macht ist auch Macht über Phrasen, die anscheinend immer unbedingt richtig, manchmal alternativlos sind. In den USA sind Lügen sogar hoffähig. Oft ist es nahezu unerträglich, mit welcher Kaltschnäuzigkeit Politiker Ansichten an das Volk heranschwätzen, ohne Alternativen zur Diskussion zu stellen oder überzeugende Beweise zu liefern. Sind das nur Kommunikationsprobleme, oder sind das eben Probleme, etwas für unumstößlich zu halten? Damit ist sicher nicht nur Trump gemeint. Er geht nur denen voran, die – wenn auch weniger extrem – die Relativität ihrer Äußerungen hinter ihrem Machtinteresse verstecken. Aber summa summarum geht es um das Gleiche. Too big to fail? Der Totentanz hätte das niemals akzeptiert.
Zu 3: Entsolidarisierung
Vor dem Ausstieg aus dem Warschauer Pakt wurde Solidarność nach und nach von den polnischen Regierungen zu Kleinholz verarbeitet. Die deutschen Innenminister machten das nach. Aus Solidarität wurde heute Sicherheit minus Freiheit. Es ging bzw. geht um IS-Attacken, verschwiegen wird gern (nicht nur bei der Amri-Attacke), dass nicht neue Sicherheitsbestimmungen, sondern exaktere Behördenarbeit nötig wäre. Es geht auch um digitale Sicherheit, wobei die Innenminister, allen voran Maizière, die Rechtsbestimmungen des BGH unterlaufen.
Natürlich wird gesagt, dass es eine 100prozentige Sicherheit nicht gibt. Aber – dank der CDU – doch wenigstens eine 80prozentige? Was würde eigentlich eine Einbuße an Sicherheit bedeuten? Sicherheit kostet – aber wieviel Kosten sind akzeptabel? Einige tausend Tote im Mittelmeer etwa zu ertragen, gehört das auch zur Sicherheit? Wäre Radikalisierung da nicht verständlich? Und die Behauptung, Afghanistan sei ein sicheres Herkunftsland, macht die Sicherheit nicht glaubwürdiger. Man könnte diese Liste fortsetzen. Schlimm ist daran die Tendenz der Entsolidarisierung.
Doch wieder Totentanz. Aber bitte keinen Leuteschreck wie damals in Basel!